Von Ina Rieder

2024

Alle wollten Charly Show. Er war kein Mann, von dem man Notiz nahm, wenn er einem begegnete. An ihm schien alles durchschnittlich zu sein. Er steckte in Chinos, einem Poloshirt und cremefarbenen Schuhen. Über der linken Schulter hing eine dunkelblaue Tasche, die die Größe eines Aktenordners hatte, aber durch die quadratischen Jeansapplikationen modischer wirkte. 

Show, dem immer noch die Ohren klingelten, fügte sich harmonisch in den morgendlichen Strom der Passanten, die auf dem Weg zu Arbeit waren. Er nahm die Rolltreppe zur U-Bahn-Station und wartete auf seine Linie. 

Nur wer ihn genau beobachtete, erkannte die Müdigkeit in seinen Augen, die leicht hängenden Schultern sowie den kleinen Ansatz eines Wohlstandbauches. Letzteres hatte er seiner Vorliebe für handgefertigte Pralinen zu verdanken, die er sich nach jedem Einsatz gönnte. 

Show atmete tief durch, versuchte, den leichten Tinnitus in seinen Ohren auszublenden. Er hatte in seiner langjährigen Karriere schon vieles gesehen, aber noch nie hatte er eine Frau so inbrünstig schreien gehört. 

‚Ich werde zu alt für den Scheiß!‘, dachte der Mittvierziger, indessen er in die Bahn stieg, sich setzte und die Arme verschrä

Ihm gegenüber saß eine Frau um die dreißig. Sie hatte ihren rechten Arm um einen Jungen im Kindergartenalter gelegt, der nur so vor Energie sprühte. Beim Anblick des Kleinen schlich sich ein Lächeln auf Shows stoisch wirkendes Gesicht. Ihm wurde warm ums Herz. Er hörte dem Jungen zu, der wild gestikulierend von einer Serie erzählte, die Show nicht kannte. Für einen Moment stellte er sich vor, Vater zu sein. Dieses Glück war ihm leider nicht vergönnt. Bei seinem Job war an die Gründung einer Familie nicht zu denken. Keine vernünftige Frau würde das mitmachen, dachte Show. Melancholie keimte in ihm auf und tauschte das erst vor kurzem aufflammende Gefühl von Freude ab. 

‚Was würde einmal auf meinem Grabstein geschrieben stehen? Wer vorher sündigt, schläft besser?‘

Ein heiseres Lachen drang aus seiner Kehle. Es ließ den Jungen kurz verstummen. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Show zwinkerte dem Kleinen zu und erhob sich, um den Ausstieg nicht zu verpassen. Die Bahn fuhr in die Haltestelle ein und er drängte mit anderen Fahrgästen nach draußen.

Fünf Minuten später kitzelte die Sonne sein Gesicht. Ein Blick auf eine digitale Uhr, die gegenüber auf einer Verkehrsinsel thronte, verriet ihm, dass es 19 Grad Celsius hatte. Es verhieß ein heißer Tag zu werden. 

Show war es einerlei. Er würde bald sein klimatisiertes Appartement betreten und den Rest des Tages in der Horizontalen verbringen. Doch stattdessen wälzte er sich im abgedunkelten Zimmer auf einem King-Size-Bett hin und her. Ein Gedankenfetzen löste den anderen ab. Der Kleine aus der U-Bahn schwirrte in seinem Kopf herum. Bilder der Vergangenheit wurden lebendig.

***

1986

„Wo bist du, Junge?“, hallte es durch die winzige Wohnung, in der es nach Bier und vergammeltem Essen stank.

Charly hatte sich unter dem Sofa versteckt und hörte das vertraute Geräusch von Bierdosen, durch die sein Vater in Richtung des Wohnzimmers watete. 

Die Nachbarn unter ihnen hatten sich schon mehrmals über den Krach beschwert. Seitdem versuchte Charly jeden Tag, einen Sack davon aus der Wohnung zu schaffen. Doch sie wurden nicht weniger, weil der Alte den Boden stetig mit neuen beehrte. 

