Von Matthias Herrmann
„Sei mir nicht böse, Charlie Schröder. Du gehörst für mich quasi zur Familie. Warst immer wie ein Onkel für mich; aber wie wäre es mal mit etwas Neuem? Denk dir ein Narrativ aus, das ins 21. Jahrhundert passt! Sonst muss ich leider…“
Alma beendete den Satz nicht, sah Charlie nur an. Dieser zuckte mit den Schultern, blickte kurz auf, dann wieder auf den abgenudelten Parkettboden der Galerie. Nickte einmal, zweimal. Seit Ende der Achtziger Jahre war er fest für die Galerie Akke & Jürgen von Akke und Jürgen gebucht. Doch jetzt waren Akke und Jürgen tot und ihre Tochter Alma hatte die Leitung übernommen.
Immer im Herbst hatte Charlie die Räume von Akke & Jürgen mit seinen großformatigen Gemälden bespielt. Charlie bevorzugte strenge Kompositionen, Farbflächen geordnet nach Prinzip. Die Kunst und Form siedelte ihn seinerzeit zwischen Mies van der Rohe und Vasarely an.
Charlie hatte einen Stamm an Sammlern gehabt, doch der schmolz langsam ab. Verabschiedete sich ins Pflegeheim oder verstarb – so wie Akke und Jürgen.
Alma führte die Galerie weiter. Mit neuem Konzept. Politischer. Engagierter. „L’art pour l’art!“ ist tot, hatte sie auf der Art Fair verkündet. Weg von der Zweckfreiheit, hin zur sozialen Skulptur.
Charlie fragte sich, ob sie recht hatte. War er ein Relikt? Aus der Zeit gefallen?
„Warum lässt du dir das ihr bieten?“, hatte ihn seine Frau Barbara gefragt: „Du hast damals ihren Eltern den Arsch gerettet! Als du bei ihnen ausstelltest, und auf dein Honorar verzichtet hattest! Ohne dich gäbe es die Galerie heute gar nicht!“
Und während Barbara über Alma schimpfte, legte sich Charlie auf das abgewetzte Cordsamtsofa im Wohnzimmer. Seltsamerweise nervten ihn ihre Tiraden in letzter Zeit immer weniger. Ja, irgendwie genoss er sie. Womit ließen sie sich vergleichen? Vielleicht mit einem wohltemperierten Whirlpool, der ihn in den Schlaf schaukelte? Er lächelte über den Vergleich und sann darüber nach, einen Ratgeber für Männer mit Frauen in den Wechseljahren zu verfassen, doch dann dämmerte er langsam weg, während Barbara ihre Ausführungen mit dem jahrzehntealten Refrain ausklingen ließ: „Immer lässt du dir alles gefallen!“
Die Aktivisten hatten zwei Stunden debattiert – „Dieser Charlie wird die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen! Dem seine Aktion ist doch viel zu schräg!“ –, hatten sich nicht einigen können, waren einen Tag später erneut zusammengekommen, um dann zu beschließen: „Ja, Charlie Schröder kann sich mit seiner Kunstaktion unserer Blockade des Tempelhofer Damms anschließen. Er handelt auf eigene Verantwortung. Juristischer Beistand wird ihm von uns nicht gestellt.“
Der Wetterbericht hatte wieder einen heißen Sommertag angekündigt. Barbara und Charlie hatten ihren Twingo in einer Seitenstraße im Fliegerviertel geparkt und waren dann vor zum Tempelhofer Damm gelaufen, wo an der Ecke Hoeppner Straße die Klimablockade des morgendlichen Berufsverkehrs stattfinden sollte. Charlie hatte sich bereits den Pelzmantel angezogen und trug sein Schild mit sich. Barbara lief neben ihm. Sie hatte sich ihre alte Minolta um den Hals gehängt und kurz hatte Charlie das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben war und Barbara immer noch für das Berliner Stadtmagazin zitty fotografierte.
„Fast wie früher!“, zwinkerte er Barbara zu.
