Von Manuel Fiammetta
„Heute soll er kommen. Ich bin ja ganz aufgeregt.“
Selma lief unentwegt auf und ab. Sie fand einfach kein stilles Plätzchen für sich – so nervös war sie vor dem ersten Kontakt mit dem Neuen.
„Ich bin normalerweise die Ruhe in Person, hihi, doch so langsam kribbelt es bei mir ebenfalls. Der war jetzt aber auch lange in Quarantäne, oder?!“, befand Koni.
„Was? Wer? Hab´ ich etwas verpasst?“
Rudi, einer aus der Nachbarschaft, hatte sich gerade aus dem Land der Träume verabschiedet, lugte aus seiner Behausung und sah das hektische Treiben gegenüber.
„Ach Rudi, du bekommst aber echt gar nichts mit. Verschläfst ja alles. Heute kommt der Neue zu uns.“
Selma konnte kaum glauben, dass es weiterhin irgendjemanden auf dieser Welt gab, der davon noch nichts mitbekommen hatte.
Nach einem ausgiebigen Strecken und Gähnen lief Rudi Selma und Koni entgegen.
„Der Neue? Oh Mann, ja klar. Der Neue! Heute? Is´ nich´ wahr?!“
Selma und Koni schauten sich kopfschüttelnd an.
„Der Neue kann sich glücklich schätzen, so wie ihr euch aufgehübscht habt. Für mich macht ihr das nie.“
Der leicht vorwurfsvolle Unterton wurde durch ein polterndes Geräusch erstickt. Das musste er sein.
„Selma. Koni.“
Ein Schlüsselbund rasselte.
Die beiden rannten los und liefen schließlich ins Haus. Dort bekamen sie zur Ablenkung ein paar Fische und Früchte serviert.
Währenddessen wurde nebenan eine große Transportbox aufgestellt, aus welcher der Neue gleich herauskommen sollte.
So aufgeregt, wie Selma und Koni waren, bekamen sie selbst von ihrer Lieblingsspeise keinen Happen runter.
„Komm´, Charly, komm´!“
Viele Menschen standen um die Transportbox herum und warteten darauf, Charly zu sehen.
„Zuuuu!“
Ruckartig wurde der Schieber der Box geschlossen und Charly befand sich in seinem neuen Zuhause. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, schnüffelte hier und da und fing bereits damit an, sein neues Revier zu markieren.
Selma und Koni standen mit offenen Mündern da. Der Speichel tropfte ihnen herunter.
„Was für ein Prachtkerl“, flüsterte Selma Koni zu. Diese konnte ihrer Freundin nur beipflichten.
„So ihr beiden, da ist euer neuer Mann. Ich hoffe, ihr versteht euch. Ihr müsst für Nachwuchs sorgen, damit es eure Art noch lange gibt.“
Die Eisbärendamen hörten zwar die Stimme ihres Tierpflegers, doch was er genau sagte, nahmen sie nicht wahr. So sehr waren sie damit beschäftigt, Charly zu begutachten. Es fühlte sich eher so an, als spräche der Pfleger mit ihnen, während sie unter Wasser tauchten.
„Der riecht aber gut“, attestierte Koni Charly einen angenehmen Duft.
„Der hat so ein dichtes Fell. So viel dichter als unseres“, schwärmte Selma.
Koni sah Selma ein wenig lehrerhaft an. „Du weißt aber schon, dass wildlebende Eisbären ein dickeres Fell haben als Zooeisbären in der x-ten Generation, so wie wir welche sind. Das nennt man Anpassung an seinen Lebensraum, meine Liebe.“
„Na klar, weiß ich das. Wollte es ja nur anmerken. Das muss für ihn ein Schock sein, wo wir seit Wochen schon so eine Hitzewelle haben. Heute sollen es auch schon wieder 35°C werden.“
„Wir hoffen, Charly wird sich mit den beiden gut vertragen. Es wäre jammerschade, wenn diese Art auch noch aussterben würde.“
„Das war wirklich der letzte Eisbär in freier Wildbahn?“
„Charly und noch einer sind die letzten Eisbären gewesen. Der andere ist in den Los Angeles Zoo gekommen.“
Das Gespräch der Tierpfleger endete abrupt, als sie bemerkten, wie sich Charly, Selma und Koni das erste Mal durch das Gitter beschnupperten.
