Von Michael Kothe
Der Geschmack nach Pappe. Er klebt am Gaumen. Doch nicht nur da. Er wandert. Der Vergleich zum Schnaps zu viel drängt sich mir auf, denn auch der steigt in den Kopf und vernebelt das Hirn. Betroffen beuge ich mich nach vorn, stelle die Flasche zurück auf den Couchtisch neben meine Füße. Ich schüttle den Kopf, kneife kurz die Augen zu, und … der Nebel ist verschwunden, meinen Bildschirm sehe ich wieder klar. Den Fernseher, das einzige vernünftige Möbel in meiner verquanzten Wohnung. Aber die Unordnung nehme ich schon nicht mehr wahr, ich bin daran gewöhnt. Von der herabgelassenen Jalousie, die meine Augen und meine gequälte Psyche gegen das gleißende Sonnenlicht verteidigt, wandert mein Blick wieder zur Mattscheibe. Omar Sharif steht an einem überdimensionalen Steuerrad. 20.000 Meilen unter dem Meer. Die Diskussionsrunde, die ein Lokalsender ausstrahlt, fängt gleich an, und die Wartezeit vertreibt er mir mit einer Art Medley von Konserven aus seiner Mediathek. Trotz meines Kopfschüttelns ist der Geschmack nach Pappe geblieben. Mit jedem Zug wird er intensiver.
Sharifs Gesichtszüge verschwimmen, obwohl die Konturen klarer werden. Irgendjemand zeichnet sie nach. Mit feinen schwarzen Linien. Kapitän Nemo wird kleiner, als die Kamera von ihm fortschwebt. Rückwärts verlässt sie durch ein Bullauge den Raum mit dem Steuerrad. Ich reibe mir die Augen. Gezeichneter Seetang schwingt in unsichtbaren Wellen, und – wer hätte das gedacht! – das U-Boot ist gelb. Bunte Fische schwimmen mit Luftblasen um die Wette. Auch die Filmmusik ist eine andere. Meine Zunge schabt am Gaumen, bemüht sich, den Geschmack nach Pappe fortzuschmirgeln. Vergeblich.
Mein Handy klingelt. Ein Sekundengespräch nur. Als ich zur Couch zurückkehre, hat sich die gelbe Nautilus verändert. Genau wie die ganze Szenerie. Aus den psychedelisch wabernden Farben schält sich ein Ruderboot, treibt mit dem Mädchen darin auf eine Brücke zu, gleitet darunter hindurch. Männer auf Schaukelpferden galoppieren am Ufer. Immer noch 20.000 Meilen unter dem Meer? Das Gesicht des Mädchens zoomt heran. Aus tausend Facettenaugen starrt es bildfüllend in mein Wohnzimmer. Die Hintergrundmusik kenne ich. Nicht mehr Yellow Submarine, sondern … Da war noch etwas, der Titel ist nicht vollständig. Unwillkürlich hatte meine Zunge halblaut „Lucy in the Sky“ in den Raum getönt, unbeholfen wälzt sie sich nun in meinem Mund, die fehlenden Worte fallen ihr nicht ein. Dafür kratzt sie vom Gaumen wieder den Geschmack nach Pappe ab. Obwohl es unmöglich sein sollte, füllt sie damit all ihre Geschmacksknospen. Süß, sauer, bitter, salzig, alles ist ausgelöscht. Nur noch Pappe!
Die Szenen wechseln. Nicht mehr das Boot auf dem Fluss, nicht mehr das Taxi, in dem das Mädchen den Kopf in die Wolken reckt. Ein Bahnhof, gleich fährt der Zug ab, da drängt es durch das Drehkreuz. Bei seinem Anblick fällt mir der ganze Titel wieder ein: Lucy in the Sky with Diamonds. Laut formuliert meine Zunge die Worte, verdrängt den Geschmack nach Pappe, hält mich von meinem letzten Schritt ins Delirium ab. Die Musik verklingt, Lucy taucht ab ins Nirwana, das Senderlogo breitet sich auf dem Bildschirm aus. Es beginnt die Diskussionsrunde um die Legalisierung von Hanf zum privaten Anbau und Gebrauch. Als Althippie interessiert mich das Thema allemal. Hasch ist besser als Marihuana, weil Hasch nicht nach Pappe schmeckt und deshalb nicht den Tabak versaut.
Schief grinse ich, als ich an die alten Zeiten denke, von denen mein Großvater mir erzählte. Heute weiß ich, dass seine verträumt scheinende Miene nicht wirklich auf Nostalgie beruhte. Ich sollte nicht von mir auf andere schließen, aber … Mann, was muss der Alte damals bekifft gewesen sein, als er den Text von Lucy in the Sky with Diamonds geschrieben hat!
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