Von Eva Fischer

„Frau Müller, hier sind Ihre Zeitungen.“

„Komm herein, Murad und mach die Tür hinter dir zu, sonst weht der Herbstwind noch Blätter herein, die ich nicht bestellt habe.“

Der junge Mann legt den Papierstapel auf den Tisch und lässt sich die Bestellung quittieren. Die Buchhändlerin gibt ihm Trinkgeld.

„Schönen Tag noch, Frau Müller“, bedankt sich Murad und wirbelt davon.

 

Marlene nimmt die Zeitungen aus der Verpackung und sortiert sie in ein Regal ein. Ihre Kunden sollen neben der Lektüre eines Buches auch in den Genuss kommen, Zeitungen lesen zu können. In Sesseln oder auf einem Sofa können sie es sich bequem machen. Ein Kaffeeautomat steht nebst Tassen zur Selbstbedienung bereit.

Sie hat fünf Tageszeitungen abonniert, darunter auch überregionale wie „Das Journal“, das ihr ärgerlicherweise aus der Hand fällt. Sie bückt sich, um es aufzuheben, da fällt ihr Blick auf eine Todesanzeige.

 

Und immer sind da Spuren deines Lebens, Gedanken, Bilder und Augenblicke. Sie werden uns an dich erinnern, uns glücklich und traurig machen und dich nie vergessen lassen.

 

Wir  trauern um unseren geliebten Sohn

 

Horst Decker

* 7.11.1973   +25.9.2018

 

Hannelore und Herbert Decker

 

Die Trauerfeier mit anschließender Beisetzung findet am Freitag, den 5. Oktober um 16 Uhr im Waldfriedhof statt.

 

Marlene fühlt Kälte durch ihre Adern fließen. Horst tot? Als sie ihn im Sommer gesehen hat, war er quicklebendig. Sie denkt schaudernd an ihre letzte Begegnung zurück. Mitten in der Nacht war er in ihr Ferienhaus eingedrungen, hatte vor ihrem Bett gestanden und ihr Vorhaltungen gemacht, dass sie ihn verlassen hatte. Sie hatte befürchtet, dass er sie nun wie ein Stalker verfolgen würde. Aber er war nie in dem Buchladen aufgetaucht, obwohl er die Adresse kannte. Und so hatte sie versucht, die Erinnerung an ihn aus dem Gedächtnis zu löschen. Der Alltag in der Buchhandlung bot genug Möglichkeiten, sich abzulenken.

 

Woran ist er gestorben? Ein Unfall? Selbstmord? Doch eine Erkrankung, die sein unmögliches Verhalten erklärt? Vielleicht psychischer Natur?

Marlene schaut auf die Wanduhr, die merkwürdig laut tickt. Es ist noch früh am Morgen. Sie könnte die 70 km locker schaffen, die sie vom Waldfriedhof ihres Heimatstädtchens trennen.

Heute ist Freitag, der 5. Oktober. Ulrich würde sicher den Laden nachmittags übernehmen oder sie kann ihn wegen eines Trauerfalls schließen.

Aber warum will sie überhaupt zur Beerdigung? Pflichtgefühl? Schließlich hat sie eine Zeitlang mit ihm unter einem Dach gelebt. Aus dem aufmerksamen Kollegen war ein aufmerksamer Lover geworden, auch wenn sie immer mehr spürte, dass er sie einengte und der Anfangsfunke bei ihr verloschen war.

Kann sie jetzt einfach zur Tagesordnung zurückkehren, als gäbe es die Todesanzeige vor ihren Augen nicht? Wäre es nicht besser, auch für sie, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen und zur Beerdigung zu gehen?

Sie kaut an ihrer Lippe. Sie weiß, es gibt noch einen anderen Grund. Die Neugier nagt an ihr. Sie will wissen, woran Horst gestorben ist.

 

Ein zweites Mal an diesem Morgen ertönt die Türklingel. Ein älterer Herr in Jeans presst seine Windjacke fröstelnd gegen seinen schlanken Körper und lächelt sie an.

 

„Dich schickt der Himmel!“, begrüßt ihn Marlene überschwänglich.

„Kannst du mich heute Nachmittag im Buchladen vertreten? Ich möchte zu einer Beerdigung.“

„Wer ist denn gestorben?“ Ulrich lässt den Blick auf die aufgeschlagene Seite der Zeitung gleiten.

„Horst ist tot.“

„Ist das ein Grund zum Trauern oder zum Aufatmen?“

„Ach Ulrich, nun sei nicht so!“

„Wie? Ehrlich? Aber bitte, fahr hin, wenn du meinst, und guck nach, ob der Richtige unter der Erde liegt.“

Der Dackel, der bisher in seinem Körbchen gedöst hat, kommt angeschossen, bellt freudig   mit dem Schwanz wedelnd.

