Von Armin Kahn

 

 Ich war 13 oder vielleicht 14 Jahre alt und verkehrte beinahe täglich im Jugendclub der jüdischen Gemeinde. Ich hatte vorher nie etwas mit Religion zu tun gehabt, außer in der Schule im Religionsunterricht. Aber ich war beinahe  nie vorher in einer Kirche zum Gottesdienst gewesen, außer in einem Kinderheim-Urlaub mit acht Jahren, weil ich musste. Fand ich aber sehr langweilig.

 Meine ältere Schwester hatte einen jüdischen Verlobten und unser Vater war auch jüdischer Abstammung, wir Kinder waren sozusagen „Vierteljuden“. Peter, dieser Verlobte, empfahl mir diesen Jugendclub der Jüdischen Gemeinde, wo er auch viele Jahre nachmittags nach der Schule gewesen war. Also ging ich mal hin, um zu sehen, was es dort zu erleben gab.

 Ich war vom ersten Besuch an total begeistert. Alle waren ausgesprochen freundlich, umgänglich, hilfsbereit und für mich sehr interessant. Ich lernte viele etwa Gleichaltrige kennen und schloss bereits nach recht kurzer Zeit Freundschaften, traf mich auch mit Einigen privat. Ich fühlte mich dort rundum wohl und sehr gut aufgehoben.

 Nur was das Religiöse anbetraf, hatte ich keine Ahnung. Aber die anderen Jugendlichen waren geduldig, erklärten mir alles, was man als Jude so wissen muss. Was eine Mesuse an der Tür bedeutet, welche Feste es gab und wie man sie feiert, was man am Sabbat darf und was nicht. Auch was koscher essen ist, lernte ich. Ich sog alles begierig auf, wie ein trockener Schwamm. Nur zum Gottesdienst am Freitag Nachmittag, wenn mit Einsetzen der Dunkelheit der Sabbat beginnt und alle in die Synagoge liefen, dann ging ich nach Hause. 

 Im Lauf der Zeit begann mich das zu stören, ich fühlte mich zu der Gruppe nicht voll zugehörig, sondern nur teilweise. Ich hatte auch keinerlei Hebräisch-Kenntnisse, alle anderen schon.

 Ich beschloss, ein „richtiger“ Jude zu werden und fragte einen der Betreuer, was ich denn machen müsste, um wirklich dazu zu gehören und ein Jude zu sein. Fredi, der Betreuer, was dort Madrich genannt wurde, erklärte mir, dass ich dafür zu Herrn Katz gehen müsste. Der sei zuständig und sein Büro wäre im Vorderhaus im zweiten Stock. Ich ging natürlich, fest entschlossen, mein Leben von heute an komplett zu verändern, dorthin und klopfte an seine Bürotür.

 Herr Katz war ein beleibter Mann von rund 60 Jahren mit einer Kippa auf dem schütteren Haar, hatte aber einen gewaltigen Bart und sehr eindrucksvolle Augenbrauen, die er mit seiner Mimik kräftig bewegen konnte. Ich trug ihm mein Anliegen vor und er schaute mir tief in die Augen. „Wer in Eurer Familie ist jüdisch? Mutter oder Vater?“ fragte er als erstes. „Mein Vater“, sagte ich beklommen. „Ist er in der Kille?“ kam als Nächstes. Kille ist die Bezeichnung für die jüdische Gemeinde. „Nein“ sagte ich wahrheitsgemäß. Er nickte bedächtig. „ Bist Du beschnitten?“ war seine nächste Frage, die ich mit Kopfnicken beantwortete und dazu erläuterte „Ich war mit drei Jahren im Krankenhaus wegen einer Vimose!“ Jetzt gingen die buschigen Augenbrauen von Herrn Katz in die Höhe. „Das hat also kein Rabbiner gemacht?“ vergewisserte er sich bei mir. Ich schüttelte den Kopf. „Dann muss ich mir das ansehen, nachschauen, ob das auch richtig gemacht wurde!“ schloss er seine Beurteilung. „Jetzt? Hier?“ stammelte ich ängstlich. Herr Katz nickte, die Augenbrauen waren jetzt ganz tief, dicht über den Augen. Ich lief rot an, schluckte heftig, öffnete dann aber doch  die Hose, ließ sie bis zu den Knien herunter und zog dann auch die Unterhose herunter. Herr Katz schaute über seine schmale Lesebrille, die  auf seiner Nasenspitze ruhte, an mir herunter. Dann schüttelte er ganz leicht den Kopf und deutete mit einer Handbewegung an, dass ich mich wieder bedecken könnte. „Also, das ist nicht richtig durchgeführt worden. Medizinisch ist das alles korrekt, aber Du müsstest dazu ins jüdische Krankenhaus und dann wird das dort richtig ausgeführt. Das sind nur zwei, drei Tage, dann kannst Du wieder nach Hause. Und dann reden wir wieder, wie es weiter geht.“ Damit ließ er mich stehen und schaute wieder in seine Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.

 In meinem Kopf drehte sich alles, ich sollte ins Krankenhaus, um mir meine Vorhaut nochmal beschneiden zu lassen? Mein Mund wurde plötzlich komplett trocken und ich war in dieser Sekunde wirklich nicht mehr so sicher, ob ich  Jude werden wollte. „Ich überlege mir das dann noch!“ sagte ich zum Abschied von Herrn Katz und verließ sein Büro. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht ein wenig grinste, als ich mich beim Schließen der Tür noch einmal umdrehte und ihn dabei unbeabsichtigt noch einmal kurz ansah.

                                                        ***

 Diese Lüge von Herrn Katz war das Schlaueste, was mir jemals passiert ist. Er hatte genau erkannt, dass ich nicht wirklich den notwendigen Glauben hatte und eine elegante und gleichzeitig wirksame Begründung gefunden, um mein Ansinnen abzulehnen.

 

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