Von Clara Sinn
Lügen sei ansteckend. Belegte der Artikel. Nach dem Motto: Wenn du lügst, lüg ich auch. Besonders bei Verhandlungsgesprächen bildeten sich daher regelrecht absurde Lügenspiralen heraus. Die am Ende beiden Parteien handfeste Nachteile eintrugen.
Sie legte die Zeitschrift auf den Stapel Altpapier.
Dachte daran, dass sie gegenüber ihrer Mutter immer noch keine rechte Strategie hatte. Aber so ging es langsam nicht mehr weiter. Schlicht zu gefährlich. Mittlerweile. Hatte herumgefragt. Bei allen Freunden und Bekannten. Keiner, bei dem ein pflegebedürftiges Elternteil zugestimmt hätte. Ins Heim zu gehen.
Entweder hatten sie die Eltern von vorn herein gezwungen, „als Betreuerin entscheide ich das jetzt“, erfolgreich „überrumpelt“ oder schlicht angelogen, „schon auch irgendwie betuppt“. Keinem einzigen von den Umverpflanzten hatte es etwas genützt, sich auf den sprichwörtlichen standortbeständigkeitsbedürftigen „alten Baum“ zu berufen.
Noch war ihre Mutter „nur von der untersten Stufe“ der Leiter gefallen. Hatte sich eine fette tiefblaue Beule über dem Auge und einen komplett übelschwarzen Daumen geholt. Dieser rote Leuchtpunkt am Rauchmelder hatte sie urplötzlich unaufschiebbar gestört. Wollte sie unbedingt von jetzt auf gleich „nicht mehr vom Bett aus sehen“ müssen.
Wenige Tage vorher war der Vermieter gestorben.
Also kam sie auf die Idee, der Mutter weißzumachen, dass es nun sein könnte, dass das Haus verkauft würde. Tatsächlich hatte die Stadtverwaltung einmal große Summen für das Grundstück geboten und die letzten Widerständler zum Einwilligen gebracht.
Bis auf ihren Vermieter.
Beide Töchter lehnten die Verbohrtheit ihres Vaters ab, konnten aber nichts machen. Er war nun einmal der einzige Eigentümer. Für ihre Mutter war das ein Segen. Sie war die letzte verbliebene Mieterin. Alle anderen Wohnungen waren längst in Airbnb-Unterkünfte umgewandelt.
Dann verlegte sie sich darauf, der Mutter unterzujubeln, die eine Tochter habe ihr, im Vertrauen, schon mal gesteckt, das Haus solle „auf jeden Fall“ verkauft werden. Und zwar möglichst schnell. Achtete dabei darauf, ein bisschen Beruhigung in die Nachricht zu streuen. „Hast ja neun Monate so oder so gesetzliche Schonfrist.“
Sie wähnte sich mit den dergestalt eingestielten Geschichten auf der sicheren Seite.
Hatte gut vorgearbeitet. Dass sie etwas in der Hinterhand hatte. Falls sich die Situation verschärfte. Was die auch fortschreitend tat.
Also fing sie an, schon mal auszumisten. Alles auf Grundlage der fingierten Kündigung. Und der auf die Eröffnung des Altenheim-Neubaus abgestimmte Frist.
Hatte gedacht, sie gestalte ihrer Mutter einen so allmählichen wie glatten Übergang.
Mit hinreichend Zeit, sich von den so langjährig eigenen vier Wänden im Sanften zu verabschieden.
Dann aber fiel ihre Mutter auf dem letzten Treppenabsatz just vor der Wohnungstüre böse hin. Und brach sich den linken Schenkelhals …
Und da ging es
ganz, ganz
rasch
…
V2