Von Miklos Muhi
Die Terrassen der Gaststätten und Kaffeehäuser waren spärlich besetzt. Man bevorzugte es, im Inneren zu sitzen, wo die Klimaanlagen ratterten und dafür sorgten, dass es draußen wärmer wurde.
Charlie war der einzige Fußgänger auf dem Hauptplatz.
Auf seinem Rücken flossen Schweißbäche, die in seiner Unterhose versickerten. Die, die seiner Oberschenkel entsprangen, sogen seine Bermudashorts auf. Manche fanden ihren Weg zum Unterschenkel, wo sie verdampften.
Das ungewohnte Klappern seiner Schritte und die Schmerzen in seinen Sprunggelenken waren seinem Wohlbefinden wenig zuträglich.
*
Das Ganze fing in der Dorfschule an, die er vor vielen Jahren besuchte, genauer gesagt beim Sportunterricht und in den Pausen.
Jungs spielten Fußball, meinte man. Charlie hatte nicht vor, diese nicht gänzlich falsche Erwartung zu erfüllen. Rennerei und Rauferei, um einen Ball zu treten, hatten nie sein Interesse geweckt. Begriffe wie Abseits, Elfmeter, Foul und ähnliche sagten ihm nichts.
Teamsport war nicht so seine Sache.
Später im Gymnasium, wo alle Jungs aus seiner Klasse im Sportunterricht Fußball zu spielen hatten, lernte er, wofür man die rote Karte bekam. Er scheute es nicht, sein für seine Klassenkameraden schmerzhaftes Wissen einzusetzen. Der Sportlehrer war davon nicht begeistert. Ein Halbjahr lang versuchte er, mit Herumschreien und Strafen Charlie umzustimmen. Dann gab er auf.
Bestraft wurde Charlie mit Kniebeugen, Liegestützen und anderen Leibesübungen. Diese bildeten eine ausgezeichnete Basis für Sportarten, denen er außerhalb der Schule leidenschaftlich nachging.
Der als WM oder EM bezeichneter Wahnsinn, der alle zwei Jahre über das Land schwappte, ging an ihm spurlos vorbei.
Seine Unfähigkeit, sich in Teams zu integrieren, stellte am Anfang seiner Karriere ein Problem dar. Er erkannte, dass nicht alle IT-Jobs Teamarbeit verlangten, und spezialisierte sich dementsprechend.
*
Das Jahr 2024 brachte einen Tsunami von Kündigungen bei der Firma, für die er arbeitete. Das Management war nicht bereit, anzuerkennen, dass deutlich bessere Stellenangebote anderer Firmen die Ursache dafür waren.
Nein, der fehlende Teamgeist war das Problem. So setzten sich die ausgezeichnet bezahlten Leiter der Marketingabteilung, die nach Charlies Ansicht mit schweren geistigen Herausforderungen zu kämpfen hatten, zusammen und erarbeiteten einen Plan. Dieser wurde während einer Veranstaltung, für die extra ein Kinosaal angemietet wurde und bei der Anwesenheitspflicht für alle Mitarbeiter bestand, verkündet.
Ein Mal pro Monat würde ein sogenanntes Team Event stattfinden. Dieses würde von der Firma finanziert und als Arbeitszeit gelten. Außerdem organisierte man Public Viewings für die EM-Übertragungen. Alle, die nicht krankgeschrieben oder im Urlaub waren beziehungsweise kein Ticket für das Spiel vorlegten, waren verpflichtet, teilzunehmen.
Charlie betrachtete Team Events und Public Viewings und die dazugehörige Sauferei als Zeitverschwendung. Diese Ansicht wurde weder von seinen Kollegen noch von seinen Vorgesetzten geteilt, so hatte er an einem lauen Frühlingsabend einige Bewerbungen verschickt. Diese Aktion brachte ihm ein ausgezeichnetes Stellenangebot ein.
Seine Kündigungsfrist lief nach den Public Viewings ab. So fuhr Charlie ins Büro, um sich das Spiel Schottland gegen die Schweiz anzusehen.
Schon beim Anpfiff standen einige Kollegen wackelig auf den Beinen. Am Ende der ersten Halbzeit waren viele unfähig, verständlich zu sprechen. In der Pause rannten manche auf die Toilette, um die beachtliche Mengen an Bier, Doppelkorn und billiger Grillwürstchen, bezahlt von der Firma, wieder freizugeben.
Charlie hätte sich für die Zeit zahlreiche spannendere Verwendungen vorstellen können, zum Beispiel im Stadtpark zu sitzen und zuzusehen, wie das Gras wuchs.
Während der zweiten Halbzeit stand er auf, um seine Beine zu vertreten. In dieser Entscheidung spielte seine Vermutung, dass Rüdiger von der Buchhaltung, der zu seiner Rechten saß, bald an der Reihe mit dem Freigeben war, eine bedeutende Rolle.
Er eilte zum Besprechungsraum 215. Dieser war schall- und blickdicht und wurde benutzt, um sensible Informationen zu besprechen. Ein idealer Ort, um ein bisschen Ruhe zu bekommen.
Charlie steckte seine Karte ins Lesegerät, öffnete die Tür und trat ein.
Aus dem geplanten Alleinsein wurde nichts.
Auf dem langen Tisch in der Mitte des Raumes gaben sich Holger, der HR-Chef und Petra, die Ehefrau des CEOs der körperlichen Liebe hin. Sie bemerkten ihn erst, nachdem das Akt zum Ende kam.
