Von Martina Zimmermann

 

„Lucy, was glaubst du, um welches Thema es im nächsten Monat bei der Schreibaufgabe geht?“, fragte ich meine Tochter. Sie schaute gespannt zu mir herüber und ich begann zu singen: „Lucy in the Sky with Diamonds.“ Lucy schaute mich an und meinte: „Ach, das Lied habe ich ja noch nie gehört.“ Dann lachte sie und ich wusste natürlich, dieses Lied hat uns immer schon begleitet. Immer, wenn Lucy ihren Namen nannte und sich vorstellte, dann hörte sie so manches Mal dieses Lied. Manche Menschen fühlten sich förmlich animiert, zu singen.  

Wenn ich so zurückdenke, dann gab es einige Situationen, die schon ein wenig außergewöhnlich waren. Beispielsweise hatte ich kurz nach Lucys Geburt einen Termin bei einem Orthopäden. Nachdem er mich behandelt hatte, fragte er: „Wie heißt denn eigentlich Ihre Tochter?“ Als ich den Namen Lucy nannte, sang er los. Laut und aus voller Brust. „Lucy in the Sky with Diamonds, Lucy in the Sky with Diamonds.“ Ich weiß noch, wie ich dort stand, in seinem Behandlungszimmer und nicht wusste, was ich gerade dazu sagen sollte. Also lächelte ich höflich. Ich brauchte auch nichts zu sagen, denn als er zu Ende gesungen hatte, sah ich, wie weit er weg war, in Gedanken. Vielleicht in der Vergangenheit, in die er durch den Namen und das Lied zurückversetzt wurde. 

 

Der Name Lucy löste immer wieder Reaktionen aus. So gab es Anfragen, „Lucy, wie die Lucy aus Dallas?“ „Aus Dallas?“, fragte ich. „Ach ja, da gab es auch eine Lucy, oder vielleicht die Lucy von Charly Brown?“ „Habt ihr an die Lucy von den No Angels gedacht, als ihr den Namen genommen habt?“ Wobei diese Lucy in der Zeit am besten passte. Im Sommer 2001 waren die No Angels gerade sehr im Trend. Wenngleich ich diese Lucy immer toll fand, so war es einfach der Name, der uns gefiel und die Geschichte der heiligen Lucia. Sie war die Lichtkönigin. Eine Frau mit einem guten Herzen, die den armen Menschen half. Sie hatte diese leuchtend schönen Augen und sie besaß ein Strahlen, welches alle Menschen berührte und zugleich verzauberte. 

So erging es auch John. Als er Lucy kennenlernte, verzauberte sie ihn ebenfalls. Er, der junge Künstler und Sie, die strahlende Schönheit vom Lande, die in die Stadt kam, um berühmt zu werden. Er traf sie eines Abends in einem Club in London.

Lucy besaß dieses natürliche Lächeln, welches jeden faszinierte, egal ob Mann oder Frau. Dazu hatte sie eine Naivität, die sie jedoch nicht minder attraktiv machte. Sie wirkte auf ihn, als wenn er sie beschützen müsste, dabei war sie eine starke Frau. Lucy wollte einfach nur raus, aus ihrem faden Leben. Etwas erleben in der großen Stadt. Singen war schon immer ihre Leidenschaft gewesen und ihre Stimme war so lieblich, dass sie jeden verzaubern konnte. Doch wenn sie abends auf der Bühne stand, in diesem zweitklassigen Club, zählte ihre Stimme nicht. Die Männer schmachteten sie an, waren interessierter an ihrem Körper, als an ihrem Gesang; das machte sie sehr traurig.

John sah Lucy an diesem Abend und er wusste, er würde sie nie vergessen. Ihre strahlenden Augen, dieses Leuchten in ihr und das Hoffen auf den Erfolg. Lucy nahm ihn ein und er wusste, er wollte ihr helfen. Die ersten Erfolge hatte er bereits erlebt. Er, der Schreiber seiner Band, verstand es, seine Texte so zu verfassen, dass er Leute damit berührte. John sah ihr Potenzial. Lucy freute sich, sie himmelte ihn an, während John seine Beziehungen spielen ließ.

