Von Peter Burkhard

Der Übergang in diese Welt war sanft und fließend.
Der dunkle Pfad wurde langsam breiter und die festgetretene Erde ging fast unmerklich in einen dunkelgrünen Teppichboden über. Es wehte ein laues Lüftchen wie durch ein leicht geöffnetes Fenster und angenehm warmes Licht erfüllte mehr und mehr den Raum. An Wänden, die aus dem Nichts emporwuchsen, hingen fantastische Bilder in kunstvollen Rahmen, abwechselnd mit hölzernen Skulpturen, perlenbesetzten Girandolen und freundlich grinsenden Masken.
Maureen begann sich mit großen Augen und ausgestreckten Armen langsam im Kreise zu drehen, während Paul und seine Linda auf den mit Plüsch bespannten Boden sanken, um die Verwandlung auf sich wirken zu lassen. Das Erstaunen aller war grenzenlos.
„Unglaublich! Was geht hier vor?“
„Schaut euch das an!“
„Es ist so schön, einfach nur wunderschön“, juchzte Pattie überwältigt von all der Pracht.
George hingegen lehnte lächelnd an einer Wand und sah zu John hinüber. Er bemerkte, wie dieser sein Gesicht in das pechschwarze, strähnige Haar seiner künftigen Liebsten versenkte und an einem ihrer Ohrläppchen knabberte. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und versuchte aufs Neue, die formvollendeten Kunstobjekte mit den Fingern zu berühren, wobei er Mal für Mal ins Leere griff.

Auch Ringo gab sich wenig beeindruckt, nahm Maureen an der Hand und drängte zum Weitergehen.
„Kommt Freunde, setzt euch in Bewegung, ich erinnere euch daran, dass wir unser Werk vollenden sollten.“
Doch sein Bemühen blieb vergeblich. Er schien als einziger nicht vergessen zu haben, wohin sie eigentlich wollten. Von den anderen verspürte niemand mehr das Verlangen, sich von dieser berauschenden Kulisse zu lösen. Ihre anfängliche Zurückhaltung war gewichen, von Leichtigkeit und Neugier auf weitere Entdeckungen vertrieben.
Der Raum, in dem sie schwelgten, begann sich zu wandeln und mutierte kaum spürbar zu einem mit Tausenden von bunten Scheiben bestückten Kaleidoskop, das freischwebend wie ein ausgestreckter Arm in eine mit schierer Natur überzogene Landschaft hinausragte. Durch die Vielzahl der entstandenen Fenster erschloss sich den Ankömmlingen eine Außenwelt, die mit ihrer üppigen Pflanzendecke und verführerisch schönen Blütenpracht dem Zauber im Inneren in nichts nachstand.

Nur zögerlich gelangte die Clique ans Ende des Ganges, wo sich ohne ihr Zutun eine kleine Türe öffnete. Sie führte in einen schmalen Korridor, der trotz seiner Enge und der geringen Höhe keineswegs abschreckend wirkte. Im Gegenteil: In seinen mit purpurfarbenem Samt verkleideten Wänden waren einige Nischen eingelassen, in deren weichem Licht hölzerne Engel thronten. Dazwischen reihten sich minutiös gestaltete Schiffsmodelle, aus bemaltem Holz gefertigte Galionsfiguren und filigrane, in Walrosszähne geschnitzte Bildnisse aneinander, alle im Einklang mit der Ruhe der geflügelten Wesen.

