Von Agnes Decker

Behutsam schaukelten die Wellen den leblosen Körper, dann legten sie ihn ab und zogen sich zurück. Der Strand nahm ihn auf, bettete ihn und deckte ihn zu. Nur das blutrote Hemd blitzte ab und zu auf, wenn der Wind den Sand zur Seite wehte.

Es dauerte einen Moment, bis ich aus meinen Gedanken auftauchte und die Umgebung mir zuordnen konnte: den hellen Raum, mittendrin mein Sofa, auf dem ich saß, umgeben von unzähligen Kisten. Gegenüber das Fenster, durch das ich so gerne in die alte Kastanie schaute. Ein paar vergessene Blätter an den Zweigen, die sich wie mit Kohlestift gezeichnet gegen den dunklen Himmel abhoben. Etwas einsam wirkten sie, die Blätter, als warteten sie auf den Windstoß, der sie zu den anderen befördern würde. Der Traum hatte mich noch nicht losgelassen und vermischte sich mit meiner Traurigkeit. Ich vermisste mein Zuhause, obwohl ich es noch gar nicht verlassen hatte. Bis morgen hatte ich noch Zeit, und es gab eine Menge zu tun. Mir gingen allmählich die Kräfte aus – sowohl die körperlichen als auch die mentalen. Wie gerne hätte ich mich auf dem Sofa zusammengerollt und mir die bunte Wolldecke über den Kopf gezogen. 


Das Klingeln, das mich aus meinem Schlummer herausgeholt hatte, wurde dringlicher. Mühsam stand ich auf und ging zur Tür.

„Frau Dahlmann?“ 

„Ja“, antwortete ich den Frauen, die vor mir standen, als ich die Türe öffnete. Die jüngere der beiden hielt mir einen Ausweis hin. „Kriminalpolizei. Dürfen wir hereinkommen?“

„Ja“, sagte ich wieder, weil mir nicht mehr einfiel, trat zur Seite und wies mit der Hand auf die offene Wohnzimmertür.

Ich nahm auf dem Sofa Platz. Die Frauen blieben stehen, mit dem Rücken zum Fenster. Ihre Gesichtszüge verschwammen im Gegenlicht. 

 „Frau Dahlmann, man hat Ihren Mann tot aufgefunden“, begann die Ältere. „Er ist viele Kilometer weit von Ihrem damaligen Ferienort an Land gespült worden.“

Hannes? In meinem Kopf breitete sich ein Nebel aus. Die Stimme der Beamtin klang wie aus weiter Ferne. Dann wurde es dunkel. Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Sofa, ein Schlauch hing aus meinem Arm heraus. Zwei Männer in roter Kleidung standen neben den Polizistinnen. 

„Da sind sie ja wieder, Frau Dahlmann. Sie sind ohnmächtig geworden. Wir haben den Notarzt gerufen“,  sagte die ältere der beiden Frauen.

„Danke, es geht schon wieder“, antwortete ich, obwohl ich mir nicht sicher war. Sicher war für mich nur, dass ich wissen musste, was mit Hannes passiert war. Ich richtete mich langsam auf und schwang die Beine auf den Boden: „Wo ist er? Kann ich ihn sehen?“

Die beiden Frauen schauten sich an. „Nein, er ist noch nicht überführt und selbst dann…“. Die jüngere schüttelte den Kopf. 

„So, wir sind dann mal weg. Sie ist wieder stabil. Sie sollte etwas trinken und nicht alleine bleiben“, sagte einer der  beiden Männer, während der andere zusammenpackte, und zu mir gewandt: „Machen Sie langsam, junge Frau. Und alles Gute und viel Kraft.“ Dann verließen sie den Raum.

Mir war es, als befände ich mich in einem Film, würde zuschauen, mir und den anderen. Mein Arm schmerzte und ich fuhr mit der Hand über das Pflaster. Der Schmerz holte mich zurück in die Realität und zu den beiden Frauen, die auf irgendetwas zu warten schienen.

„Frau Dahlmann?“ 

„Ja“, sagte ich, und wünschte mir gleichzeitig, dass sie mich alle alleine lassen würden, einfach in Ruhe. 

