Von Irmi Feldman
Manche sagten, es war das Rauchen. Andere meinten es seien die Lügen gewesen. Wieder andere schoben die Schuld auf seine geschwätzige Frau. Die Pragmatischen allerdings führten die Geschehnisse schlichtweg auf einen unglücklichen Zufall zurück. Wie halt alles im Leben.
Es war Mittwoch. Paul machte sich auf den Weg zum nahegelegenen Park, um dort seine nächtlichen Runden zu drehen. Wie immer, verabschiedete er sich von seiner Frau Molly, zog die Kapuze über den Kopf, die Tür hinter sich zu und joggte Richtung Park davon. Wie jeden Abend. Nur, dass er es eigentlich nicht jeden Abend so machte, nicht mittwochs.
Mittwochs bog er nicht nach rechts zum Park ab, sondern nach links zu dem kleinen Tabakladen, etwa eine Meile von seinem Haus entfernt. Dort besorgte er sich seine wöchentliche Ration an Zigaretten, die er gleich darauf in der dunkelsten Ecke hinter dem Laden gierig in sich hineinzog. Ungestört und ungesehen. Seit Jahren machte er es so. Molly hatte selbstverständlich keine Ahnung von seinen Raucheskapaden. Für sie war er der absolute Gesundheitsfreak, dem Fastfood, Sodas, Zigarettenqualm und dergleichen ein Gräuel waren. Dass er sich ab und zu zwei Cheeseburgers, eine doppelte Portion Pommes, Coke, und Cherry Pie, alles Dinge, von denen Molly ebenso wenig Ahnung hatte, zu Leibe führte, wollen wir hier nicht weiter erwähnen, weil sie auf die Geschichte keinerlei Einfluss haben.
Weil Paul um 22:42 Uhr nicht im Park um den Löwenbrunnen herumjoggte, sondern hinterm Tabakladen rauchte, sah er nicht, wie drei Gestalten sich dem Brunnen näherten. Freunde, würde ein Außenstehender vermuten. Gute, sogar, denn der rechts, nennen wir ihn Cody Colt, hatte seinen linken Arm um die Schultern von Dumpy Don, gelegt. Paul sah auch nicht wie Cody Colt mit der rechten Hand Dumpy Don den Mund zuhielt, während der Kerl links, nennen wir ihn Macky Messer, ihm mit einem einzigen Messerstich direkt ins Herz den Garaus machte. Lautlos sank Dumpy Don zu Boden. Dass die zwei dunklen Gestalten sich danach schleunigst aus dem Staub machten, sah Paul ebenfalls nicht. Denn er war ja nicht im Park.
Zu gewohnter Stunde, kehrte Paul um 23:11 Uhr schwer keuchend nach Hause zurück.
„Du bist ja ganz außer Atem?“, rief Molly. „Wie oft bist du denn heute um den Löwenbrunnen herumgejoggt?“
„Genau 33 Mal“, stieß Paul hervor. Um ihr zu zeigen wie erschöpft er war, legte er beim Keuchen noch einen Zahn zu.
Dann duschte er und ging ins Bett. Am nächsten Morgen, während er sich ausnahmsweise eine Tasse Kaffee gönnte – normalerweise trank er Pfefferminztee, hörte er in den Nachrichten von dem Mord beim Löwenbrunnen. Ein Mann sei erstochen worden. Die Polizei bat um Hinweise von der Bevölkerung. Man tippe auf mindestens zwei Täter.
Sprachlos starrte Paul auf das Radio. Molly tat das Gleiche.
„Warum hast du mir nichts davon gesagt“, rief sie aus. „Du musst doch was gesehen haben.“
Paul wurde blass. „Ich? Nein, woher denn? Ich habe nichts gesehen. Gar nichts.“
Das könne gar nicht sein, meinte Molly. Sie war nicht Eine, die so leicht aufgab. Der Mord müsse zwischen 22:00 Uhr und 23:00 Uhr passiert sein, so vermutet die Polizei. Das sei doch genau die Zeit, in der er, Paul, im Park war. Dreiunddreißig Runden um den Brunnen herum habe er doch gedreht. Und genau am Brunnen sei der Mann von einem frühen Spaziergänger gefunden worden.
