Von Arev Blagić

Wohnraum wird ja immer teurer. Das bekamen wir damals schon zu spüren. Wir verdienten beide. Er und ich – nicht übermäßig, aber ganz in Ordnung. Trotzdem fanden wir nur zwei karge Zimmer in einer Wohngemeinschaft am Stadtrand-Rand. Wir hatten ein gemeinsames Schlafzimmer. Und ein Arbeitszimmer, welches wir manches Mal als Du-rückst-mir-gerade-sehr-auf-die-Pelle-ich-muss-mich-zurückzieh-Raum zweckentfremdeten.

 

Die Zimmer waren so klein – stellt euch vor, breitet eine Zeitung – doppelseitig, die sind ja A2 oder so, auf den Boden aus. Tja, bei uns unmöglich! Tag um Tag wurde uns dies durch das abonnierte Tagesblatt vor Augen geführt. Wie jeden Morgen wälzten wir zusammen den Immobilienteil durch. In der etwas geräumigeren Küche. Wir hofften darauf, eine größere, dennoch erschwingliche Wohnung zu entdecken. Ich zumindest hoffte es. Ihm schien es gleich zu sein.

 

Ich saß da, ja stand eigentlich vielmehr gebeugt über dem Frühstücks-Schrägstrich-Allzwecktisch. Mit meinem Stamm-Croissant zwischen den Lippen, die Tasse mit dem kalten Kaffee in der einen, ein Ende des Tagesblatts in der anderen Hand. Er wiederum hatte sein verschlafenes Gesicht auf seine Hand gelehnt und hielt geistesabwesend das andere Ende der gigantische Zeitungsseite. Ich so, gestresst wie immer, die Bahn nicht zu verpassen. Er lässig, wie immer in Pyjamas. Herr Ach-So-Kreativ arbeitet ja von zu Hause. Sein eigener Chef. Ich hatte ihn dabei unterstützt, regelrecht dazu ermutigt, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Langsam fing ich jedoch an, es zu bereuen. Während er vergeblich auf Kunden wartete, lag es an mir, und mir allein, die Brötchen zu verdienen.

 

Ich versuchte mich auf die Annoncen zu konzentrieren. Aus dem Zimmer nebenan drang Jazzmusik, oder weiß der Teufel was. Für sowas hab ich nu wirklich keinen Kopf. Aber die werte Frau Hausherrin, wenn sie entschied was zu hören war, dann konnte das Untermieterpärchen schlecht sagen: Ey Alte, dreh die Mucke leiser! Hab dich nicht so, sagte er, den Mund voll mit Omelette, und von meinem ablehnenden Gesichtsausdruck getriggert. Jazz ist doch toll; bei deiner Popmusik…oder Indie oder was du so hörst…da ist alles so…verarbeitet. Du hast nicht den puren, wie sagt man, Stream of Consciousness, weißt du… aber Jazz. Das ist Gefühl! Ungefiltert aus der Seele. Musik völlig neu erfunden.

 

Typisch Kreativ, würgte ich hervor, und schluckte das letzte Gipfelchen meines Croissants herunter. Leider haben meine jazzabweisenden Ohren keine Zeit für deine musiktheoretischen Abhandlungen. Ich muss. Zu meinem langweiligen, unkreativen Bürojob. Den irgendjemand machen muss. Aber danke. Ich drückte ihm einen hastigen Alltags-Schmatzer auf den vollen Mund und machte mich auf den Weg.

 

Am selben Abend, kam ich erst spät von der Arbeit zurück. Hundemüde. Unbezahlte Überstunden – mein neuestes Steckenpferd? Ich fand die Zeitung auf dem Küchentisch-Schrägstrich-Allzwecktisch ausgebreitet. Ein Inserat war mit einem Rotstift markiert. Ich muss es heute morgen übersehen haben. Kein wunder, bei diesen riesenhaften Zeitungsseiten! Wollen wir doch mal sehen. Ich las die Anzeige nicht ohne Skepsis.

 

Luftschloss zu vermieten – Himmlische Lage! Auch zum verkauf.

 

Ich rollte die Augen. Diese Public-Relations-Kokser sind auch nicht mehr das was sie mal waren. Ich las weiter.

 

An besser verdienende Paare.

 

Keine Haustiere.

 

Preis verhandelbar.

 

Voller Freude tänzelte er in die Küche. Grinsend blickte er mich an. Wir haben die Wohnung. Ich hörte meinen Ohren nicht. Ja, wir haben die Wohnung, wiederholte er. Ich bin vorhin in die Innenstadt gefahren und habe den Vertrag unterschrieben. Wir werden in ein Luftschloss ziehen. Und wir können jederzeit einziehen!

 

Ich hätte ihn erwürgen können. Einen Vertrag unterschreiben, ohne es mit mir abzusprechen. Was denkt sich der – Ich schrie, irgendwas kränkendes, denn dann schrie er, in die Defensive gedrängt. Es wurde in dieser Nacht sehr laut. Aber die Worte, die fielen, die waren eher unwesentlich. Er sagte, wir müssen nicht in ein Luftschloss ziehen, wenn ich nicht wolle. Irgendwie hatten wir uns dann wieder versöhnt, ich weiß es nicht, die Erinnerung ist lange verblasst. An was ich mich von dieser Nacht allerdings genau erinnerte, war mein Traum.

 

Es ist schwierig ihn in Worte zu fassen. Aber wenn ich mir drei Begriffe aussuchen könnte…

 

 

Luft.

 

 

Leerer.

 

 

Raum.

 

 

 

 

Es war Nichts.

 

 

Nichts ringsumher.

 

 

Und genau das war es.

 

 

Zuerst hatte es mich erschaudern lassen.