„Frau Dahlmann, es gibt noch etwas.“ Die ältere Polizistin räusperte sich. „Ihr Mann, also der Tote, der gefunden wurde, heißt nicht Hannes Dahlmann. Und er ist auch nicht verschwunden, damals in dem Urlaub in Cornwall.“

Was sagte sie da? So ein Unfug. Ich war doch dabei, weiß doch genau wie es war, als wir ankamen an dem Haus auf den Klippen. Wie Hannes mir liebevoll seine Hand auf die Schulter gelegt hatte und sagte, er gehe schon mal den Garten besichtigen, während ich mich im Haus umschauen könne. Was hieß das, „nicht verschwunden“? Es war doch das letzte Mal, dass ich ihn sah. 

„Frau Dahlmann, hören Sie mir zu?“

„Ja, nein… . Was meinen Sie damit, er heißt nicht Hannes Dahlmann? Ich bin mit ihm verheiratet und ich muss es doch am besten wissen.“ Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief. 

„Er“ – die Frau stockte und schaute mich an – „er heißt eigentlich Armin Bauer und hat eine Familie in St. Ives. Eine Frau und zwei Töchter.“

Ich dachte im ersten Moment, die Polizistin wäre verrückt geworden oder wolle mich veralbern, obwohl man über so etwas keine Scherze machen sollte. „Das muss ein Irrtum sein. Wir waren erst seit einem halben Jahr verheiratet, fast noch in den Flitterwochen. Hannes liebt mich, Entschuldigung, hat mich geliebt.” Ich rieb mit der Handfläche über mein Gesicht. Es war nass und meine Augen brannten wie Feuer.” Geliebt“, schrie ich, damit sie es endlich kapieren.

„Frau Dahlmann.“ Die jüngere Polizistin setzte sich neben mich. Sie hatte eine sanfte Stimme und roch nach Zimt und Blüten. 

„Frau Dahlmann“, wiederholte sie, „der Mann, mit dem sie verheiratet sind, führte ein Doppelleben. Haben Sie sich nichts dabei gedacht, wenn er immer wieder längere Zeit auf eine sogenannte „Dienstreise“ ging? Hatten Sie nie einen Verdacht?“

„Nein“, sagte ich. Warum sollte ich auch einen Verdacht haben? Hannes hatte einen Managerposten bei einem großen Konzern, da waren Auslandsreisen doch nichts Besonderes. „Wir waren sehr harmonisch miteinander. Unsere Freunde sagten immer, wir wären der Zwilling des jeweils anderen, so sehr würden wir uns ergänzen“, stammelte ich. 

„Frau Dahlmann, sagt Ihnen der Name Peter Braun etwas?“

„Peter, ja, ich erinnere mich. Das war doch der Mitarbeiter der Ferienhausvermietung, der mir bei der Ankunft das Haus gezeigt hat.“

„Wussten Sie, dass die beiden sich kannten?“ 

„Hannes und Peter? Sich kannten? Peter war doch so eine Art Aussteiger, der in seinem alten VW-Bus lebte und Gelegenheitsjobs annahm. Woher sollten sie sich kennen? Hannes hatte nie von ihm erzählt. Aber, was wusste ich schon über Hannes? Ich hatte nie jemanden kennengelernt, weder Freunde noch Kollegen, niemand aus seiner Familie. „Nur wir sind wichtig und das, was heute ist“, sagte er, wenn ich ihn fragte.“  In meinem Kopf drehte sich alles. Ich sollte aufwachen. Das konnte doch alles nur ein Traum sein, so wie der von der Leiche, die an den Strand gespült wurde.

„Frau Dahlmann. Ich weiß, das ist alles schwer für Sie. Aber ich muss es Ihnen sagen. Die beiden haben sich eine Zeitlang eine Gefängniszelle geteilt.“

„Hannes? Im Gefängnis? Was reden Sie da? Sind Sie sich überhaupt sicher, dass es Hannes ist? Der Tote?“ Bestimmt hatten sie sich geirrt. Das Meer und die Klippen konnten einen Leichnam verändern. Das wusste ich aus den Krimis, die wir uns gerne gemeinsam angeschaut hatten.