Paul wurde blass. Er schluckte. Dann räusperte er sich, biss schnell noch vom Croissant ab, nahm einen Schluck Kaffee, verschluckte sich absichtlich und wedelte mit der Hand, um ihr zu zeigen, dass er gerade nicht sprechen könne. All das tat er, während er fieberhaft überlegte, obwohl Denken nicht seine Spezialität war und Schlagfertigkeit schon gar nicht. Was sollte er tun? Er saß in der Klemme. Sollte er Molly beichten, dass er mittwochs nie im Park ist? Und dass er deshalb nichts gesehen habe? Dass er schon seit zwölf Jahren mittwochs zum Rauchen gehe?
Er habe was gesehen, gab er schließlich zu. Er habe dunkle Gestalten gesehen. Von weitem. Doch habe er wirklich nichts erkennen können. Es sei ja so dunkel im Park. Er habe es mit der Angst bekommen und sich im Gebüsch versteckt. Den Mord habe er nicht gesehen.
Ob er sich im Gebüsch vor den dreiunddreißig Runden oder danach versteckt habe, wollte Molly wissen.
Paul überlegte. War das eine Fangfrage?
Nach den Runden natürlich, sagte er nach einer Weile. Denn wer läuft noch dreiunddreißig Runden, wenn er einen Mord beobachtet hat?
Er müsse die Polizei verständigen, drängte Molly. Unbedingt. Schon rannte sie zum Telefon, das in der Küche an der Wand hing.
„Nein“, schrie Paul. „Ich hab doch nichts gesehen.“
Molly winkte ab. Sie war schon mit der Polizei verbunden.
Paul wurde mal heiß und mal kalt. Geschockt hörte er seiner Frau zu, die gerade erklärte, dass ihr Mann, Paul Winkler, die Tat beobachtet habe. Als er beim Joggen im Park war. Natürlich werde er sofort ins Polizeipräsidium fahren und seinen Bericht erstatten.
„Das hättest du nicht tun sollen“, flüsterte Paul heiser. Er hätte Molly umbringen können. Warum musste sie sich überall einmischen?
„Es ist deine bürgerliche Pflicht“, entgegnete Molly. „Du bist ein Augenzeuge.“
Wie in Trance fuhr Paul zum Polizeirevier. Was sollte er denen denn nur sagen?
Hocherfreut nahm man ihn bei der Polizei in Empfang. Ein Augenzeuge. Wie herrlich. Und so schnell nach dem Mord.
„Nun, fangen wir mal von vorn an“, sagte Inspektor Walsh. „Sie joggen also jeden Abend im Park, umrunden den Löwenbrunnen. Korrekt?“
Paul nickte. Walsh forderte ihn auf, die Geschehnisse der gestrigen Nacht zu wiederholen. Paul erzählte, wie er sich fertigmachte, das Haus verließ, nach rechts den Weg zum Park einschlug und dort seine 33 Runden drehte. Dieser Teil war leicht, weil Paul einfach seine tägliche Routine erzählte, die er jeden Tag, außer Mittwoch eben, durchging.
„Und dann?“, fragte Walsh. Paul solle doch erzählen, was nach den 33 Runden passiert sei. Hier nun war Paul ganz auf seine Fantasie angewiesen und natürlich auf die Hinweise, die die Polizei schon herausgegeben hatte, nämlich, dass es mindestens zwei Täter sein müssen. Paul entschied sich daher bei zwei Tätern zu bleiben.
Die Kerle seien den Weg entlanggekommen. Er habe sie schon von weitem gehört, dann erst gesehen, denn die Beleuchtung im Park sei ja nicht besonders gut. Weil die ihm nicht geheuer waren, versteckte er sich im Gebüsch. Aussehen? Kleidung? Statur? Verhalten? Worüber sie gesprochen haben? Alles wollte der Inspektor wissen.
