Von Angelika Brox

„Ich kann nicht mehr.“
Besorgt sah Jürgen sie an. „Geht’s dir nicht gut? Du bist schon den ganzen Tag so still.“
Seufzend legte Vera ihr Besteck auf den halb geleerten Teller.
„Ach …“ Sie schluckte. „Es ist nur … Na ja, heute ist unser letzter Abend.“
Jürgen ergriff ihre Hand und lächelte sein warmes Lächeln, das sie so mochte. Auch nach vierzig Ehejahren.
„Wirklich schade, dass es vorbei ist“, meinte er.
Vera drückte seine Hand. Unter normalen Umständen hätte er niemals eine Kreuzfahrt unternommen. Er fand das zu teuer, zu luxuriös. Deshalb hatte sie ihm erzählt, sie hätte die Tickets bei einem Preisausschreiben gewonnen. Einmal unterwegs, gefiel ihm die Reise sogar besser als erwartet.
„Sollen wir in die Bar gehen?“, fragte er. „Hast du Lust zu tanzen?“
Vera unterdrückte einen Hustenreiz.
„Lass uns lieber unseren Wein mit ins Zimmer nehmen“, schlug sie vor. „Ein bisschen aufs Wasser gucken.“
Er stand auf und hielt er sich für einen Moment an der Stuhllehne fest, bis er sein Gleichgewicht fand.
„Man wird nicht jünger“, brummte er.
Vera dachte daran, wie er früher mit den Kindern am Strand um die Wette gerannt war.
Sie nahmen die angebrochene Weinflasche und zwei Gläser mit in ihre Kabine und setzten sich auf den kleinen Balkon.
Vera genoss das Gefühl von grenzenloser Freiheit. Das Schiff glitt über den weiten Ozean, die Sonne glitzerte auf den Wellen, der Himmel färbte sich rot.
Jürgen goss Wein in ihre Gläser. Einige Tropfen gingen daneben. In letzter Zeit war er manchmal ein wenig ungeschickt. Vera tat so, als würde sie nichts bemerken.
„Mist“, murmelte er. „Irgendwas stimmt mit meiner Brille nicht.“
„Zu Hause gehst du bitte gleich zum Augenarzt!“
„Und du zum HNO! Dein Husten dauert mir schon viel zu lange.“
Sie hob ihr Glas, prostete ihm zu und trank einen kräftigen Schluck. Für das, was sie nun tun musste, brauchte sie all ihren Mut.
„Weißt du noch“, begann sie, „wie du früher jeden Morgen beim Frühstück die Brötchen durchgeschnitten und mir die obere Hälfte gegeben hast?“
Jürgen lachte. „Klar erinnere ich mich. Irgendwann hast du vorsichtig angefragt, ob du auch mal die untere Hälfte bekommen dürftest. Und ich hatte die ganze Zeit geglaubt, du würdest die obere Hälfte lieber mögen.“
Sie fiel in das Lachen ein. „Dabei stimmte das gar nicht. Du hattest völlig umsonst verzichtet.“
Er schmunzelte. „Von da an konnte endlich jeder das essen, was er am liebsten mochte.“
Sie wurde ernst. „Daraufhin haben wir uns geschworen, uns immer die Wahrheit zu sagen.“
„Und daran haben wir uns gehalten …“ Jürgen runzelte die Stirn und blickte sie forschend an. „Oder?“
Entschlossen leerte Vera ihr Glas, gab sich innerlich einen Ruck und dachte: Jetzt!
Sie richtete ihre Augen auf den Horizont, als sie weitersprach.
„Ja, ich habe mich daran gehalten … bis vor Kurzem … Ehrlich gesagt, habe ich diese Kreuzfahrt gar nicht gewonnen, sondern selbst gebucht. Weil … Ich wollte eine schöne Erinnerung für uns schaffen … also, eigentlich für dich.“
Sie blickte ihn von der Seite an. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl und hob fragend die Augenbrauen.
„Weiter!“, forderte er sie auf. Seine Stimme klang rau.
Veras Magen zog sich zusammen. Die Wahrheit tat weh.
„Es ist nämlich so … Ich war ja neulich zur Nachsorge und habe dir hinterher erzählt, es wäre alles okay …“
„Aber?“
Sie räusperte sich. „Die Brust ist in Ordnung, das stimmte wirklich, aber sie haben Metastasen in der Lunge gefunden.“
„Ach du Scheiße! Und jetzt? Wieder die ganze Prozedur?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das will ich nicht mehr. Vor unserer Abreise habe ich mich bei einer Sterbehilfe-Organisation angemeldet.“
Vera atmete tief durch. Endlich hatte sie es ausgesprochen.
Heftig knallte Jürgen sein Glas auf den Tisch. Wein schwappte über den Rand.
Sie zuckte zusammen.
„Und das alles hast du mit dir rumgeschleppt, ohne mir ein Wort zu sagen?“, rief er. „Ich fasse es nicht!“
„Tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich wollte erst noch eine unbeschwerte Reise mit dir erleben.“
Er sprang auf und klammerte sich an das Geländer, als wollte er es abreißen.
„Was soll ich denn ohne dich?“, fragte er. „Den Kindern zur Last fallen? Mich vorm Fernseher betrinken?“
Sie trat neben ihn. Der Wind blies salzige Luft heran, die Sonne war fast versunken.
„Wir haben noch Zeit“, tröstete sie. „Vorher verlangen sie jede Menge Gutachten.“
„Ach Mensch, Vera …“
Jürgen streichelte ihre Wange. Sie sah Tränen in seinen Augen.
„Ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Moment ist“, sagte er leise. „Wahrscheinlich kommt der sowieso nie. Doch wenn wir uns schon mal gegenseitig beichten …“
Er verstummte, hob Schultern und Arme und ließ sie wieder sinken. Vera versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, und hielt den Atem an.
„Dass ich manchmal stolpere“, fuhr er fort, „oder etwas umwerfe … das liegt nicht an der Brille. Ich war beim Neurologen … Es sind die ersten Symptome von ALS.“
„Oh nein!“
Nun liefen bei ihr ebenfalls die Tränen. Auch er hatte eine Last geschleppt, ohne sie mit ihr zu teilen.
Seite an Seite standen sie an der Reling und starrten in die Tiefe.
Vera wurde schwindlig.
„Puh“, sagte sie und schüttelte sich.  „Da stehen wir hier und machen das Meer nur noch salziger.“
„Du hast recht.“ Er schniefte. „Trauern hilft uns nicht weiter.“
„Weißt du, was wir tun sollten?“, sagte Vera. „Wir bestellen uns Champagner und feiern unsere schöne Reise.“
„Und dann …?“
„Und dann …?“
„Und dann …“





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