Von Volkmar Klundt
„Wo warst du?“,
fragt Ma über die Schulter hinweg. Ihre Arme stecken bis zu den Ellenbogen im Schaum. Sie streicht mit dem Schwamm über einen Teller, zieht ihn aus dem Spülbecken, lässt Wasser drüber laufen und legt ihn dorthin, wo sich bereits Gläser, Töpfe und Pfannen zu einer gigantischen Pyramide stapeln. Im Esszimmer steht das Bügelbrett und sie trägt eine dieser ausgeblichenen blumengemusterten Kittelschürzen. In diesem Aufzug würde man sie für die Putzhilfe halten. Aber das ist unwahrscheinlich, denn das Haus wirkt ärmlich und eine Spur zu schäbig für Hausangestellte. Ein Grund, warum er niemanden mit hierher bringt. Einmal jedoch hatte er Benny Dickinson mitgebracht, der dann Bauchweh vortäuschte und sich schockgefrostet und gelangweilt nach einer Stunde abholen ließ.
Denn das hier ist Rose Hill, USA. Hier ist es ein Muss, sich Leute zu halten, die das Haus putzen, den Pool reinigen, die Kinder beaufsichtigen und den Rasen mähen. Hier in dieser Siedlung wohnen die Reichen und Schönen… und Willy mit seiner Mutter.
Von morgens bis abends zwitschern überall Rasensprenger und vor den Häusern parken Cadillacs, Daimler und BMWs. Das Haus, in dem Ma und Willy leben, ist das kleinste in der Reihe. Es braucht dringend ein neues Dach und einen frischen Anstrich, denn es wirkt zwischen den anderen Häusern wie der armselige Verwandte auf einer Familienfeier, den man nur eingeladen hat, um sich besser zu fühlen, und der in der Ecke steht wie eine abgerockte Reklametafel für ein gutes Gewissen. Den man eine Spur misstrauisch beäugt, als erwarte man, dass er in Kürze das Buffet abräumt.
Dad muss es wohl ziemlich vermasselt haben, denn seit er vor vier Jahren starb, reicht es hinten und vorne nicht.
Wenn Ma Willy mit dem klapprigen Pick-up zur Schule fährt, läuft ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken.
„Ma, niemand in der Siedlung fährt so eine Rostlaube.“
„Wieso“, sagt sie dann, „der Motor ist noch tiptop.“
„Die Anderen..“, beginnt er und weiß, was gleich kommen wird.
„Wir sind nicht…“, sie spielt den Ball rüber und hebt am Ende die Stimme zur Pause.
„…die Anderen“, vollendet er das Ritual. Sie ahnt nicht, wie verdammt recht sie damit hat. Jedenfalls ist der Deal, dass er schon vorher aussteigt, bevor die Schule in Sicht kommt.
„Wieso hast du sie nicht längst reparieren lassen“, sagt Willy, ein wenig außer Atem. Ihm ist warm und er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sein Kinn deutet auf die Spülmaschine, „kein Mensch spült mehr mit der Hand.“
Er ist groß für 15. Sieht aus wie der typische Nerd. Bleistiftdünne Arme hängen muskellos an seinem schlaksigen Körper. Im Gegenzug, damit er bloß die Anderen nicht überragt, hat eine rachsüchtige Natur seine Wirbelsäule gekrümmt, so dass sein Kopf vorangeht, wie das Periskop eines U-Boots. Nicht jeder, der wie´n Nerd aussieht, ist gleich ein Mathegenie oder Mitglied im Schachclub. Willy kann sich noch so viel Mühe geben, spätestens 10 Minuten nach Beginn des Unterrichts löst sich das schwankende Floß unter seinen Füßen auf und so sehr er auch versucht, die Einzelteile zusammenzuhalten, seine Gedanken schwimmen davon und werden zu Treibgut auf einem nebeligen Ozean.
Die Lehrer wissen das und lassen ihn meistens in Ruhe.
Manchmal kommt einer von ihnen, um Willy nicht völlig aufzugeben, auf den schrägen Gedanken und rüttelt ihn mit irgendeiner Low-Level-Frage aus seiner verborgenen Welt. Alle lachen, weil Willy, während er in seinem Gehirn nach einer Antwort schürft, erst noch die Frage rekonstruieren muss.
