Von Simone Tröger

 

Er lag im Bett, während sie schon mindestens zwei Stunden in der Wohnung herumputzte.

Alles war ohnehin sauber, aber da an Schlaf nicht zu denken war, ließ sie ihrem Perfektionismus seinen Lauf. War das ihre Stärke oder Schwäche oder ein unbedeutender Charakterzug – ihre Ordnungsliebe?

Sie hatte ein Einsehen mit sich und gönnte sich einen Kaffee.

Sie saß überwiegend immer allein am Tisch. John war morgens meist viel zu benebelt, um ihr Gesellschaft zu leisten. Nicht etwa, dass es abends besser wurde… Oft hatte sie auch keine Zeit, sich zu setzen. Dann gab es einen Steh-Kaffee. Oder einen während der Hausarbeit.

 

Alles, einfach alles, musste heute gelingen. Es war der erste Arbeitstag in der neuen Firma. Lange Zeit fehlte ihr das.

 

Erst wurde ihre Mutter krank. Sie musste sich um ihren behinderten Bruder kümmern. Er war älter als sie, geistig und körperlich gehandicapt und brauchte bei fast allem Hilfe. Ihre Mutter lehnte es ab, ihn ins Heim zu geben, wo er, nach ihren Aussagen, dahinvegetierte.

Also half sie nicht nur Mama, sondern auch ihrem Bruder.

Ihre Mutter wurde zunehmend schwächer und dann bettlägerig. Das verkraftete ihr Papa nicht, und er bekam einen Schlaganfall, war halbseitig gelähmt, konnte nicht mehr sprechen. Der Rollstuhl war sein ständiger Begleiter. Auch bei ihm wollte Mama sein Dahinsiechen in einem Heim nicht miterleben.

Alle Drei wurden ohne fremde Hilfe gepflegt, bis die Eltern, schnell nacheinander, verstarben.

Neben der Trauer konnte sie etwas durchatmen und fand kurze Zeit später einen Heimplatz für ihren Bruder. Sie plagten zwar die Gewissensbisse beim Gedanken an die Mutter, gleichzeitig reifte jedoch der Wunsch, unter Leute zu kommen und zu arbeiten.

Jetzt musste sie nur noch mit Johns Ablehnung ihr gegenüber zurechtkommen. Sicher kam er in den vergangenen Jahren zu kurz. Sie doch auch! Als die beiden sich kennenlernten war die Welt in Ordnung. Für beide war der jeweils andere der Partner fürs Leben. Bis John in einem Urlaub mit seinen Kumpels die absolute Freiheit für die Seele fand und diese Freiheit seine Seele nach Hause zu sich nahm (wo immer Seelen wohnten).

John, in seinem ewigen Delirium, sah sie als seine Dienstmagd an.

Warum zog sie die Probleme immer an?

Es war ein Leichts, dieses Problem hinter sich zu lassen… Ein Leichtes?

Sie hatte jetzt endlich einmal Glück verdient!

 

 

Sie wollte ihm mitteilen, dass sie gehen müsste.

Schön machen musste sie sich auch noch, und die Beine rasiert hatte sie doch auch nicht, und die Haare! Wo war das Parfum?

Hatte das neue Kostüm auch keine Falten? Hoffentlich bekam sie nicht noch eine Laufmasche in den Strumpf. Waren die Absätze nicht doch zu hoch, so dass sie aussah, wie eine vom Gewerbe?

 

John!… John!…

 

Er sah so gütig und reizend aus im Schlaf. Sie liebte diesen Mann trotz allem. Irgendwie schon. Ein bisschen! Sehr!

 

John gab ein Glucksen von sich und drehte sich um. Wach sein war etwas anderes. Er brabbelte kaum hörbar, „Lucy“.

 

Alarm!!!

 

Wer war denn Lucy? Den Namen hörte sie von ihm noch nie. Allerdings hatte sie im Moment keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste los, schloss die Wohnungstür ab, trat vor die Haustür und dachte, dass es heute keinen Regen geben würde.

