Von Marianne Apfelstedt
Leise schloss er die Tür. Er genoss das Gefühl, auf ihrem Stuhl zu sitzen. Maurice sah ihr Gesicht vor sich, das kurze, braune Haar, das sich um den klugen Kopf schmiegte. Die Augen, die ihn immer verächtlich anblickten, und vor allem ihr Mund, der Worte ausspie, spitzer als ein Dolch, und immer zu Kritik bereit war. Für eine Frau war sie ganz schön eigenwillig und unabhängig. Dabei dachte er, als sie ihm vorgestellt wurde, sie könnte eine gute Assistentin abgeben.
Wie erwartet entdeckte er in der obersten Schublade ihres Schreibtisches, ein Notizbuch. Ihr Notizbuch. Da er wusste, wann die „Fotografie Nr. 51“ entstanden war, fand er schnell ihre Notizen von diesem Tag. Die Schlussfolgerungen, die sie notiert hatte, waren brillant. Ihre akribische Schrift bedeckte Seite um Seite. Nach geraumer Zeit hatte er das Wesentliche in sein eigenes Notizbuch übertragen.
Eilig lief er durch die Gänge des ehrwürdigen King’s College. Das Gebäude verströmte eine eigenwillige Mischung aus altem Papier, Bohnerwachs und Staub. Die Gemälde an den Wänden, Bilder von intelligenten und reichen Männern des Landes in der Forschung vereint, schienen ihm zuzunicken. Eines Tages würde sein Bildnis an diesen Wänden hängen.
Zurück an seinem Schreibtisch, strukturierte er seine Gedanken, um einen Brief an Francis Crick und James Watson aufzusetzen, in dem er ihnen Franklins neueste Erkenntnisse mitteilte. Schon am nächsten Tag schickte er diesen Brief an die Wissenschaftler in Cambridge.
„Hast du den Brief von Wilkins gelesen, er liegt auf meinem Schreibtisch?“, fragte Watson seinen Kollegen Crick.
„Ja, sogar mehrfach.“
„Da Rosalind Franklin einen Aufsatz zum Fortschritt ihrer Arbeit geschrieben hat, muss sie inzwischen Beweise für ihre Theorie haben.“
„Da stimme ich dir zu. Nur verstehe ich ihre Schlussfolgerungen nicht. Sie arbeitet akribisch und würde ihre Thesen sicherlich mit Belegen untermauern.“
„Ich werde Wilkins besuchen und auch Franklin, vielleicht kann ich einen Blick auf ihre Fotografien werfen. Das könnte uns nützlich sein.“
Nach dem Vortrag von Rosalind Franklin wartete Watson ab, bis die Studenten den Hörsaal verlassen hatten.
„Guten Tag, Rosalind. Bist du sicher, dass deine Studentinnen deinem Vortrag über die Röntgenanalyse folgen konnten? Bei den meisten schien mir das nicht der Fall zu sein.“
„Sie sind durch meine Vorträge durchaus in der Lage sich weiterzuentwickeln, ob das auch auf dich zutrifft, musst du selbst entscheiden. Was führt dich hierher? Benötigst du wieder eine Expertise für ein neues Modell zur Struktur der DNA?“ Diesen Seitenhieb auf die Niederlage durch die Expertise von Rosalind zu seinem letzten Modell, das sie als Fehlkonstruktion enttarnt hatte, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Wie er die scharfe Zunge dieser Frau hasste. Seine Mundwinkel führten ein Eigenleben. Er schaffte es nicht, eine gute Miene aufzusetzen, doch er hoffte auf ihr Entgegenkommen, deshalb lief er ihr eilig hinterher, als sie den Hörsaal verließ.
„Da ich nachher ein Gespräch mit Wilkins habe, dachte ich, ich begleite dich in dein Labor. Möchtest du mir deine letzten Fotografien zeigen? Wir können unser Wissen austauschen“, sprach er zu ihrem Rücken. Im Labor angekommen, setzte sich Rosalind an den einzigen Stuhl an ihrem Schreibtisch, und ignorierte den Mann, der ihr gefolgt war. Watson entdeckte auf einem Labortisch verschiedene Fotografien und nahm sich wahllos eine, um sie zu studieren.
„Ich habe dich nicht eingeladen, da ich wichtige Arbeiten zu erledigen habe.“ Breitbeinig, wie ein Mann stand sie vor ihm und nahm ihm das Foto ab. Er setzte gerade zu einer Erwiderung an, als Wilkins sich zu ihnen gesellte.