Die Frauen tanzten, küssten und umarmten sich. Die Männer, ihrer Sinne beraubt, wussten nicht mehr, ob ihr Augenmerk den glücklichen Partnerinnen oder dem schieren Überfluss an Artefakten gehören sollten.
Und dann, ohne Vorankündigung, geboren aus einem einzigen Ton in pianissimo possibile, gefolgt von einer leisen unbekannten Melodie, schlängelten sich die lieblichsten Klänge durch die Gänge, zogen die benommenen Traumreisenden in ihren Bann und lockten sie in einen Saal, in dem ein vollelektronisches Sinfonieorchester Prokofjews Musikmärchen Peter und der Wolf in einer umwerfenden, nahezu perfekten Inszenierung intonierte. Über allem schwebten Modepuppen, auch diese Engeln gleich, auf weiten Schwingen am künstlichen Firmament, Ballone und fliegende Schiffe fügten sich in den bunten Reigen und das Grüppchen, erschlagen von solchem Prunk und so viel Farbigkeit, torkelte weiter von Raum zu Raum.
Plötzlich, wie aus dem Nichts stand es vor ihnen: Das größte Karussell, das die Welt je gesehen hatte und dessen Tsching Tsching Tschingderassabum im Zusammenspiel mit den Klängen einer unsichtbaren Jahrmarktsorgel Hunderte von Fabelwesen begleitete. Jede dieser Kreaturen tauchte am Rand der riesigen Drehscheibe auf, näherte sich im Tempo des rotierenden Kreisels und verschwand wieder, nachdem sie die Gelegenheit wahrgenommen hatte, sich in voller Größe und Schönheit zu zeigen. Dieses Schauspiel, das sich im immer gleichen Rhythmus endlos wiederholte, zog selbst Ringo in seinen Bann und ließ ihn die Pflichten, die ihn zuvor noch drängten, für ein paar Momente vergessen:
Elegante Antilopen und reich verzierte Drachenwesen folgten den Kutschen ziehenden Einhörnern; mächtige Elefanten, brunftige Hirsche und herumtollende Hunde gingen zwei Kamelen mit herrschaftlichen Sänften voran, während wilde Krieger, zornige Löwen, singende Meerjungfrauen und mit Speeren bewaffnete Putten um Aufmerksamkeit buhlten. Zu ihnen gesellten sich brüllende Tiger im Wechsel mit jubilierenden Vögeln jeglicher Couleur, verführerische barbusige Weibsbilder, begleitet von zähnefletschenden Wölfen und gleichmütige Zebras, die im Gleichschritt mit bärtigen Ziegen vorüberzogen. Den Abschluss bildete Pegasus, der, eskortiert von furchteinflößenden Walrossen, ohne Unterlass seine Runden drehte, unter einem Himmel, behängt mit viertausend prächtigen Karussellpferden, eines edler als das andere.

* * *

Ringo hatte nicht locker gelassen im Bemühen, seine Freunde dem Wahn zu entreißen und sie in die Realität zurückzuführen.
Nachdem er zum wiederholten Mal zum Aufbruch gedrängt und sie sich endlich darauf eingelassen hatten, standen sie nun vor der Frage, welchen der Ausgänge sie wählen sollten.
Auf einer dem Karussell abgewandten Seite des Raumes hatte George den vermutlichen Weg zur Außenwelt entdeckt: Über jeder von drei rätselhaften Türen prangte in grellen Buchstaben auf pinkfarbenem Grund eine der Zeilen Rita’s sofa, Lucy’s sky und Eleanor’s grave.

„Ich will nicht zurück, wohin auch immer!“ Cynthia schürzte trotzig die Lippen.
Paul nickte ihr zu: „Du sagst es. Was hat uns die Realität schon Besseres zu bieten?“
Mit seinen Worten stach er in ein Wespennest.
Überdreht, fast schon euphorisch, wie sie alle waren, verloren sich die Freunde in einer heftigen Debatte, die Ringo schließlich lautstark unterbrach.
„Es tut mir leid, Freunde, wenn ihr euch nicht einigen könnt, muss ich entscheiden. Sonst kommen wir hier nie weg!“
Entschlossen näherte er sich der mittleren Tür, durchschritt diese, ohne sie zu öffnen und entschwand. Maureen, von ihrem Liebsten ermutigt, bedeutete den andern ihr zu folgen. Lächelnd machte sie kehrt, worauf der Türrahmen sie nach zwei, drei Schritten ebenfalls verschluckte.
Jetzt ging auch der Rest der kleinen Gruppe hinterher. Die einen mutig, die anderen zögernd wurden sie alle jenseits der Türschwelle wie von einer unsichtbaren Hand erfasst und ins Nichts gezogen.

Die Rückkehr ins wahre Leben war schmerzhaft abrupt, am ehesten vergleichbar mit dem freien Fall einer Eiswaffel, die versehentlich auf der Straße landet. Unversehens fanden sich die neun Freunde auf einem mit Parkplätzen markierten Innenhof wieder, auf dessen regennassem Boden sich die grüne Neonschrift ihres Hotels spiegelte.

Ein paar Stunden später, als John als letzter zum Frühstück erschien, schwenkte er grinsend eine bunte Kinderzeichnung. „Die habe ich gefunden. Sie ist von Julian und lag in meinem Köfferchen.“
Ringo blickte zufrieden schmunzelnd in die Runde: „Endlich. Das ist das Zeichen Männer, unser Werk zu vollenden.“


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