Von Ines Kruse-Kahn
“Neeiiin” schrie sie, “nein, ich will nicht sterben – jedenfalls noch nicht jetzt, ich bin doch noch nicht einmal 100…!”
Elfriede Müller hatte in der Tat vor zwei Monaten ihren 96. Geburtstag gefeiert. Seit gut sieben Jahren lebte sie nun schon in diesem Pflegeheim, denn nichts anderes war es, obwohl sie es großspurig Seniorenresidenz nannten. Nach dem Tod ihres Mannes vor acht Jahren hatte sie, trotz all ihrer Proteste, hierher umziehen müssen, weil ihr Mann, der ihr in fast 70 Ehejahren jeden Wunsch von den Augen abgelesen und fast jeden notwendigen Handgriff im gemeinsamen Leben übernommen hatte , sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. So jedenfalls empfand Elfriede seinen Abgang. Sie vermisste ihren Mann noch immer und sie langweilte sich furchtbar, obwohl die Mitglieder ihrer Familie ständig im Wechsel zu Besuch kamen, so dass sie nur wenige Tage in der Woche allein verbrachte. Mit den anderen Heimbewohnern hatte Elfriede nur wenig Kontakt – sie gab sich lieber ihrer Schwermut hin und ersann ständig kleine Lügengeschichten hinsichtlich ihres Gesundheitszustands, um ihre Familie zu bewegen, sie noch öfter zu besuchen. Jedem Gast erzählte sie, wie schlecht es ihr gehe, dass das Leben wirklich nicht mehr schön sei und sie nun endlich sterben wolle. Sie vergaß auch niemals zu erwähnen, dass das aktuelle Treffen sicherlich das letzte sein würde.
“Nein” wiederholte sie “ich werde nicht mitgehen!” Ihre Stimme klang so klar und entschlossen, dass niemand, der sie hörte, auf die Idee gekommen wäre, es handele sich um die Äußerung einer 96-jährigen Frau. Allerdings konnte niemand sie hören, denn sie war ganz allein in ihrem Zimmer… – bis auf den Tod natürlich, der sich jetzt resigniert auf Elfriedes Bett fallen ließ. Mitten in der Nacht war sie aufgewacht und da hatte er ohne jede Vorankündigung neben ihrem Bett gestanden. “Was wollen Sie denn hier?” hatte sie ihn angeherrscht. Mit sanfter und freundlicher Stimme hatte der Tod entgegnet: “Liebe Frau Müller, ich bin gekommen, um Sie abzuholen – wie Sie es sich gewünscht haben.”
“D-das muss eine Verwechslung sein”, stammelte Elfriede. “Ah”, erwiderte der Tod in liebenswürdigem Tonfall, “dann haben Sie Ihren Verwandten wohl nicht erzählt, dass Sie nun baldigst sterben möchten, oder?” Elfriede dachte einen Moment nach und gestand dann zögerlich: “Nun ja, doch, aber… – da habe ich wohl ein bisschen gelogen. Ich will doch jetzt noch nicht sterben: In diesem Heim fühle ich mich wohl, alle kümmern sich um mich und gerade habe ich auch ein paar Freundinnen unter den Bewohnern gefunden”. (Letzteres war natürlich schon wieder gelogen).
Der Tod machte ein ratloses Gesicht und erschien jetzt doch ein wenig ungehalten, als er kopfschüttelnd feststellte: “Nein, nein, Frau Müller, so geht das nicht! Sie haben mich bestellt, hier bin ich, und ich werde Sie mitnehmen. Ein bisschen gelogen zählt für mich nicht.”
Nun fing Elfriede Müller bitterlich an zu weinen – wie immer, wenn sie keine andere Chance sah, ihren Willen durchzusetzen. Tatsächlich schien der Tod so etwas wie Mitleid für die alte Frau zu empfinden, denn er meinte versöhnlich: “Eine Möglichkeit gäbe es allerdings für Sie…”
Auf der Stelle versiegte Elfriedes Tränenfluss. Zwar brachte sie anscheinend keinen Ton heraus, aber ihr erwartungsvoller Blick bohrte sich förmlich in die kalten Augen des Todes. “Nun ja”, begann dieser seinen Vorschlag zu erläutern, “Sie könnten einen Tauschhandel mit mir schließen, indem jemand anderes an Ihrer Stelle stirbt. Derjenige müsste jedoch von Ihnen selbst ausgewählt werden, aus Ihrem näheren Umfeld stammen und mindestens 70 Jahre alt sein. Der Rest der vorbestimmten Lebenserwartung dieses Menschen würde dann Ihnen zufallen.”