Charlie hatte Barbara bearbeiten müssen, um sie für das Projekt zu gewinnen, dass sie seine Kunstaktion fotografisch dokumentierte: „Mensch, Hase, du bist die Meisterin des nuancierten Graus! In janz Berlin kann keener dit grau so modulieren wie du!“ Doch erst der Hinweis auf die ungenutzte Dunkelkammer im Reihenhauskeller, die sie so zu neuem Leben erwecken könnten, diese sentimentale Erinnerung hatte ihre Abwehr geknackt: „Okay! Ich fotografiere dich.“
Alma war auf Anhieb begeistert gewesen: „Macht die Bilder schwarz-weiß! Da kommt der Pelz besser raus! Nix Künstliche Intelligenz! Ruhig, etwas dreckig!“ Sie klatschte ihn ab und er fragte sich, was Akke und Jürgen zu seiner geplanten Performance gesagt hätten. Er hier nackt, nur mit einem Pelzmantel bekleidet, als Künstler mit Botschaft auf ein Pappschild gepinselt. Und im Schlepptau seine Frau Barbara als launige Dokumentarfotografin.
„Hätte ich lieber die U-Bahn nehmen sollen?“, fragte sich Andreas. Nein, die Verengung auf eine Fahrbahn am Ullstein-Haus war aufgehoben. Da musste er doch heute gut durchkommen. Andreas wechselte die Spuren, kämpfte sich Position um Position nach vorne. Rechter Hand lag das Rathaus, er drückte das Strompedal seines Teslas bis zum Anschlag durch und schaffte die Ampel Alt-Tempelhof noch bei dunkelgelb, doch an der Ringbahnstraße war erstmal Schluss.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, ging die Präsentation noch einmal im Geiste durch, während Schülerhorden lachend vor ihm über die Straße strömten: Letzter Schultag! Sommerferien! Da war Aufbruchstimmung in den Gesichtern! Nochmal so jung sein. Keine Verpflichtungen. Nur du selbst. Ja, hätte er denn die Abfindung nicht ablehnen sollen? Dann könnte er jetzt noch gemütlich im Bett liegen, Petra wäre im Büro und er hätte den entspannten Hausmann gegeben.
Tja, die Abfindung! Seitdem er sie zurückgewiesen hatte, lief es nicht mehr rund. Ständige Kritik. Unangenehme Aufgaben. Komische Sprüche. Es war in den letzten Wochen immer deutlicher geworden, dass man ihn loswerden wollte. Andreas zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Heute würde er es ihnen noch einmal zeigen. Nicht mit einer altbackenen PowerPoint-Präsentation, sondern mit Prezi würde er abräumen. Wenn nur der Beamer diesmal nicht wieder streikte. Ausgerechnet bei ihm setzte das Gerät immer aus!
Nicht weiterdenken! Gleich wird die Ampel grün, dann versenke ich die ganzen Lappen mit ihren Verbrennermotoren!
Knapp hinter den Aktivisten stürmte Charlie auf die Kreuzung. Der Pelzmantel bauschte sich auf. Das er nackt darunter sein sollte, war Almas Idee gewesen: „Denk mal an die Abramowitsch! Du musst die Bravheit hinter dir lassen!“
Charlie stellte sich jetzt breitbeinig zwischen die Blockierer, die ihre Hände mit Klebepaste einschmierten und dann auf den warmen Asphalt pressten. Er hielt sein Schild in die Höhe, dem anbrandenden Autopulk entgegen. Wildes Gehupe und Geschrei. Aufheulende Motoren. Eine metallic-rote Mercedes G-Klasse versuchte über den Seitenstreifen zu wenden, geriet in den Gegenverkehr und verursachte dort einen Auffahrunfall. Charlie steckte sich die Trillerpfeife in den Mund und blies, was das Zeug hielt. Er triefte vor Schweiß. Der Pelz schubberte an seiner Haut. Barbara glitt geschmeidig um ihn herum – sie schien ihr beginnendes Hüftleiden vergessen zu haben – und schoss Bild für Bild. Klick. Ratsch. Klick. Ratsch.
