Von Thomas Gärtner

Es sollte ein Urlaub ganz besonderer Art werden. Fernab vom Touristenrummel, im Freien, unter azurblauem Himmel, inmitten ungebändigter Natur. Nur er und seine Laura.
Die Zeltplane hatte er locker auf dem Dachgepäckträger unterbringen können – eine Aufgabe, mit der er keineswegs überfordert war, wie Laura lautstark prophezeit hatte. Und er würde den Nachweis führen, dass genau diese und keine andere Zeltplane da oben blieb, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
Was jetzt eigentlich nur noch fehlte, war Laura selbst. Parker vermutete schon seit geraumer Zeit hinter der ein wenig rauen Fassade Lauras ein reichhaltiges, seelisches Innenleben. In das wollte er sich vertiefen und es ausgiebig studieren.

Nun gut, das war im Grunde eine klitzekleine Lüge, von Parker ersonnen, um sich die Fahrt schön zu reden. Reisen war nicht sein Ding. Er hatte den Urlaub nicht gewollt – Laura war es, die darauf bestanden hatte.
Wie immer kam sie nahezu eine halbe Stunde zu spät.
“Zückerschnäuzchen!”, sagte er überschwänglich.
“Vollidiot”, erwiderte Laura eisig. Das war die übliche Begrüßung. Was sich liebt, das neckt sich.
“Na, dann mal los”, sagte Parker und stieg ins Auto. Laura nahm neben ihm Platz, und während er noch startete, hatte sie bereits einen Krimi hervorgezogen und mit dem Lesen begonnen.
Parker wusste, dass vor ihnen eine lange Autobahnfahrt lag. Deshalb schaltete er das Radio ein, um für eine angemessene musikalische Untermalung zu sorgen. Es musste schon etwas Modernes, Treibendes sein, sonst kam keine Stimmung auf.
“Ebenso wie seine europäischen Artgenossen bricht auch der afrikanische Kranich nur zur Balzzeit sein Schweigen. Ihn sieht man dann beim berühmten Kranichtanz und hört weit schallend die eigentümlichen Balzschreie…”
Parker drückte den Sender weg. “War doch gut”, sagte Laura geistesabwesend, sie war wohl zu sehr mit ihrer Lektüre beschäftigt.
Auch andere Sender hatten wenig Unterhaltsames zu bieten: jede Menge Morgengymnastik, klassische Musik und ein unverständlicher Vortrag über “kommunikatives Handeln”. Da war selbst der Verkehr auf der Straße aufregender.

Bevor Parker aufgab, versuchte er noch, einen mexikanischen Sender in den Empfang zu zwingen, denn darauf war Laura ganz wild. Gelänge ihm dieses Husarenstück, so gäbe es Pluspunkte ohne Ende, das war gewiss.

„Uno momento, Juanita“, sagte Parker, als habe er es gleich geschafft.

*Juanita* – sie liebte es, so angesprochen zu werden, weil sie sich insgeheim als Mexikanerin sah. *Laura* hingegen war ein Name, den sie hasste. Wer es dennoch wagte, sie so zu nennen, den erwartete eine wilde Woge des Hasses. *Laura* klang, wie sie einmal gesagt hatte, so primitiv, so provinziell, so… deutsch. *Juanita Sturzbach* – ja, das war gleich sehr viel besser. Viel besser als “Laura Sturzbach”. Jetzt musste sie nur noch an ihrem Nachnamen arbeiten, dann war alles gut.

Und tatsächlich: Laura war in vielen Belangen mexikanischer als die echten Mexikanerinnen. Manchmal drehte sie komplett frei, nahm ihre Kastagnetten und tanzte sich in hochgradige Trance. Parker liebte diese Kastagnetten-Momente.
Er stellte ab und konzentrierte sich nur noch auf das Geschehen vor und hinter ihm. Sie hatten jetzt die Autobahn erreicht, und er musste höllisch aufpassen, dass er keinen Fehler machte und nirgendwo aneckte. Denn das würde Laura mit Sicherheit dazu nutzen, seine Qualitäten als Fahrer mit einer vernichtenden Kritik zu überziehen.
Diese Überlegungen, das wusste er, waren Überreste einer alten Angst vor der Meinung anderer. In letzter Zeit kümmerte er sich zwar herzllich wenig darum, wie und was man von ihm dachte. Früher war es aber anders gewesen. Das Gehirn spielte ihm nun eine sehr hässliche Szene vor, die er eigentlich vollständig hatte verdrängen wollen. Damals, als er auf die Betäubungsspritze verzichtete, um die Sprechstundenhilfe zu beeindrucken….
Der Zahnarzt setzte gerade eine neue Bohrnadel ein. “Tut aber weh”, sagte er. “Macht nichts”, sagte Parker. Erst als die Nadel tief im Inneren des Zahns zu arbeiten begonnen hatte und den Nerv massierte, erkannte er, dass dies keine gute Idee gewesen war. Er begann, wie ein Schlossgeist zu wimmern, zunächst sehr leise und verhalten, dann aber deutlich vernehmbar, schließlich mit einer raumfüllenden Lautstärke. Und die assistierende Sprechstundenhilfe amüsierte sich köstlich, wie er aus den Augenwinkeln heraus bemerkte….
Ein polterndes Geräusch unterbrach den Film. “Es ist unglaublich, was die Anwohner so alles auf die Fahrbahn werfen”, sagte Parker nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel. Er sagte das aber mehr für sich, denn auf eine sprachliche Reaktion Lauras war nicht zu hoffen, wenn sie sich einmal auf etwas konzentriert hatte. So war Laura eben.