Der Tod sah die aufkeimende Hoffnung in Elfriedes Augen, gleichzeitig erwachte jedoch ihr angeborenes (oder später erworbenes) Misstrauen als sie ängstlich hervorstieß: “Aber ich kann doch nicht einfach… – und überhaupt, welche Nachteile oder Risiken birgt das denn für mich?”
“Keine” antwortete der Tod, “allerdings werden Sie nicht wissen, wie viel Lebenszeit Sie sich erkauft haben, schließlich weiß ja kein Mensch wie lange er leben wird. Überlegen Sie gut, denn dieses Angebot mache ich nur ein einziges Mal. Morgen Nacht um die gleiche Zeit komme ich wieder, um Ihre Antwort zu hören.” Damit löste er sich in einen grauen Nebel auf und Elfriede blieb allein zurück.
Für den Rest der Nacht fand sie keine Ruhe mehr, sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und überlegte krampfhaft, wer an ihrer Stelle sterben könnte. Dass sie auch selbst ihr Schicksal annehmen und die anderen Menschen verschonen könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Nein, sie wollte leben. Endlich im Morgengrauen hatte Elfriede ihre Entscheidung getroffen: Ihre Schwiegertochter sollte es sein, die hatte sie niemals leiden können und außerdem hatte die Frau ihres Sohnes allen voran darauf gedrängt, die Schwiegermutter in einem Heim unterzubringen.
In der folgenden Nacht teilte Elfriede dem Tod ihre Entscheidung mit. Dieser murmelte etwas wie “gute Wahl” und verschwand. Als die alte Frau schon einenTag später von der Nachricht erreicht wurde, ihre Schwiegertochter sei plötzlich und unerwartet verstorben, konnte sie nur mühsam Überraschung heucheln. Alles schien in bester Ordnung.
Als dann aber eine Woche später Elfriede in der Nacht erwachte und den Tod erneut an ihrem Bett stehen sah, war ihr Erstaunen echt. “Was denn nun noch, Sie haben doch alles bekommen, was Sie wollten, oder?”zeterte die Alte. “Noch nicht ganz” erwiderte der Tod mit listiger Miene “aber fast, denn diesmal werde ich Sie wirklich mitnehmen, werte Frau Müller. Zum Zeitpunkt unseres kleinen Handels hatte Ihre Schwiegertochter noch genau eine Woche und einen Tag Restlebenszeit auf ihrer Uhr. Heute wäre sie ohnehin gestorben. – Trotzdem werden Sie sich natürlich für den Diebstahl einer Woche Lebenszeit vor dem höchsten Gericht verantworten müssen.” Elfriede gab noch immer keine Ruhe: “Aber Sie haben doch gesagt…”, der Tod fiel ihr ins Wort: “Tja, da habe ich wohl ein bisschen gelogen”. Mit diesen Worten packte er Elfriedes Arm und zog die alte Frau mit sich hinaus in die schwarze Nacht.
Wenige Sekunden später öffnete eine junge Pflegerin (an ihrem ersten Arbeitstag) die Zimmertür und schmetterte fröhlich, wie sie es in der Ausbildung gelernt hatte: “Haben Sie gerufen, Frau Müller?” Sie erstarrte, als sie die leblose Gestalt im Bett entdeckte. Am ersten Tag schon die erste Tote – das kann ja heiter werden…! dachte sie. Dabei hatte man ihr bei der Einstellung versichert, dass es nur selten Tote im Pflegeheim gäbe – die meisten Bewohner würden vor ihrem Ableben ins Krankenhaus verlegt. Tja, da hatte man wohl ein bisschen gelogen.
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