Andreas konnte die ersten drei Aktivisten noch umkurven, er wollte einen kleinen Schlenker über den Radweg einlegen, um dann Vollstrom Richtung Kreuzberg zu heizen. Doch was hüpfte da plötzlich dieser Zausel, Marke Alt-Freak, vor ihm auf dem Radweg herum. In einem Pelzmantel! Im Hochsommer! Bei dieser Affenhitze! Sind denn jetzt alle irre? Der Zausel streckte ihm mit hochrotem Kopf sein Schild entgegen. Na, Freundchen, von dir lasse ich mich nicht aufhalten! Im Schritttempo fuhr er immer näher an den Pelzmantelmann heran: „Hau ab, du!“ Doch der Typ blieb einfach stehen. Hielt ihm das Schild entgegen.
„Mensch, ich fahre doch einen Tesla! Ich bin doch auch ein Guter!“, schrie Andreas. Doch der Typ schien ihn nur auszulachen. Jetzt robbte er auf die Motorhaube, nahm ihm mit seinem Schild jede Sicht. Wer nicht hört, muss fühlen. Andreas schaltete den Scheibenwischer ein. Gut, dass er das Wischwasser aufgefüllt hatte. Da, nimm das! Doch der Typ schien die kleine Dusche noch zu genießen! Jetzt setzte er sich im Schneidersitz auf die Motorhaube und grinste ihn an. Soweit kommt´s noch!
„Ich werde nicht wegen euch Idioten gefeuert!“
Andreas schaltete auf R, trat dann das Strompedal voll durch und schoss zurück. Charlie konnte sich nicht halten, purzelte von der Haube auf den Radweg und kullerte in die Büsche. Andreas gab Vollstrom!
„Yes! Freie Fahrt für freie Bürger!“, jubelte er und jagte mit quietschenden Reifen in Richtung Kreuzberg davon. Nur das dämliche Schild hatte sich an der Windschutzscheibe verklemmt, so dass er sich aus dem Fenster lehnen musste, um etwas sehen zu können.
Die Ausstellung war ein echter Erfolg. Alma lief im Abendkleid und einem Lächeln durch die Räume von Akke & Jürgen. Sie hatte gewonnen. Die Neupositionierung der Galerie war geglückt. Wenn Charlie auch nicht wusste, ob all diese Aktivistinnen und Aktivisten wirklich wegen seiner Kunst gekommen waren. Egal, Barbara hatte noch einmal alles gegeben. Die großen Schwarz-Weiß-Abzüge hingen ungerahmt, nur von Foldbackklammern gehalten an den Wänden. Klassische Rahmen hatte Alma spießig gefunden. Sie hatte ihn in ihrer Ansprache als Künstler dargestellt, dem es dämmerte, dass er mit seiner Kunst Statements abliefern müsste. Die Zeit der schönen Bilder sei vorbei.
„Schöne Bilder“, sagte Andreas und trat auf Charlie zu.
„Danke! – Kennen wir uns? Ich meine, ich habe sie schon…“
„Hier habe ich noch etwas für Sie!“, erklärte Andreas und hielt Charlie eine lädierte Pappe entgegen.
„Ich bin deine Erde!“, stand in Kinderschrift darauf.
„Wow! Moment mal! Woher haben sie das? Sind Sie etwa …?“, fragte Charlie.
Andreas bat Charlie um Entschuldigung und Charlie gewährte sie ihm. Er war an diesem Morgen schließlich eine Viertelstunde zu spät ins Büro gekommen. Eine Viertelstunde, die gereicht hatte, ihn und seine Prezi-Präsentation von der Agenda zu streichen. Danach hatte er eingelenkt und die Abfindung akzeptiert.
„Da müsste ich mich ja eigentlich bei Ihnen entschuldigen“, sagte Charlie. Andreas schüttelte den Kopf, vollführte mit der Hand eine ausladende Geste, die die ganze Galerie umfasste. Sein Gesicht verzog sich. Lachte er? Weinte er? Charlie konnte nicht genau verstehen, was er sagte: „Das ist gut!“, meinte er zu hören und: „Wir gehören nicht zum alten Eisen, Mann!“
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