“Es hat einmal eine Zeit gegeben, da konntest du gar nicht genug von mir bekommen”, sagte Parker vorwurfsvoll. ohne auch nur eine wie immer geartete Antwort zu erwarten, “Das war eine andere Zeit”, erwiderte Laura unerwartet. “Und du warst ein anderer Mann, Hombre.” Parker schluckte und wurde blass.
Die Sonne hatte inzwischen ihre Versuche, hinter den Wolken hervorzubrechen, eingestellt, die Landschaft verdunkelte sich zusehends. Dies war eigenartig; der Tag war noch nicht richtig auf Touren gekommen, und doch hatte er den Eindruck, dass es in rasantem Tempo auf den Abend zu ging.
Er schaltete das Licht ein. Links und rechts drangen aus den Wäldern in unregelmäßigen Abständen grünliche Lichtschimmer und Signale, so als gehe dort eine geheime Verständigung vor sich. Auch Laura hatte sich auf merkwürdige Weise verändert. Sie saß mit maskenhaftem, unbewegtem Gesichtsausdruck im Sitz und starrte auf die Fahrbahn. Der Krimi war ihr aus den Fingern geglitten und unter den Sitz gerutscht.
“Magst du mir ein wenig vorlesen?” fragte Parker, um die Situation zu entschärfen.
Laura antwortete nicht. Sie hatte, wie ihm schien, erheblich an Größe und Umfang zugenommen, war massiver, eckiger geworden und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der Laura, die er von früher her kannte.
Gar nicht hinsehen, dachte er. Es war durchaus möglich, dass Laura sich von allein fing und ihre ursprüngliche Gestalt wieder annahm. Zugegeben, die Situation irritierte ihn. Zwar war ihm nach aller bisherigen Erfahrung klar geworden, dass eine verlässliche und berechenbare Wirklichkeit nicht existierte und nie existiert hatte. Dass in jedem Moment alles oder auch nichts geschehen konnte. Aber die Konzentration, mit der die abweichenden Dinge nun auftraten, war doch schon einigermaßen beunruhigend. Selbst der Verkehr gehorchte nicht mehr der üblichen Logik. Das Fahrzeug, dass sie soeben überholt hatten, war seltsamerweise ganz aus dem Rückspiegel verschwunden; es musste wohl irgendwo rechts in den Wäldern versunken sein.
“Anhalten!” sagte Laura plötzlich mit einer harten, keinen Widerspruch duldenden Stimme.
“Geht doch nicht auf der Autobahn.”
“Ich sagte: Anhalten!”
Ein rascher Seitenblick machte deutlich, dass es vernünftiger war zu gehorchen, denn Laura war ihm mittlerweile körperlich um ein Vielfaches überlegen. Er fuhr rechts heran und schaltete die Warnblinkanlage ein.
Laura griff sich vom Rücksitz ihre Handtasche, die inzwischen zu einem stattlichen Reisebeutel angewachsen war und verließ ohne ein weiteres Wort den Wagen. Dann verschwand sie spurlos im Dickicht.
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Die Autobahn war mit einem Male zuende. Parker hätte es nie für möglich gehalten, dass ein so breites, ausgebautes Gebilde dermaßen abrupt in eine schäbige, heruntergekommene Landstraße münden konnte. Wegen der vielen Schlaglöcher musste er das Tempo enorm drosseln und sich mit einer geradezu lächerlichen Geschwindigkeit begnügen.
Die Feld- und Wiesenlandschaft, die sich nun vor ihm auftat, bot einen jämmerlichen Anblick, der sehr an das deutsche Tiefland gemahnte, das er eigentlich hinter sich hatte lassen wollen. Unangenehm berührt fuhr er in die erste Ortschaft ein. Die Straßenzüge kamen ihm merkwürdig bekannt vor, und je weiter er vordrang, desto überraschender waren die Ähnlichkeiten. Dann endlich musste er das Auto zum Stillstand bringen und aussteigen. Es war nicht zu fassen, er traute seinen Augen nicht!
Die Nachbarschaft stand am Gartenzaun beisammen, als habe sie seine rasche Rückkehr erwartet. Der große, dickbäuchige Kuhlschmidt trat nun aus der Gruppe hervor und schnalzte überlegen mit seinen Hosenträgern.
“Na, schon wieder zurück, Parker? Hat´s in Italien nicht gefallen?”
Parker war zu abgespannt, um diese Frechheit angemessen beantworten zu können und kramte den Hausschlüssel hervor.
Kuhlschmidt legte in der Zwischenzeit nach.
“Ach übrigens, was ist denn mit dem Zelt passiert? Sieht so übersichtlich aus auf dem Dachgepäckträger…”
Parker schnitt ihm das Wort ab, indem er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Eine Sitzgelegenheit fand sich hier nicht, denn es war alles anders geworden. Nur nackter Fußboden und kahle Wände, selbst die Tapeten hatte man abgerissen und mitgehen lassen. Dafür aber gab es nun einen hervorragenden Raumhall, wie er nach einem monströsen Schrei feststellte.