Doch noch einmal fiel ihr Johns Wort ein. Sein einziges an diesem Morgen. „Lucy“. Es war auch das Einzige, was sie seit langem von ihm hörte. Sehr oft sprach er nur mit seinen Freunden. Ignoriert zu werden, war ihr nicht fremd.

Es lies ihr keine Ruhe – und das heute! Wie sollte sie sich auf die neue Arbeit konzentrieren?

Er konnte getrost eine Geliebte haben, kein bisschen etwas ausmachen würde es ihr. Bah!

Aber immer wieder kam ihr der Name in den Sinn.

 

Ohne sie bekam er doch absolut nichts gebacken. Erst recht nichts, was nach geregelter Arbeit aussah. Mal Knast-on, mal Knast-off…  Satt hatte sie das allemal. Neben Alkohol, Drogen, kleineren und größeren Raubzügen hatte er jetzt wohl auch Nutten entdeckt? Ihre Überlegungen gingen nun in jede Richtung. Nachdem sie eine Weile nachgrübelte, beruhigte sie sich mit leise Stimme „Ach, soll er doch, ohne ihn lebe ich friedlicher“. Dabei schaute sie nach oben.

Die Sonne bahnte sich immer mehr den Weg und scheuchte die Wolken davon.

Eine einzelne Wolke war geformt wie ein Hund. Um das wolkige Fell glitzerte die Sonne wie ein voll mit Diamanten besetztes Halsband.

Keine Frage, das schöne Wetter würde schön bleiben. Viel mehr brauchte sie heute nicht. Abgesehen von einem Super-Arbeitstag und keinem Wer-ist-Lucy-?-Gedanken.

 

Dem war auch so. Sie genoss die Arbeit, die neuen Kollegen und die Ablenkung, auf die sie so lange verzichten musste. Jetzt, auf dem Nachhauseweg schien die Sonne in ihrer ganzen Pracht. Es gab keine Hunde-Wolke mehr. Das Diamanten-Halsband wurde nicht mehr gebraucht.

 

Sie trat in den Flur, dann ins Wohnzimmer. John war da nicht.

Bestimmt war er bei seinen Kiffer-Kollegen. Wie immer die hießen. Sicher gab es auch irgendwo irgendwas zu klauen?

Also wieder Knast? Dann würde sie dem ein Ende machen. Erst dann?

Sie träumte von ihrer neuen Arbeit, den netten Kollegen, vom Tanzen-Gehen, vom Urlaub in der Karibik (wer sollte das bezahlen?).

Dann rief sie seinen Namen.

Jetzt, wo sie Geld verdiente, wollte Lucy absahnen und mitfinanziert werden? Das könnte John so passen!

Da war sie wieder… Lucy!

Bereits heute Morgen hatte sie abgeschlossen mit John und dann mit Lucy. Warum machte sie sich noch Gedanken um die beiden?

 

Leise ging die Schlafzimmertür auf. John schlurfte auf sie zu und zeigte erstmals seit Monaten seine Zuneigung, indem er seinen Arm um ihre Hüften schlingen wollte, doch sie machte einen Schritt zurück.

Durch die offene Tür konnte sie die zugezogenen Gardinen sehen. Er hatte also bis jetzt geschlafen. Mit seiner Lucy? Was die bestimmt in unserem Schlafzimmer getrieben hatten?! In meinem Bett?! Wo war Lucy hin? Zurück ins Bordell?

Grrr… Lucy, Lucy, Lucy!

 

Kurzerhand fasste sie den Entschluss, John John sein zu lassen und ihr Leben zu leben, auch, wenn sie keinen genauen Plan hatte, wie.

 

Bevor sie etwas sagen konnte, schaute John sie mit rotierenden Augen an und sprudelte aus dem Mund „Ich habe uns einen

Hund besorgt – er hat sogar schon einen Namen…“

 

 

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