„Ach Schatz, diese drei Teller…“, sagt sie, „also?“
Ihre Uniformbluse mit dem Wappen des Rose Hill Police Department hängt frisch gebügelt über dem Küchenstuhl, Koppel und Holster liegen auf dem Tisch.
„Also was?“
„Also, wo warst du, junger Mann?“
„Brauch ich `nen Anwalt? Ich dachte, du hast frei, Officer“, sagt er und deutet auf die Uniform und das andere Zeug.
„Sam ist krank. Ich übernehme seine Spätschicht. Pete holt mich gleich ab.“
Klar tut Pete das. Er ist scharf auf sie. Wette, sie kommt heute spät nach Hause. Als Pete mal mit reinkam, hatte er immer von diesem Sportzeugs angefangen. Willy könnte doch Basketball probieren, die richtige Größe hätte er ja. Das war nun wirklich albern und die Sätze, die ihm Pete zuspielen wollte wie Bälle, fielen zu Boden, bis Ma sagte: „Lass ihn doch Pete.“
„Er hat Tinte und nen Füller“, hatte Pete geflüstert und gegrinst, „aber noch niemanden, an den er schreiben kann.“
„Hallo, ich kann dich hören“, hatte er gedacht, „ich steh doch hier.“
„Pete…“, sie hatte schief gelächelt, „lass ihn doch.“
„So wird sich nie was ändern, Amy.“
Aber da hatte Pete nichts von Karen gewusst.
Büsche rascheln vor dem Küchenfenster, als ein leichter Wind durch den Garten streift und die Gardine bauscht. Das Licht des frühen Nachmittags fällt gnadenlos vom blauweiß getupften Himmel und gräbt Ma, obwohl sie erst 42 ist, unbarmherzig Falten ins Gesicht, denn sie hat Nachtschicht gehabt.
Willy geht hinüber und schließt das Fenster. Er schiebt die Gardine ein Stück zur Seite und blickt zur Einfahrt.
„Ich war die ganze Zeit über hier, hörst du“, sagt er und lässt die Gardine fallen, „in der Garage. Hab Musik gehört.“
Ein Lachen wie ein aggressiv gespielter Gitarrenriff hatte schrill und scharf sein Inneres zerteilt, während das Blut in seinen Ohren dröhnend die Basedrum schlug und die Vocals mit einem krassen Schrei einsetzten:
„Bild dir nur nichts ein, du Freak.“
Bämm! Er spürt immer noch den Abdruck ihrer Finger im Gesicht.
Freak! Irgendwann einmal war das Wort als verfickter Newcomer-Headbanging-Star unter tosendem Beifall der Klasse auf der Bühne der Sätze erschienen und gab jetzt eine Zugabe nach der anderen.
Dabei mochte sie ihn. Ganz sicher. Nein, falsch, eigentlich liebte sie ihn. Ihr fehlte nur noch ein wenig der Mut, zu ihren Gefühlen zu stehen. Sie liebte ihn, das weiß er genau, denn es hatte Zeichen gegeben und in der vierten Klasse hatte die Sonne ihr blondes Haar geküsst, so dass es im Gegenlicht aufleuchtete und sein Herz flutete. Nun endlich, hat er gedacht, werde ich ihr beweisen, dass Liebe alles schaffen kann. Dann wird es ihr egal sein, was die Anderen sagen. Freak!
Nun liegt sie freaky im Wohnzimmer ihrer Eltern, hat diesen ausdruckslosen Blick im Gesicht, als gehöre das Messer, das aus ihrer Brust wächst, so selbstverständlich zu ihr, wie die blonden Haare und ihre wunderschönen Brüste zwischen denen es steckt.
„Wolltest du nicht rüber gehen zu Karen? Wegen Mathe?“
„Ma, es sind Ferien.“
„Nicht so vorlaut William“, sagt sie, „manchem täte es gut, auch in den Ferien mal was für die Schule zu tun.“
„Nee, ich sag doch, ich hab Musik gehört“, gibt er unwirsch zurück, so dass sich zwischen ihren Brauen zwei senkrechte Falten bilden und sie einen Moment nachdenklich zu ihm herüber schaut.