„Du musst hier raus“, sagte er zu ihr. „Ich besorge dir Auftritte in seriöseren Clubs, dort, wo dein Talent erkannt wird.“ „Heute ist mein letzter Auftritt, hier in diesem alten Schuppen“, meinte sie und lächelte. John schmolz dahin. „Ich freue mich so sehr, dann geht es für dich bergauf“, sagte er noch, als er sie an sich drückte, um sich zu verabschieden. „Wir sehen uns dann morgen.“

 

Als Lucy am nächsten Tag nicht wie verabredet in dem neuen Club erschien, machte John sich Sorgen. „Was ist nur mit ihr los?“, fragte er sich. „Sie hatte sich doch so gefreut?“ Er beschloss, in dem alten Club nachzufragen. Dort angekommen, fand er die Türen versiegelt vor. Verstört lief er um das Gebäude, um Einlass zu bekommen, als ein Passant ihn erblickte und erklärte: „Da kommen Sie heute nicht herein. Gestern Abend gab es eine Schießerei in dem Club. Eine Bande aus der Stadt überfiel die Bar und dabei wurde auch geschossen. Einige der Gäste, wie auch einige der Angestellten, kamen dabei ums Leben.“ John wurden die Knie weich, Angst kroch in ihm hoch und lähmte ihn fast. Er hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. „Danke“, hauchte er blass wie ein Toter und ganz langsam, wie in Trance, verließ er den Ort.

Er wollte zur Polizei. „Ich brauche Gewissheit“, sagte er und er hoffte, dass es nicht Lucy getroffen hatte. „Vielleicht wurde sie verletzt?“ Er malte sich sämtliche Szenarien aus; bis er dort angekommen war, konnte er schon keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Sorge um Lucy machte ihn mürbe. John erfuhr genau das, was er am meisten befürchtet hatte. Seine Lucy lebte nicht mehr. Sie, mit dieser Herzenswärme, welche den ganzen Raum einnahm. Wie konnte dieses Strahlen vergehen? Das durfte nicht sein.

Für John brach eine Welt zusammen und lange konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Die Trauer nahm ihn ein, und er fühlte sich in ihr eingehüllt, wie in einem schwarzen Schleier, aus dem er nicht mehr herauskommen konnte. Seine Traurigkeit blieb noch lange, doch eines sah er immer wieder vor sich. Lucy, mit ihren strahlenden Augen. Sie schaute ihn an und ihr Strahlen schien in ihn überzugehen. Er fühlte eine Macht, die er nicht beschreiben konnte. Etwas, was ihn antrieb. Songs zu schreiben, das war seine Stärke und sie zu singen. Er war gut darin, seine Gefühle zu verarbeiten und er erkannte, das war sein Weg, den Schmerz zu besiegen.

Er hatte immer ihr Strahlen bewundert und jetzt ist sie im Himmel. Sie strahlt dort oben wie tausend Diamanten und gibt ihr Licht an alle ab. Genau wie die heilige Lucia, so sollen sich alle an seine Lucy erinnern, die ihn genauso verzaubert hatte. Er fing an, zu schreiben. „Lucy in the Sky with Diamonds.“ Das war der Titel und so würde er seine Lucy, auch wenn sie nicht mehr lebte, am Himmel sehen. Dadurch würde sie für ihn unsterblich sein und ihr zum Ruhm verhelfen, den sie sich zu Lebzeiten so gewünscht hatte. John konnte seine Trauer so besiegen und als der Song erfolgreich wurde, freute es ihn umso mehr. 

 

Der Text bleibt und es wird immer Menschen geben, die gerne spontan mitsingen, wann immer sie den Namen Lucy hören oder an jemanden denken, der für sie strahlt.

Vielleicht wie damals, die heilige Lucia für die Armen, oder wie Lucy für John, oder unsere Tochter für uns.