„Mein lieber Watson, es freut mich ganz außerordentlich, dass sie uns besuchen. Bitte kommen Sie doch mit in mein Büro, dort können wir uns ungestört unterhalten.“ Franklin beachtete er nicht. Um sich vor dem Laborleiter des Instituts keine Blöße zu geben, folgte Watson ihm, ohne ein weiteres Wort an Franklin.
Auf dem Weg zum Büro tauschen sich die beiden Männer über Kollegen aus der Wissenschaft aus. Unter sich, hinter verschlossenen Türen, kamen sie auf den Kern der gemeinsamen Interessen zu sprechen.
„Werter Kollege, danke für ihren Brief. Ist es vielleicht möglich, die Originalnotizen einzusehen, damit ich meine eigenen Schlüsse daraus ziehen kann?“
„Leider nicht, aber ich habe etwas viel Interessanteres für Sie.“ Mit strahlendem Lächeln übergab er Watson eine Fotografie. Diese trug die Nummer 51. Als dieser das Bild betrachtete, blieb ihm der Mund offen stehen und sein Puls beschleunigte sich.
„Das Muster ist offensichtlich. All meine bisherigen Berechnungen gingen in die falsche Richtung. Kann dieses Bild die Lösung sein?“ Beide beugten sich über einen Notizblock, als Watson in kurzer Zeit mit Berechnungen die Anzahl der Ketten im Molekül festlegte. Anschließend genehmigten sie sich einen Sherry und eine Zigarre, um diesen besonderen Moment auszukosten.
Zurück in Cambridge setzte er sofort seinen Kollegen Crick ins Bild.
„Als ich das Foto 51 sah, erschloss sich mir die Strukturen aus ihren Notizen, die Wilkins uns in seinen Briefen mitgeteilt hatte. Lass uns ein neues Modell der DNA erstellen, wir benötigen nur die Stränge A und B.“
„Dann lass uns gleich beginnen, jetzt wo sich die Teile des Puzzles zusammenfügen, können wir den Vorsprung nutzen, den uns ihre Unterlagen verschafft haben.“
„Genau, mit etwas Glück lösen wir das Rätsel als Erste.“ Wilkins war in seinem Element und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, wem er dieses Vorwärtskommen zu verdanken hatte.
1953
„Liebe Kollegen!“ Theatralisch strich er sich das Haar aus der Stirn. Er wartete, bis auch der Letzte im Festsaal des King’s College sich ihm zuwandte.
„Ich freue mich außerordentlich über die Veröffentlichung im Wissenschaftsjournal Nature. Wir haben das Geheimnis der DNA entschlüsselt. Gemeinsam mit den Wissenschaftlern Crick und Watson von der Universität Cambridge. Sie entwarfen das Modell der spiralförmigen Leiterhelixstruktur. Dies war ihnen nur möglich, weil sie durch die Fotografie Nr. 51, die in unserem Labor aufgenommen wurde, den Aufbau des Moleküls entschlüsseln konnten. Ich bin sehr stolz auf unsere erfolgreiche Zusammenarbeit.“ Wilkins schüttelte an diesem Abend viele Hände und er bestritt nie, dass ein wesentlicher Teil des Erfolgs ihm zu verdanken war. Franklin, die inzwischen ein eigenes Labor im Birkbecks College leitete, und ihr Mitwirken erwähnte er mit keiner Silbe.
Auch in Cambridge wurde gefeiert.
„Auf dein Wohl! Wir haben es geschafft.“
„Das Foto in der Ausgabe des Wissenschaftsjournals mit unserem Modell der Doppelhelix macht mich unheimlich stolz auf unseren Erfolg.“ Der Rauch ihrer kubanischen Zigarren zog gemächlich zur Decke, als Crick seinem Kollegen einen weiteren Bowmore eingoss.
„Ich bin immer noch der Meinung, wir hätten in dem Artikel Franklin erwähnen sollen, immerhin …“ Watson fuhr ihm ins Wort.
„Wegen dieser Notizen musst du dir nicht den Kopf zerbrechen und die Fotografie ist im Besitz des College, ihr Name ist nicht wichtig.“ Vom Erfolg und dem Whisky beschwingt folgte Chrick seinem Kollegen in den großen Saal, wo ihr Modell aufgebaut war und weitere Gäste zusammengekommen waren.
1962
„Der diesjährige Nobelpreis für Physiologie und Medizin wird an Francis Crick, James Watson und Maurice Wilkins verliehen, für ihre Entdeckung der spiralförmigen Leiterhelixstruktur der DNA und ihrer Rolle bei der Vererbung.“
© Marianne Apfelstedt, Version 1, 7496 Zeichen