Von Bergthora Eldey
(Arnarstapi/Island, um 1700)
Guðmundur saß auf der Torfmatratze, die ihm als Bett und Klassenzimmer diente, und hörte die Haustür zufallen. Bezirksrichter Jakob und sein Haushalt gingen zum Pfingstgottesdienst. Die Luft war rein. Er zog seine Gedichte hervor und las sie noch einmal durch: eine Huldigung im alten Hofstil und seine Bitte. Ob sie das Herz eines Zwerges erweichen konnten? Leider hatte seine Großmutter nicht verraten, wie man das anstellte.
Guðmundur erinnerte sich nur zu gut an jenen Unglücksmorgen. Vier Jahre alt war er gewesen, und als er aufwachte, gehorchten seine Glieder nicht. Voll Angst rief er nach der Mutter, die ihn mit einem „Sei nicht albern!“ hochhob und auf den Boden stellte. Seine Beine gaben nach und er stürzte. Der Pfarrer kam und betete, aber das half nicht. Die Großmutter riet, ihn in drei warmen Quellen zu baden, aber das half auch nicht. „Da können nur noch die Zwerge helfen“, murmelte die Großmutter.
Guðmundur hatte die Bemerkung nie ernstgenommen. Niemand, den er kannte, hatte je einen Zwerg getroffen. Doch jetzt behaupteten seine Schüler Jón und Ari, am Hexenstein einen gesehen zu haben…
Guðmundur faltete die Hände – legte die gesunde Linke um die lahme Rechte – und flüsterte: „Gott, ich bitte Dich… nicht um Beistand, denn ich weiß nicht, ob mein Vorhaben Dir gefällig ist, aber um Vergebung. Vielleicht sind dreiunddreißig Jahre als Krüppel Buße genug?“
Er schob seine Blätter in die Westentasche, rollte von der Matte und kroch auf den Ellenbogen zur Haustür. Zum Glück gab es keine hohe Schwelle wie in Staðarbakki. Dreizehn Jahre hatte er dort gelebt; eine bittere Jugend bei lieblosen Verwandten. Er zog an der Schnur, mit der er den Riegel bedienen konnte, schob die Tür auf und kroch ins Freie. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, die Hauswiese prangte in üppigem Grün und verhieß eine reiche Heuernte. Er würde so gerne einmal mithelfen. Die Sense schwingen im Schweiße seines Angesichts. Er liebte das Dichten und Unterrichten, aber er sehnte sich nach rechtschaffener Arbeit als Mann unter Männern.
Vielleicht könnte er sogar heiraten.
Der junge Andrés vom Nachbarhof kam wie versprochen. „Wo soll’s denn hingehen?“
„Zum Hexenstein.“
„So“, sagte Andrés. Er holte Guðmundurs Karre, hob ihn hinein und schob ihn zu dem einsamen Felsen. „Und jetzt?“
„Setz mich vor den Grashöcker da und hol mich am Abend wieder ab, wenn du so gut sein willst. Und sag niemandem, wo ich bin.“
„Gewiss. Aber – sei vorsichtig.“
Guðmundur wartete, bis Andrés außer Sicht war. Er zog die Gedichte aus der Tasche, obwohl er sie auswendig konnte. Dann sah er mit festem Blick den Hexenstein an und sprach den ersten Vers der Huldigung.
Nichts geschah.
Er fuhr fort.
War da ein Rascheln hinter dem Felsen?
Mit sanfter Stimme wiederholte Guðmundur die letzten Verse. Es raschelte abermals, dann lugte etwas hinter dem Felsen hervor – ein Eisfuchs. Oder ein Zwerg in Fuchsgestalt? Gespannt fuhr Guðmundur mit dem Vortrag fort, aber der Fuchs beachtete ihn nicht, hüpfte hierhin und dahin und lief schließlich Richtung Strand davon.
Guðmundur sah ihm nach. Dann knüllte er die Gedichte zusammen, kroch zum Fuchsbau und stopfte den Papierball hinein. „Wohl bekomm’s, Mistvieh!“
Er hatte sich einmal geschworen, sein Los nicht zu beweinen, aber jetzt blieb er auf den scharfen Lavasteinen liegen und tat genau das.
„Es hat nicht gewirkt, oder?“
„Andrés! Woher weißt du –“
Andrés hob Guðmundur hoch und setzte ihn wieder in die Karre, diese verdammte Karre, von der er gehofft hatte, sie nie mehr zu brauchen.