„Es tut mir leid, Frau Dahlmann, aber seine englische Ehefrau hat ihn eindeutig identifiziert.“ Das war wieder die jüngere Frau. „Sie hat auch zu Protokoll gegeben, dass  Peter Ihren Mann erpresst hat. Vermutlich hat Ihr Mann ihn deshalb erschlagen und von der Klippe gestürzt.“ 

„Hannes ist… nein, war ein liebevoller, fürsorglicher Mann. Er könnte nie jemanden verletzen. Hannes doch nicht.“ Ich hörte mich schreien, als ob die Lautstärke auch die Wahrheit verstärken könnte. Eine Familie in England. Hannes, ein Mörder. Was für ein Unsinn.

„Können Sie sich vorstellen, warum er Sie mit nach England genommen hat, Frau Dahlmann?“

„Mich? Wir waren, wie gesagt, fast noch in den Flitterwochen, hatten einen romantischen Urlaub geplant. Ich wollte schreiben und er sich Gärten anschauen. Er interessierte sich für englischen Gartenbau. Gemeinsam wollten wir wandern, schwimmen, die Einsamkeit genießen.“ In meinem Hals war ein dicker Klumpen. Hannes, warum kommst du nicht und klärst alles auf? Warum sagst du Ihnen nicht, dass ich deine ganz, ganz große Liebe bin. So, wie du es mir täglich gesagt oder gezeigt hast. 

„Frau Dahlmann“, die ältere Polizistin drückte mir ein Glas in die Hand. „Wenn es Ihnen zu viel wird, machen wir eine Pause.“ Eine Pause? Zu viel? 

„Frau Dahlmann?“ 

Das Wasser lief eiskalt meine Speiseröhre herunter. „Ja, machen Sie weiter. Und, was meinen Sie, warum hat er mich mitgenommen dorthin?“ Ich hörte meine eigene Stimme, die plötzlich hart war und spitz.

„Sie hatten eine gegenseitige Lebensversicherung abgeschlossen, richtig?“

„Lebensversicherung? Ach ja, klar, hatten wir. Das tut man doch so, wenn man heiratet.“ 

„Es tut mir leid, Frau Dahlmann. Ihr Mann hatte es auf ihr Vermögen abgesehen.“ 

Was sollte das alles? Wollte sie damit etwa…? Jetzt reichte es. Was unterstellten sie ihm? Sie kannten ihn doch gar nicht.

„Auch das hat seine englische Ehefrau ausgesagt. Sie war in seine Pläne eingeweiht. Es war gut, dass Sie abgereist sind, Frau Dahlmann. Das hat Ihnen das Leben gerettet.“ 

„Ich musste so schnell abreisen. Meiner Mutter ging es schlecht. Ein Schlaganfall. Und ich hätte ja auch dort nichts mehr tun können. Sie hatten alles abgesucht und ihn nicht gefunden.“ Das soll mir jetzt das Leben gerettet haben. Und ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, als ich abreiste. Dachte, ich hätte Hannes im Stich gelassen. Aber ich musste doch zurück. Mama brauchte mich. „Wie“, stotterte ich, „wie ist er eigentlich gestorben. Hannes, meine ich. Wie?“

„Das wissen wir noch nicht. Die Ermittlungen laufen noch. Können Sie bitte morgen ins Präsidium kommen und das Protokoll unterschreiben?“

„Ja“, sagte ich. „Der Umzugswagen kommt erst am Nachmittag. Die Wohnung ist zu groß für mich alleine wissen Sie.“

„Es ist bestimmt das Beste. Wir melden uns, wenn wir neue Informationen haben.“

Ich  nickte und schaute zum Fenster. Die Blätter waren abgefallen, hatten dem Wind nicht standgehalten, sich zu den anderen gesellt. Jetzt war sie kahl, die alte Kastanie. Morgen würde sie nur noch Erinnerung sein, so wie alles hier. Mir war kalt.

„Was soll ich tun“, fragte ich die beiden Frauen. Was?“

„Können wir irgendjemanden anrufen?“

Ja, Hannes, wollte ich sagen, schluckte es aber schnell herunter. Hannes war tot, tot und er hatte mich nie geliebt. Sagen sie. 

Aber ich wusste es besser.

 

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