„Komm sofort her, oder ich prügle dich windelweich!“

Charlys Muskeln spannten sich an, wie ein Regenschirm, sein Atem ging flach.

„Du bist zu nichts nütze, bringst mir nur Kummer!“

Der Alte ließ sich auf die Couch fallen. 

„Wenn deine Mutter noch leben würde. Dann müssten wir nicht in diesem Siff von der Hand in den Mund leben. War immer fleißig, deine Mutter. Aber du musstest sie ja umbringen!“

Charly kannte die Monologe des Alten. Er sorgte gewissenhaft dafür, dass er nicht vergaß, dass er schuld am Tod der Mutter war. Sie hatte seine Geburt nicht überlebt. 

Kurze Zeit später hörte er das sonore Schnarchen seines Vaters und kroch langsam unter dem Bett hervor. Er hatte seine eigene Methode entwickelt, um sich möglichst geräuschlos durch die Wohnung zu bewegen. Er hob zuerst den rechten Fuß in die Luft, spannte diesen an und tauchte bedächtig im 90 Grad Winkel in das Dosenmeer. Dann bohrte er sich nach unten, bis seine Zehenspitzen den Teppichboden berührten und schob anschließend den Fuß vorsichtig nach vorne, solange bis dieser mit der ganzen Sohle den Untergrund berührte. Ihm folgte der linke Fuß. 

Eine Ewigkeit später erreichte er die Eingangstüre und verschwand nach unten. Vor dem Haus saß Frau Corleore mit ihren Freundinnen. 

„Da bist du ja, Bello Mio!“, rief sie entzückt aus und winkte ihn zu sich. 

Charly ließ sich nicht lange bitten und zwängte sich neben sie auf die Bank. Die Mittvierzigerin wuschelte durch seine schwarzen Haare und drückte ihn an ihre weiche Brust. Sie liebte seine Gesellschaft. Charly hatte Witz und unterhielt die Damen mit fantasievollen Geschichten.

***

2024

An Schlaf, den Show bitternötig hatte, war nicht mehr zu denken. Charly quälte sich aus dem Bett, schlurfte in die Küche und durchwühlte die Schubladen nach seinen Lieblingspralinen.

„Mist, keine mehr da!“

Show fröstelte. Er fühlte sich wie ein leerer Akku. Es war eine lange Nacht gewesen, die ihm alles abverlangt hatte.

Charlys Blick wanderte auf ein Foto, das den Alten vor dem Wohnhaus zeigte, indem Show aufgewachsen war. Schon seit ewiger Zeit hatte er nicht mehr an seinen Vater denken müssen. Der Teufel hab ihn selig. 

‚Du Taugenichts!‘, hallte die Stimme seines Vaters durch Shows Kopf.

„Es gibt etwas, das ich kann, sehr, sehr gut sogar!“

Charly lachte laut auf.

***

1996

Seinem Talent war er gemeinsam mit Frau Corleore auf die Spur gekommen. Da war er sechzehn und sie Mitte fünfzig gewesen. Es passierte an einem Freitagmittag, auf den er sich immer besonders freute, denn da ging er nach der Schule zu ihr. Im Hausgang duftete es nach gerösteten Zwiebeln und Knoblauch. Er klopfte drei Mal an die Türe und sie ließ ihn ein. 

„Komm rein“, sagte sie mit einem einladenden Lächeln und er folgte ihr in die gemütliche Landhausküche. 

Dabei konnte er seinen Blick nicht von ihrem mächtigen Hinterteil lassen, das bei jedem Schritt aufreizend hin und her wackelte. 

„Heute habe ich meine berühmten Spaghetti Napoli gemacht!“, verkündete sie. 

Auf dem Tisch stand das dampfende Essen. Charly lief das Wasser im Munde zusammen. Er setzte sich ihr gegenüber. Seine Augen wanderten auf die hübsche Falte zwischen ihren Brüsten und verharrten dort eine Sekunde zu lang. Als er sich davon löste, trafen sich ihre Blicke. Charly errötete. Sie aber zwinkerte ihm zu und gewährte ihm während des Essens mehrmals großzügig Einsicht. Show hatte sich Szenen wie diese schon öfter in seiner Fantasie ausgemalt. Seine Hände schwitzten, es knisterte in der Luft und zog in seinen Lenden. 

