Von Sylvia Frank
Fast geschafft! Die letzte Etappe seines Höllentrips lag vor ihm: die Innenstadt. Charly schwitzte, Schweiß rann über seinen Rücken, seinen Hals entlang über den Bauch, die Beine hinunter.
Aber er war fast am Ziel! Nachdem Charly Badesee und Freibad überlebt hatte, konnte es nur besser werden.
Der Badesee war schlimm gewesen: all die Menschen, fröhlich schwimmend, in Badehosen, Bikinis, Badeanzügen. Auf Decken lümmelnd, dösend unter zwischen Stöcken gespannten feuchten Handtüchern. Kalte Getränke in Reichweite, die Kühlboxen gut gefüllt. Grillgeruch lag in der Luft, da hatte er zusätzlich zum Durst auch noch Appetit bekommen.
Charly war an ihnen vorbeigeschlichen, so weit weg, wie ihm erlaubt schien, ihre belustigten Blicke ignorierend, so gut er in der Lage gewesen war.
„ICH KANN DOCH AUCH NICHT DAFÜR!“ Naja, bißchen gelogen …Scheiß- Outfit, in dem ich hier rumlaufen muß!
Aus sicherer Entfernung hatte er sich diesen Schrei gegönnt, er mußte seine Qual, seinen Frust einfach loswerden. Charly hatte sich auf einen der Steinblöcke fallen lassen, die als Sitzgelegenheiten abseits des Sandes dienten. Seine Thermoskanne mit kaltem Tee hatte nicht mehr viel hergegeben, es hatte reichen müssen; die beiden Wasserflaschen – lauwarm – brauchte er später noch.
Nach kurzer Rast hatte Charly sich aufgemacht ins Freibad. Mit dem Bus. Charly und Busfahren, dazu noch so, wie er heute aussah!
Charly hatte geschwitzt, in diesem Scheißbus war es noch unerträglicher gewesen als draußen, zwischen den Leuten eingequetscht, an die Haltestange gedrückt. Endlich angekommen, begann der Horror. An der Kasse hätte er fast keine Eintrittskarte bekommen, der Mann am Schalter hatte diskutieren wollen, hatte Angst, Charly würde Ärger machen. Wer so rumlief, konnte seiner Meinung nach nichts Gutes vorhaben, vielleicht war Charly sogar aus dieser Psycho- Klinik abgehauen, würde Randale machen oder sonstwas. Die drängelnde Schlange hinter ihm hatte Voranmachen gefordert, Charly hatte sein Ticket bekommen, dann war er im Freibad unterwegs gewesen …
Er schwitzt, er schwitzte, er hatte geschwitzt, er würde schwitzen – er würde in seinem ganzen Leben nicht mehr aufhören zu schwitzen! Aus jeder Pore war der Schweiß geronnen.
Der Neid hatte ihm dagegen wohl ins Gesicht geschrieben gestanden. Charly hatte sich seinen Weg durch die Massen gebahnt: Menschen in Badehosen, Bikinis, Badeanzügen. Im Wasser planschend, auf Handtüchern liegend. Eis essend, kalte Getränke genießend. Von irgendwo hatte er Nachrichten gehört, aus einer anderen Richtung Musik. Normalerweise hätte ihn das gestört, heute war ihm alles egal gewesen, er hatte andere Sorgen gehabt.
Er hatte auch hier die Blicke ertragen, die hinter den Händen geflüsterten Worte geahnt, die Finger, die auf ihn zeigten, begleitet von belustigtem Gekicher, ignoriert. Ein Außerirdischer wäre sicher weniger aufgefallen, als er.
Einmal durch die Menge, und jetzt nix wie weg! Charly war fast gerannt, froh, das Schwimmbad hinter sich lassen und den nächsten Bus in die Stadt nehmen zu können.
Und da war er jetzt, der Marktplatz lag vor ihm. Charly überquerte ihn, bog in die Einkaufsstraße in der Innenstadt ein. Um diese Tageszeit voll, zusätzlich belebt durch die zahlreichen Straßencafés.