»Kannst du nicht klopfen?«, schrie Holger, während die beiden ihre Blöße zu bedecken versuchten. Mit den zur Verfügung stehenden Bürostühlen, Netzwerk- und Verlängerungskabeln und mit eingeschweißten Blättern, die die Technik im Raum beschrieben, gestaltete sich das Ganze komisch. Charlie lachte auf.
»Ich werde dich feuern lassen!«, schrie ihn Petra an, während sie ihren für ihr Alter und ihre Figur zu kurzen Rock nach unten zog.
»Ich habe vor Monaten gekündigt«, sagte Charlie und lachte weiter. »Jetzt raus mit euch, ich will hier ein bisschen Ruhe haben!«
»Ich weiß, dass du gekündigt hast« sagte Holger, sobald er seine Hosen wieder anhatte. »Ich vermute, dass du ein Zeugnis haben willst. Ist das so?«
»Ihr müsst mir eins geben«, meinte Charlie. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus.
»Was darin steht, ist nicht vorgeschrieben. Auf den Inhalt kommt es jedoch an.«
»Drohst du mir? Ich kann den CEO anrufen und …«
»Er wird dir nicht glauben«, warf Petra ein.
»Und selbst wenn er dir glaubt …«, sagte Holger, ohne die Absicht, den Satz zu beenden. Das war nicht nötig.
Charlie schwieg.
»Wir machen es folgendermaßen: Du schweigst und ich gebe dir ein korrektes Zeugnis an deinem letzten Tag. Du bekommst es an der Tankstelle am Danziger Platz ausgehändigt. Und damit du nicht vergisst, dass wir Stillschwiegen vereinbart haben, startest du am Hauptplatz und …«
Die von Holger und Petra gemeinschaftlich vorgetragenen Anforderungen gefielen Charlie nicht, doch stimmte er zu und ließ die beiden allein.
Mit einem negativen Zeugnis hatte er keine Chancen, die Probezeit bei seiner neuen Arbeitsstelle zu überstehen. In dieser Hinsicht hatte Holger recht. Doch es gab mehr als einen Weg, eine Kuh zu häuten, wie man das in Amerika sagte.
*
Die Tankstelle war schon in Sichtweite.
»Hey, wie wäre es mit uns beiden?«, rief ein angetrunkener Mann ihm zu.
»Ja, oh, ja, ich bin schon ganz feucht, sieh her«, sagte Charlie und öffnete den Mantel. »Und jetzt hau ab, sonst vermöbele ich dich so was von dermaßen, dass dir sehen und hören vergeht, du Arsch.«
Der Betrunkene legte in der unmenschlichen Hitze einen beachtenswerten Sprint hin.
Das gehörte, so vermutete Charlie, alles zum Plan. Ihm war die Meinung der anderen und sein privater Ruf aber egal. Das lag jenseits der Vorstellungskraft der meisten Menschen, so wie von Petra und Holger.
Er knöpfte den Mantel wieder zu und setzte seinen Weg fort. Der Frauenpelzmantel war Holgers Idee. Petra ergänzte das Ganze, indem sie Stilettos für das Unternehmen vorschlug.
Holger wartete am Parkplatz der Tankstelle neben seinem Auto auf ihn.
»Hallo! Da bin ich. Wo ist mein Zeugnis?«, fragte Charlie.
»Du bist aber heiß«, sagte Holger und überreichte ihm einen Umschlag. Das Schreiben darin sah korrekt aus.
»Danke! Ich wünsche dir einen guten Tag«, meinte er begleitet von Holgers Lachen, der ihn mit seinem Handy filmte. Nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich um.
»Nur noch eine Kleinigkeit«, sagte Charlie.
In der Ferne quälte sich der Ton eines Einsatzhorns durch die wabernde Luft.
»Was willst du noch?«
»Ist dir aufgefallen, wie teuer Wellness-Wochenenden für zwei Personen sind?«
Holgers lachen verebbte.
»Was meinst du damit?«
»Laut Firmenreglements dürfen Firmenkreditkarten nur für Zahlungen, die strikt mit Arbeit zu tun haben, eingesetzt werden.«
Holger senkte das Handy. Das Einsatzhorn kam näher.
»Was …«
»Jeder Missbrauch wird als Veruntreung betrachtet und zur Anzeige gebracht. Wir reden hier über fast 70.000 Euro. Zahlentheorie und Statistik, angewendet auf Buchungsdaten sind nützliche Werkzeuge. Übrigens: Firmenhandys haben eine Ortungsfunktion, auch deins und das von Petra. Die Daten werden drei Jahre lang aufbewahrt.«
»Das kann doch …«
»Und hier ist noch eine Überraschung: Gelöschte Dateien, wie zum Beispiel Überwachungsvideos, können ganz leicht wiederhergestellt werden.«
»Aber …«
»Gestern habe ich dem CEO die verdächtigen Buchungen gezeigt. Er weiß jetzt auch, wohin Aufnahmen der Sicherheitskameras der Besprechungsräumen verschwunden sind.«
Ein Polizeiauto raste auf der Prenzlauer Straße direkt auf die Tankstelle zu.
»Viel Spaß im Knast!«, sagte Charlie und schritt auf die nahe Bushaltestelle zu. Auf seinem Weg hielt er bei einem Mülleimer, zog Mantel und Stilettos aus und schmiss sie hinein.
Das Polizeiauto hielt mit quietschenden Bremsen vor Holger an.
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