„Warum machst du nicht mal was mit anderen, statt immer nur in der Garage zu hocken?“
„Ma!“, sagt er, „hör auf.“
Sie nimmt sich den nächsten Teller vor.
„Ist schon ein hübsches Ding, diese Karen“, sagt sie, schmunzelt und lässt den Schwamm kreisen: „Läuft da was?“
Klar. Karen hat es ja schlau genug eingefädelt, damit er heute rüberkommt. Heute, weil ihre Eltern nicht da sind. Von wegen Mathe üben und so.
Whamm! Woher kam nur diese Kraft, ihr das Messer, diese Wucht, er fühlt noch das Knirschen als die Klinge, ihr erstaunter Blick, als würde sie ihn das erste Mal anschauen. Als würde sie plötzlich erkennen, was sie die ganze Zeit schon gesehen, aber nicht verstanden hat. Der Blick, der dann an ihm vorbei ins Leere gleitet, noch zwei-, dreimal zurückkehrt, als wolle sich Karen vergewissern, ob sie das Bügeleisen auch ganz bestimmt abgestellt hat, bevor sie auf die große Reise geht. Dieses Bild gehört nur ihm. Kein anderer, nur er hat diesen Moment geteilt. Er kann sich kaum lösen, braucht einen Moment. Dann rennt er die ganze Strecke heim.
Nein, er kann Ma nicht gut sagen, dass er zwei Straßen weiter, Karen Chadwick, das Licht ausgeknipst hat. Damit würde er sie in Verlegenheit bringen. Schließlich ist sie´n Cop.
„Ma, was du immer denkst. Sie ist nur `ne Freundin.“
„Klar“, sagt Ma und zwinkert ihm zu, „aber wieso hast du diese coolen Sachen an?“
Er liebt dieses Maiden-Shirt. Sie weiß genau, wie er daran hängt: Der gierig und lüstern blickende Teufel als Marionette. Er hatte es vom Flohmarkt.
„Ah, ich seh´s dir an“, hatte der Alte gesagt. Er roch nach saurem Schweiß und Tabak. Seine grauen Haare reichten bis zur Schulter und in seinem verfilzten Bart steckte der Stumpen einer kalten Zigarre. „Bist´n waschechter Trooper. Ich lass´ es dir für 10 Dollar.“
„Klar“, hatte Willy gesagt und später die Band gegoogelt.
Ab da war er hin und weg gewesen und hörte nur noch Iron Maiden.
„Ist doch nur´n Shirt, Ma.“
Irgendwo in der Ferne beginnt eine Sirene zu heulen. Sie kommt, gefolgt von einer zweiten und dritten, rasch näher. Die Fahrzeuge beschleunigen die Straße entlang, brausen heulend an ihrer Einfahrt vorbei.
Ein letztes Jaulen, dann haben sie ihr Ziel erreicht.
Und es ist wieder still.
„Das war in der Nachbarschaft“, sagt Ma, streift hektisch den Schaum von den Armen und trocknet sich die Hände an der Schürze ab.
„Machst du das bitte fertig, Willy, ja?“
„Klar“, sagt Willy.
Eilig nimmt sie ihre Uniformbluse und verschwindet im Schlafzimmer.
Als der Streifenwagen mit knirschenden Reifen die Einfahrt heraufrollt, lässt Pete die Sirene einmal aufheulen. Ma kommt eilig, in Uniform, aus dem Schlafzimmer, legt den Gürtel um, prüft Waffe, Handschellen, Funkgerät, blickt zur Uhr und drückt Willy einen knappen Kuss auf die Wange.
„Warte nicht, wird spät.“
„Klar“, sagt er und wischt die feuchte Stelle ab.
Die Tür klappt. Er blickt aus dem Fenster. Draußen tritt Pete ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Willy sieht, wie seine Lippen „Karen Chadwick“ sagen, als Ma zu ihm in den Wagen steigt, sieht, wie sie sich, als der Wagen langsam zurücksetzt und aus der Einfahrt rollt, vorbeugt und durch die Windschutzscheibe seinen Blick sucht.