Da kam Paul ins Stottern, weil er ja nichts gesehen hatte. Aber weil er gerne Krimis anschaute, griff er auf dieses Wissen zurück. Plötzlich erinnerte er sich an alles. Er log das Blaue vom Himmel herab. Ein Polizeizeichner fertigte sogar Zeichnungen von den mutmaßlichen Tätern an. So gut konnte Paul sich an deren Aussehen erinnern. Noch nie war Paul sich so wichtig vorgekommen.
Inspektor Walsh starrte ihn an. Wer war der Kerl?
Als die Mörder weg waren, sei er sogleich nach Hause gelaufen.
Warum er denn nicht sofort die Polizei verständigt habe? fragte Walsh. Das wäre doch seine Pflicht gewesen.
Er hatte Angst, sagte Paul. Große Angst. Er wollte so schnell wie möglich weg. Die Mörder hätten ja zurückkommen können.
Er verstehe, sagte Walsh, aber zuhause hätte er doch die Polizei anrufen können. Warum er das nicht getan habe?
Paul überlegte. Jetzt hätte er Mollys Schlagfertigkeit gebrauchen können.
Mafia, kam ihm in den Sinn. Die Mörder seien bestimmt von der Mafia. Wenn bekannt werde, dass ein Jogger sie bei ihrer Tat gesehen habe, dann wäre es ein Leichtes herauszufinden, wer nachts regelmäßig in diesem Park joggt.
Paul war stolz auf sich, dass ihm so eine glaubwürdige Antwort so schnell eingefallen war.
Walsh nickte. Ja, das konnte er verstehen. Walsh versicherte ihm, dass seine Identität geheim bleiben werde.
Aus welcher Richtung die Kerle denn gekommen seien? Wollte Walsh wissen. Vom Brunnen gingen ja vier Wege ab.
Paul stutzte. Er könne sich nicht erinnern. Er sei verwirrt gewesen. Durcheinander. Es sei alles so schnell gegangen. Wer könne sich da noch an die Richtung erinnern?
Zurück zum Tatort, befahl Walsh. „Dann können Sie uns zeigen, wo Sie sich versteckt hielten. Und von welcher Richtung die Kerle gekommen sind.“
Paul nickte. Ob er seine Frau anrufen könne? Aber natürlich.
Eigentlich wäre Molly gar nicht mehr zuhause gewesen, als Paul anrief, aber weil sie sich gerade für dieses Treffen ihres Buchclubs besonders hübsch machen wollte, war sie immer noch beim Schminken, als das Telefon klingelte.
Heute würde sie der Star in der Runde sein, und nicht Karla, die sich sonst immer in den Vordergrund drängte. Ihr Paul, ihr Mann war Zeuge zu einem Mord geworden, und das wollte sie ausschlachten bis zum Geht-nicht-mehr. Das Café, wo sie sich immer am letzten Donnerstag im Monat trafen, befand sich am anderen Ende der Stadt. Mit aufgerissenen Mündern hingen die Damen des Buchclubs an Mollys Lippen. Wo Molly die Fakten ausgingen, erfand sie welche dazu.
Wie es der Zufall wollte, saß gleich neben den Damen, Cody Colt. Natürlich war er außerordentlich interessiert an Mollys Geschichte von ihrem Mann, dem Jogger, der die Mörder beobachtet hatte und so gut beschreiben konnte. Codys Anwesenheit in diesem Café war nur zufällig. Seine Lieblingsbar nebenan machte erst um 17:00 Uhr auf, aber nach der letzten Nacht brauchte er erst mal einen Drink.
Am Nebentisch erzählte Molly gerade, dass Paul auf dem Weg zum Tatort sei, um der Polizei zu zeigen aus welcher Richtung die Kerle gekommen seien. Er sei schließlich ihr wichtigster Zeuge.
Cody Colt horchte auf. Plötzlich hatte er es eilig. Seinen Colt hatte er gottlob immer dabei. Und so kam es, dass Cody Colt, gerade als Paul beim Löwenbrunnen den Arm ausstreckte und in die Richtung zeigte, aus der die Mörder gekommen waren, abdrückte.
Dann traf es Cody Colt wie ein Blitz. Das war die falsche Richtung. Der Jogger hatte in die falsche Richtung gezeigt.
Irmi Feldman, v1; 9939z