Panik! Aber dann…

 

 

 

Dann wurde es richtig angenehm.

 

 

Mir wurde erst jetzt bewusst.

 

 

Wie wenig Raum und Zeit mir zur Verfügung standen.

 

 

 

Doch in diesem Augenblick.

 

 

War ich frei.

 

 

 

 

Frei.

 

 

Zu.

 

 

Atmen.

 

 

Ich konnte wieder atmen.

 

 

Das atmen wurde jäh schwerer, als läge ein Betonklotz auf meiner Brust.

Ich wachte in seinen Armen auf, stand auf, und holte tief Luft. Seine schweißgetränkten Achseln hießen mich in der beklemmenden Wirklichkeit willkommen. Ich wanderte aus dem kleinen Zimmerchen und stellte mich vor den Küchentisch-Schrägstrich-na-ihr-wisst-schon. Alles stand bereit. Das Tiefkühlcroissant – bereit für den Ofen. Der Instantkaffee – bereit für den Tauchgang ins kochende Wasser. Das Tagesblatt – bereit dafür, der Austragungsort der neuen Wohnungsjagd zu werden. Aber nicht mit mir. Ich hatte genug davon. Genug!

 

Ich erklärte mich einverstanden. Er war verwundert. Was hatte meine Meinung geändert? Ich war mir selbst nicht sicher. Es geschah so schnell.

 

Noch am selben Tag hatten wir die Koffer gepackt. Wir hatten nicht besonders viele Gegenstände, hatten ja kaum Platz dafür. So bezogen wir sehr schnell das neue Heim. Im Laufe des Tages wechselten wir kein Wort. Das Luftschloss war nicht das, was er erwartet hatte. Er machte einen betrübten Eindruck. Stumm packten wir unsere wenigen Gegenstände aus und verteilten sie auf dem Boden. Kleidung, Kleinkram, Kostbarkeiten, alle fanden sie ihren Platz auf dem glänzenden Parkettboden. Möbel waren gar nicht nötig.

 

Ich erinnere mich nicht an Genauigkeiten. Nur, dass wir uns auf einmal winzig klein fühlten. Es gab so viele Zimmer. Sie waren dreimal so hoch, wie wir es gewohnt waren. Raum zur Entfaltung, sagte ich. Keine Reaktion von ihm. Ich wollte positiv denken, mich nicht von seiner Künstlerlaune runtermachen lassen. Er verschanzte sich in sein neues Arbeitszimmer.

 

Was wurde aus seinem kreativen Geist? Seine Kunst, wie er sie nannte, wurde mit einem Male mondän und langweilig. Das war seine Meinung. Ich war wohl noch zu eingeschnappt, und konnte mich nicht aufrappeln ihn aufzumuntern.

 

Ich lebte mich relativ schnell ein. Ab und zu sah ich ihn aus seinem Zimmer huschen. Wir bezogen getrennte Schlafzimmer.

 

Ich lief ihm immer seltener über den Weg. Ein letztes Mal frühstückten wir zusammen. Ich verkostete den handgefilterten Arabica aus Guatemala. Er trank nur irgendein Gesöff und murmelte vor sich hin. Vielleicht war er betrunken. Ich hatte keine Ahnung, was er den ganzen Tag tat. Unter uns, ich glaube, er wurde schon lange gekündigt. Und jetzt trank er.

 

Als wir Schluss machten, waren seine Sachen immer noch in den Umzugskartons. Vielleicht wartete er bereits seit dem ersten Tag darauf, das Schloss zu verlassen. Wären sie nicht auf einmal verschwunden, hätte ich seine Abwesenheit nicht einmal bemerkt.

 

Eines Nachts wurde ich von einem Krach geweckt. Kieselsteine oder so schlugen an eines der Fenster. Er stand draußen und schrie irgendetwas unverständliches zu mir herauf. Vermutlich war er wieder betrunken.Er schrie. Und dann ging er einfach. Danach sah ich ihn nicht mehr wieder.

 

Es gab nur noch mich. Und sehr viel Platz.

 

Viel.

 

Viel.

 

Platz.

 

Ich lebe nun alleine in diesem Schlosse, mitten in der Innenstadt. In diesem großen, leeren Haus. Es füllt Raum für viele, viele Zeitungsseiten. Ich habe das Tagesblatt nämlich noch abonniert. Und lege die überdimensionierten Seiten jeden Morgen auf dem Parkett aus, nur um zu überprüfen, wie viele Tage ich brauche, um das gesamte Gebäude damit zu schmücken.

 

Manchmal verirre ich mich in den verwinkelten Räumlichkeiten, und mache ein Spiel daraus, wieder in mein Schlafgemach zu finden, bevor das Sonnenlicht, das durch die schmalen Fenster scheint, schwindet.

 

Ich finde Einklang, durch das sanfte Bestreichen des Parketts – mit einem, in Orangensaft getränkten Pinsel. Erhalte Ruhe, durch das Rückwärts aufsagen von Satellitenreceiver-Bedienungsanleitungen.

 

Tagtäglich lege ich neue, aufregende Jazzalben auf und erfreue mich hautnah dabei zu sein, wenn Musik. völlig. neu. erfunden wird. Dann denke ich immer zurück an die damalige Vermieterin. Wie gerne ich mit ihr zusammen lauschen würde.

 

Ich muss gestehen. Ich bin schrecklich einsam. Es sind noch so viele Zimmer frei. Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass mir jemand Gesellschaft leisten wird. Irgendjemand.

 

Darum habe ich beschlossen, diesen Text, den ihr gerade lest; ja genau den! Ich habe beschlossen, ihn zu inserieren. Ich habe den gesamten Immobilienteil dafür in Beschlag genommen. Zum Glück bieten Zeitungsseiten so viel Raum.