Frau Corleore drehte gekonnt Spaghetti mit der Gabel auf und ließ sie dann schmatzend in ihrer sinnlichen Schnute verschwinden. An ihren Mundwinkeln sammelte sich rote Soße, die Charly dort liebend gerne abgeschleckt hätte.

Nach dem Essen räumte sie die Teller ab und begann mit dem Abwasch. Charly näherte sich ihr und legte von hinten beide Arme um ihre Taille. Sie zuckte zusammen und verharrte einen Augenblick. Dann spürte er, wie sie ihren Po an seinem Schoß rieb. Das ermutigte ihn und seine Hände wanderten zu ihren großen Brüsten, er küsste ihren Nacken. Sie erbebte unter seinen Berührungen. Ähnlich behutsam, wie durch das Dosenmeer, glitten seine Hände nach unten zu ihrem Hintern. Er hob den Saum ihres Rockes an und stellte fest, dass sie kein Höschen trug, was seine Begierde ins Unermessliche steigerte. Er nestelte an seiner Hose, konnte nicht mehr an sich halten und drang in sie ein. Dabei vernahm er ein lustvolles anstatt eines schmerzhaften Stöhnens, wie er es von Mädchen seines Alters gewohnt war. Zum ersten Mal schien es eine Frau mit ihm in vollen Zügen zu genießen.

Nachher rückte sie ihren Rock zurecht und meinte: „Show, du bist ein Naturtalent und definitiv kein Mann für junge Frauen!“

Bevor er ging, wurde er noch mit einem Teller handgemachter Pralinen verwöhnt.

***

2024

‚Ich brauch Nachschub!‘, dachte Show und schlenderte zurück in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen. 

Ihm fröstelte immer noch. Er öffnete seinen Kleiderschrank und da fiel sein Blick auf den alten Pelzmantel, den ihm Frau Corleore kurz vor ihrem Tod vermacht hatte. Er war gespickt mit sinnlichen Erinnerungen. Im Winter hatte sie diesen gerne getragen, wenn sie ihn erwartete. Darunter war sie häufig splitterfasernackt gewesen. Nach und nach lernte er auch ihre Freundinnen besser kennen. Sie steckten dem „jungen Charly“ gerne ein wenig Geld für seine Dienste zu und lechzten nach weiteren intimen Stunden mit ihm.

Show schlüpfte in den Pelzmantel und stieg in seinen Privatlift. Als er kurze Zeit später durch eine Schwingtüre ins Freie trat, stand die Sonne im Zenit. 35 Grad Celsius.

„Mama, guck mal! Wieso trägt der bei dieser Hitze ein Fell?“, hörte er ein Kind auf der anderen Straßenseite sagen.

Show grinste und schaute hinüber. 

‚Moment mal, ist das nicht der Junge aus der U-Bahn?‘

Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, kam auch schon die Mutter winkend auf ihn zu.

„Hören Sie, Sie haben ihre Tasche in der U-Bahn liegen lassen, ich wollte sie gleich beim Fundamt abgeben, aber …“

„Danke!“, erwiderte Show knapp und nahm die Tasche mit prekären Inhalt entgegen. „Ist mir nicht aufgefallen. Ich sollte …“

„Ich kenn mich aus“, unterbrach ihn die Frau mit einem Augenzwinkern. „Ich habe mir das Studium so finanziert.“

„Haben Sie etwa da reingeschaut?“

„Ich dachte, ich würde vielleicht eine Adresse finden.“

Shows Handy vibrierte. Er schaute auf sein Display. Drei neue Buchungen. ‚Nach wie vor wollen alle Charly Show!‘, dachte er.

„Darf ich Sie und den Kleinen als Dankeschön in die beste Konditorei der Stadt einladen?“ 

Sie nickte und rief ihren Sohn zu sich, der gegenüber am Bürgersteg bereits ungeduldig auf sie wartete. 

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