„Sagt mal, Mädels, ist das hier bei euch immer so heiß? Da wo ich herkomme, wurde es zwar Jahr für Jahr immer wärmer, aber hier ist es echt brutal.“
„Da musst du dich leider dran gewöhnen, Charly.“ Selma war verwundert, diesen Satz ohne zu stottern herausgebracht zu haben.
„Charly? Was bedeutet das eigentlich?“ Der Eisbärenmann war verwundert. „Seit ich hier bin, höre ich ständig dieses Wort.“
„Die Pfleger haben dir diesen Namen gegeben. Namen dienen der besseren Unterscheidung von Individuen. Du heißt hier jetzt so. Ich bin Selma und das hier ist Koni.“
„Nett! Schön, euch kennenzulernen! Also gut, dann heiße ich Charly. Wer sind die?“ Charly sah zu den Tierpflegern rüber.
„Ach, die sind ok“, befand Koni salopp. „Die geben uns Futter, machen unsere Gehege sauber und werfen uns ab und zu einen gefrorenen Block mit Früchten ins Wasser. Eisbombe nennen die das. Und sie geben uns Namen.“
Charly war beruhigt, hatte er doch auch schon negative Erfahrungen mit Menschen gemacht.
„Selbst wenn sie für Nachwuchs sorgen. Wo sollen die denn hin? Es fehlt der Lebensraum.“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“
Es vergingen ein paar Tage, bis Charly das erste Mal nach draußen durfte. Zunächst alleine. Er erkundete sein neues Außengehege. Sein neues Leben.
„Hey du“, rief plötzlich einer von der Seite.
Charly drehte sich zu Rudi hin.
„Du bist also der Neue, wegen dem alle hier so verrückt gespielt haben. Bist ganz schön behaart.“
In Rudis Stimme lag etwas von Bewunderung, aber auch von Eifersucht, sah er seine männliche Vormachtstellung in Gefahr. Auch wenn er gar kein Eisbär war.
„Ich bin dann wohl der Neue. Charly. Hast du eine Krankheit oder warum ist dein Fell so braun?“
„Krankheit?! Ich bitte dich! Ich bin der gesündeste Braunbär, den du dir vorstellen kannst. Du siehst mir hingegen nicht ganz so fit aus. Übrigens, ich heiße Rudi.“
„Die Hitze. Das Futter. Ich muss mich wohl noch an einiges hier gewöhnen.“
„Charly, wo wir beide unter uns sind. Selma und Koni haben mir immer erzählt, ihre Haare seien hohl und ihre Haut schwarz. Ich hab´ das denen nicht geglaubt. So ein Schwachsinn, oder?“
„Rudi. Es war doch Rudi?“
Der Braunbär nickte.
„Es stimmt. Unsere äußeren Haare sind hohl und transparent und unsere Haut ist tatsächlich schwarz. Das hilft uns, die Wärme besser zu speichern. Da wo ich herkomme, ist es normalerweise sehr kalt. Hier brauch´ ich das aber scheinbar nicht. Es kommt mir vor, als hätte ich einen zusätzlichen Wintermantel an.“
„Dann haben die mich doch nicht veräppelt“, prabbelte Rudi in sich hinein. „Gewöhn´ dich dran. Die Sommer werden immer heißer. Vielleicht scheren sie uns ja irgendwann auch – so wie die Schafe und Alpakas.“
„Alpakas?“
„Ach, vergiss´ es.“
Die Wochen vergingen und Charly fühlte sich zunächst nicht gut. Die ganzen Umstellungen machten ihm zu schaffen und er vermisste seine langen Wanderungen. Seine zuvor knapp fünfhundert Kilo, die er auf die Waage brachte, schmolzen wie das Eis am Nordpol. Doch nach und nach arrangierte er sich mit all´ den Dingen und der Zeitpunkt war gekommen, ihn mit Selma zusammenzubringen.
Es funkte gewaltig und nach etwa acht Monaten kamen zwei, noch blinde und taube, Eisbärenbabys zur Welt.
Als die Kleinen nach zwei Monaten das erste Mal an die frische Luft durften, strömten täglich unzählige Besucher in den Zoo. Die Presse berichtete unentwegt.
Wie süß. Wie niedlich. So flauschig. So tapsig.
Doch keiner konnte die Frage beantworten, ob sie jemals wieder ihren eigentlichen Lebensraum bewohnen konnten. Auch wenn die Antwort darauf in ihrer Macht stand.
V2