„Ari und Jón erzählen doch ständig Unfug“, sagte Andrés. So viel Mitgefühl lag in seinem Gesicht, dass Guðmundur übel wurde.
„Andrés, bitte! Ich will nicht noch mehr Mitleid und Hohn – wenn jemand fragt –“
„…erzähle ich ein Märchen, versprochen.“
Ein paar Tage später kam Andrés‘ kleine Schwester mit verstörtem Gesicht zum Unterricht. „Bist du sehr böse auf Andrés?“
Guðmundurs Hände wurden feucht. „Warum?“
„Na, weil er den Zwerg verscheucht hat, der dir seine Zaubersalbe geben wollte!“
„Unsinn…“
In den nächsten Tagen verbreitete sich das Gerücht, Guðmundur sei ein Zauberdichter. Ausgerechnet der reiche Halldór, der bei Guðmundurs Anblick immer die Nase rümpfte, stürmte eines Abends in die Stube. „Guðmundur, meine Tochter Jórunn ist von einem bösen Geist befallen. Du musst mir helfen, ihn zu bannen!“
„Ich wüsste nicht, wie“, sagte Guðmundur.
Zu seinem Schrecken fiel Halldór vor seinem Bett auf die Knie. „Bitte, komm mit!“
„Meinethalben“, sagte Guðmundur. Er war fertig mit Zauberwesen, aber er würde einen Vierzeiler zusammenschustern. Wenn es wider Erwarten half, gut; wenn nicht, hätten wenigstens die Gerüchte ein Ende.
Halldór nahm ihn in die Arme und eilte durch den prasselnden Regen geradewegs an Jórunns Krankenlager. „Mach schon!“
Guðmundur ließ ihn ein wenig zappeln und sprach dann:
Fahre von ihr, frecher Spuk,
fort hier auf der Stelle,
Warst auf Erden wohl genug,
Weiche in die Hölle!
„Hat es gewirkt?“ fragte Halldór.
„Das wissen wir morgen“, behauptete Guðmundur. „Jetzt trag mich zurück.“
Am Morgen brachte Halldór ihm einen Korb Trockenfisch und rief: „Danke, Guðmundur! Es geht ihr besser!“
„In eine unmögliche Lage hast du mich gebracht!“, schimpfte Guðmundur, als er Ende August mit Andrés vor dem Haus saß. „Letzte Nacht kam ein Trunkenbold an mein Fenster und schrie ‚Guðmundur, Hilfe, der Teufel verfolgt mich!‘, bis die Knechte mich hinausschleiften und ich dem Trottel ein lausiges Gedicht zurief.“
Andrés lächelte. „Jeder Trottel, der dir dankbar ist, wird dich nicht mehr verspotten.“
„Zur Hölle damit. Du hast mich zum Lügner gemacht!“
„Vielleicht hat der Zwerg statt deinen Gliedern deinen Worten Kraft verliehen.“
„Hör bloß auf.“
„Oder deine Worte helfen den Leuten, weil sie daran glauben.“
„Unsinn.“
„Mag sein. Aber ich wollte dich um Hilfe bitten.“
Guðmundur schwieg, und Andrés fuhr fort: „Ich bin verliebt, Guðmundur. In Jórunn. Sie hat mich auch gern, aber ich bin ein armer Kätner. Halldór wird es verbieten.“
Guðmundur grübelte. Wie sollte er Andrés helfen? Er konnte ja nicht hexen. Schließlich schrieb er ein Gedicht, das Jórunn eine glückliche Ehe mit Andrés verhieß, und bat ihn, es unter ihr Kopfkissen zu legen: „Tu es heimlich, aber wenn jemand in ein paar Wochen fragt, sag die Wahrheit.“
Monatelang geschah nichts. Lüfteten sie bei Halldór nie die Betten, oder hatten sie das Gedicht längst verbrannt?