Ein Eis! Jetzt ein Eis! Doch ein Blick auf die Uhr verriet Charly, dass es erst 16.02 Uhr war, er noch achtundzwanzig Minuten warten mußte. Ein Schluck aus der Wasserflasche – warme Plörre …
In der Stadt das Bild von luftig gekleideten Menschen: Männer in kurzen Hosen, offenen Hemden oder ganz ohne, sockenlose Füße in leichten Sandalen. Die Frauen in kurzen Kleidern oder Röcken, Tops, braungebrannte Beine in Pantoletten.
Nie hatte Charly sie so beneidet!
Charly ging über die Einkaufsstraße, begleitet von Blicken, Gaffern, Fingern, die auf ihn zeigten. Er blickte, gaffte, zeigte zurück.
Hochsommer, die letzten drei Wochen kein Tag unter 30°, meistens um die 33°, heute 35°.
Und hier stand Charly, bekleidet mit einer dünnen Hose und einem T-Shirt, mittlerweile beides völlig durchweicht, und darüber einem dicken Wintermantel.
Seinem Wintermantel, besonders warm, im letzten Dezember gekauft, weil der Winter so besonders frostig war. Gemacht für arktische Temperaturen.
Endlich 16.30 Uhr: Charly stürzte ins nächste Eiscafé, sich den Mantel förmlich vom Leib reißend, und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er bestellte das größte Eis, das es gab.
Diese vermaledeite Wette!
Sein Eis genießend, dachte Charly an ihren Pokerabend vor zwei Tagen zurück. Dienstags, wie immer: Horst, Waldi, Heiner, Joss und er. Harmlos, nicht um Geld. Eigentlich doch um Geld: Spielgeld, aus allen Monopoly- Packungen der Familien zusammengesucht. Zu fortgeschrittener Stunde und nach vielen geleerten Flaschen hatte Horst dann diese bekloppte Idee gehabt: um Geld spielen könne doch jeder, hätten sie lange genug gemacht, es solle was Neues her. Eine Wette, der Verlierer müsse etwas machen, dass er sonst wirklich NIE tun würde, etwas Verrücktes, Peinliches. Ein Prost auf diese tolle Idee, alle hatten fröhlich anstoßend zugestimmt, Charly besonders laut.
Der Gewinn war verlockend gewesen: einen Monat lang jede Woche einen Kasten Bier, einen von den ganz großen, dazu zwei Flaschen Schnaps, die gehörten ja irgendwie dazu, und fünf Landjäger. Darauf waren alle scharf gewesen. Jeder hatte dann etwas genannt, was er im Falle seines Verlierens tun wolle. Heiner beispielsweise wollte eine Woche lang jeden Tag bei Waldi die Toiletten putzen. Kein Vergnügen in einem Haushalt mit drei Kindern und inkontinenter Oma. Als die Reihe an Charly gekommen war, war es für ihn klar gewesen: er würde im Wintermantel rumlaufen. Der Plan war schnell ausgebaut worden: drei Etappen sollten es sein. Start um 9 Uhr, Badesee, Freibad, Innenstadt. Mitnehmen durfte er etwas zu trinken, kalten Tee, Wasserflaschen, etwas Geld für den Bus. Den hatte Joss ins Spiel gebracht: er wußte zu gut, wie sehr Charly Busfahren haßte. Ende sollte um 16.30 Uhr in der Innenstadt sein. Das i- Tüpfelchen war die Bodycam aus Waldis Bestand, damit er auch nur ja nicht schummeln konnte.
Hose und T-Shirt darunter, damit er nicht etwa als Exhibitionist verhaftet werden würde, wenn er den Mantel am Ende ausziehen durfte.
Charly kratzte den Rest Vanilleeis aus dem Becher. Nie wieder würde er pokern. Oder: nie wieder trinken beim Pokern. Oder besser: nie wieder wetten, egal, welcher Gewinn lockte.
Vor allem nie wieder bei 35° im Wintermantel unterwegs sein.
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