Von Clara Sinn
Nein, sie würde diese unlogischen, unstringenten Kinder nie verstehen.
Ein herrlicher Mittwochvormittag. Wenn auch bei schon ziemlich genau 35°.
Ein Wort gab das andere. „Nein.“ „Doch.“ „Nein!“ „Doch!“ Dämlicher waren nur die Übungen aus ihrem Sprechkurs vom leider heillos vertanen Wochenende. „Nein!!!“ „Wintermantel!!!“
Worauf Charly nicht nur schlagartig nichts mehr erwiderte, sondern folgsam hinging, sich aus dem Schlafzimmerschrank den dicken Mantel zu holen und ihn direkt anzog.
Was als ungeschminkte Beleidigung gemeint war, flugs umgemünzt in theatralische Replique.
Auf jeden Fall verstummte der Streit. Und ihr Hirn. Auch.
Aber nur für einen kurzen Augenblick.
Woher dieses Kind das nun wieder hatte?
Sie erfanden ja ständig neue Schimpfnamen …
Vielleicht aber auch von Tante Hildi.
Arteriosklerose hatten die Ärzte geurteilt, als es sich mit den Sonderlichkeiten häufte. Heute würde man Alzheimer sagen. Angeblich zu viel fettes Fleisch und Dauerwurst.
Eine unglückliche Ehe. Vorher eine glückliche Verlobung. Mit einem anderen. Dann diese Selbstmorderpressung. Und Hildi, die halt nicht wollte, dass sich Onkel Albert wegen ihr erschießt. Sie war dann noch lange Jahre mit seiner Pflege ziemlich allein. Eine zierliche Frau. Die einen Brocken von Mann zu versorgen hatte. Schon ernsthaft behindert und nicht eben unstur. Neben alldem. Immer musste man ihn im Auge behalten, dass er nichts anstellte. Das Gas oder sowas.
Kleider waren schon immer sein Fimmel gewesen. Mal wollte er in Wintermantel und Stiefeln mitten im Hochsommer im Nachbarvorgarten zur Jagd, mal splitternackt mit Krawatte und Hut in die Oper. Da hatte er es schon auf die Hauptstraße geschafft.
Tante Hildi hatte viele Jammererlebnisse kundzutun. Und viele Auszeichnungen, Orden und Treuegeschenke ins Grab beizulegen. Ein hohes Tier. Hoch anerkannt. Und dotiert. Und kein eigener Sohn, der die eine oder andere goldene Uhr hätte erben können. Die Tante hat dann der Schlag geholt. Mit typischem traurigen Ende.
Im Krankenhausbett. Fixiert. Weil sie sich die Infusion rausreißen und nach Hause wollte. Und wir hilflos um sie her, als sie, nur lallend, mit zwei Fingern immer wieder eine Schere andeutete.
Zum Durchschneiden der Fesseln.
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