Im Januar kam Andrés strahlend in die Stube. „Wir heiraten im Mai! Halldór glaubt, was du weissagst, sei unausweichlich. Wirst du Trauzeuge?“
„Ich kann nicht mal hinter der Brautbank stehen.“
„Dann sitzt du eben.“
Mit den Jahren fand Guðmundur Gefallen an der Macht, die seine angebliche Zauberkraft ihm verlieh. Er half seinen Freunden und manch einer, der ihn ob seiner kläglichen Gestalt verhöhnte, wurde nach Guðmundurs scharfen Reimen von Albträumen geplagt. Obwohl er kein Gras mähen konnte, achteten die Leute ihn. Seine Balladen las man in ganz Island; Bischof Jón Vídalín forderte ihn zum Wettdichten heraus und musste sich geschlagen geben.
Doch es waren harte Zeiten. Der dänische König hatte zum Wohl seiner Kasse die Preise für den Islandhandel angepasst; Mehl und Angelhaken waren kaum mehr zu bezahlen. Eines Maiabends, als Guðmundur am Anlegeplatz saß und schrieb, gesellte sich ein Fischer aus dem Nordland zu ihm.
„Was bedrückt dich, Eyvindur?“
„Der Handelsassistent verbietet uns, unseren Fang nach Hause zu bringen.“
„Darf er das denn?“
„Er sagt, es sei uns verboten, in einem fremden Bezirk Handel zu treiben. Dabei ist der Fisch für unsere Frauen und Kinder!“
„Verstehe.“
Guðmundur dachte nach und schrieb für Eyvindur einen dänischen Reim:
Lasst die Fischer reiten fort
Mit Fang und Beute beladen
So wie Ihr bald selbst an Bord
Mögt segeln heim ohne Schaden.
Zwei Tage später führte Bezirksrichter Jakob den Handelsherrn in die Stube. Er wies auf Guðmundur, der auf dem Bett lag und las, und sagte auf Dänisch: „Ihr glaubt doch nicht, dass dieser Krüppel Euren Assistenten auf dem Gewissen hat?“
„Er soll ein Zauberer sein.“
„Mit Verlaub – wollt Ihr, ein Mann von Bildung, auf Bauerngeschwätz hören?“
„Nein, nein“, sagte der Däne und machte kehrt.
Jakob setzte sich zu Guðmundur. „Vergib die Beleidigung, alter Freund. Ich musste den Händler –“
„Schon gut. Was ist mit dem Assistenten?“
„Er ist tot. Gestürzt, wie es scheint. Neben ihm lag eine Branntweinflasche – und ein Reim.“
Guðmundur wurde eiskalt. Oh Gott, vergib mir. Ich wollte ihn nicht tot sehen, nur belehren. Vergib mir meinen Hochmut!
Guðmundur gelobte Gott, nicht mehr zu dichten, aber das hielt er nicht aus. Nur von Zauberei hielt er sich fern. Die Leute hörten auf, darum zu bitten. Seine Balladen lasen sie trotzdem.
Im nächsten Sommer brachte das Handelsschiff einen Brief. „Eine Einladung aus Kopenhagen, Guðmundur“, sagte Jakob. „Der König bittet dich an den Hof.“
„Will er mich ausstellen wie einen Papageien? Der Krüppel mit der goldenen Feder?“
„Ich werde dich nicht zwingen“, sagte Jakob, „solange der König nur einlädt. Aber wenn er es befielt…“
„Ich gehe nicht nach Kopenhagen.“
„Du könntest Islands Fürsprecher bei Hofe werden“, sagte Andrés beklommen.
„Ich gehe nicht nach Kopenhagen!“
Den ganzen Winter fürchtete sich Guðmundur vor der Rückkehr der Handelsschiffe. Er hatte sich nicht so ausgeliefert gefühlt, seit seine verarmten Eltern ihn in Staðarbakki abgeliefert hatten mit dem Auftrag, ein tapferer Junge zu sein. Was, wenn Jakob sagte, er müsse wirklich nach Kopenhagen fahren? War das die Strafe für jahrelange Hochstapelei?
Er konnte nicht weglaufen. Er konnte nicht mehr mit Hexerei drohen. Allenfalls konnte er nachts zum Strand hinunterkriechen und auf die Flut warten.
Im März bekam er Fieber. Andrés versäumte das Winterfischen, um seinem Freund Psalmen vorzulesen. Guðmundur starb mit einem Lächeln.
Die Leute erzählten, er habe sich zu Tode gedichtet.
Aber es war ein Fieber gewesen.
In Island gehörten Gedichte und Zauberei eng zusammen. Viele Legenden ranken sich um die angebliche Zauberkraft des Dichters Guðmundur Bergþórsson (1657-1705).
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