„Dich nehme ich nicht mit, mein Lieber. Du bleibst bei Ulrich.“

„Jawoll, wir machen uns einen netten Herrenabend, wir zwei, gelle?“  

 

*

 

Marlene findet sofort den Waldfriedhof der Kleinstadt, wo sie einst gearbeitet und gewohnt hat. Sie steigt aus dem Auto und geht auf ein paar schwarz gekleidete Personen zu, die vor der Friedhofstür stehen.

„Hi, Marlene! Schön dich wiederzusehen! Wie geht’s unserer Millionärin? Hast du die Knete schon durchgebracht?“

„Mensch Tom! Du bist auch hier. Was macht die Bank?“

„Nur noch Verluste, seitdem du mit der Million abgehauen bist,“ grinst er.

„Aber Scherz beiseite. Ich habe gehört, du hast dich von Horst getrennt.“

„Was hast du denn sonst noch so gehört? Ich meine, weißt du, warum Horst tot ist?“

Tom zuckt die Schultern.

„Horst hat schon vor Monaten bei uns gekündigt. Wenn du mich fragst, hat ihm die Trennung von dir nicht gut getan. Er wurde immer einsilbiger und introvertierter.“

Marlene spürt einen Stich im Herz. Ist sie schuld an seinem Tod?

„Aber ich kann dich verstehen“, zwinkert Tom Marlene zu.

„Du hast Besseres verdient. Na, wie heißt dein neuer Freund? Seid ihr glücklich? Erzähl!“

Tom pufft sie kameradschaftlich in die Seite.

„Später“, sagt Marlene. „Sonst verpassen wir die Beerdigung.“

Tom verdreht die Augen.

 

Sie folgen den schwarz Gekleideten bis zu einer Kapelle. Auf der Empore steht der Sarg mit einem aus Sonnenblumen gebundenen Kranz. In der ersten Reihe erkennt Marlene Horsts Eltern sowie seine Schwester. Sie schauen starr ins Nichts oder auf das Unfassbare, was wenige Meter vor ihnen liegt.

Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, denkt Marlene und möchte sie am liebsten tröstend in den Arm nehmen.

Der Pfarrer spricht einige Worte. Horst sei kein langes Leben vergönnt gewesen. Der Herr hat’s gegeben. Der Herr hat’s genommen. Immerhin sei er ohne Leiden aus dem Leben geschieden. Nun ruhe seine Seele friedlich bei Gott.

Sind das Worte des Trostes oder zeichnet der Pfarrer nur mit einem Stift die schwarzen Konturen des Todes nach?

 

Kurz darauf setzt sich der Trauerzug in Gang, folgt dem Sarg, den vier Männer tragen.

Horst kann keinen Unfall gehabt haben, denkt Marlene, sonst hätte es der Pfarrer erwähnt. Auch ein Selbstmord scheint auszuscheiden, denn der wird noch immer von der Kirche als Todsünde gegeißelt.

Wenige Menschen sind gekommen. Ein paar Alte, die vermutlich zur Familie gehören, Tom als Vertreter seines früheren Arbeitgebers und sie als Mahnmal einer gescheiterten Beziehung.

Der Moment, wenn der Sarg in die Tiefe der Erde gelegt wird, besiegelt stets die Endgültigkeit des Todes, denkt Marlene. Nichts ist mehr umkehrbar. Der Körper ist unwiderruflich dem Zerfall durch den Mikrokosmos preisgegeben. Sie spürt, wie Tränen in ihren Augen brennen.

Neben dem Grab stehen Vater, Mutter und Schwester. Es führt kein Weg an ihnen vorbei. Marlene muss ihnen ein letztes Mal in die Augen schauen und kondolieren. Der Vater nimmt ihre Beileidsbezeugung an, ohne eine Miene zu verziehen. Jetzt ist sie eine Fremde für ihn, auch wenn sie sich früher durchaus gut verstanden hatten. Der Blick der Mutter ist offen feindlich. Es gibt keine ausgestreckte Hand für Marlene.

„Du hast meinem Sohn das Herz gebrochen. Dass du dich noch traust, hier aufzutauchen. Schäm dich, Marlene!“

„Schäm dich, Marlene“ tönt es in Marlenes Kopf, als sie fluchtartig den Friedhof verlässt. In welche Situation hat sie sich da ohne Not gebracht. Was hat sie hier zu suchen? Die Frau hat vollkommen recht.

„Na, keine Lust auf eine Nachfeier?“ Tom ist ihr offensichtlich gefolgt. „Ich auch nicht“, grinst er. „Horsts Mischpoke ist genauso dröge wie er selbst. Sollen wir beide nicht noch etwas trinken gehen?“

„Das ist sehr lieb von dir, aber ich fahre jetzt besser wieder nach Hause. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich mal in meinem neuen Buchladen besuchen kämst. Dann holen wir unser Gespräch nach, versprochen.“

Sie gibt ihm eine Visitenkarte, umarmt ihn und geht eiligen Schrittes zum Auto.

 

*

 

„Kein Mensch stirbt an gebrochenem Herzen. So ein Bullshit!“, ereifert sich Ulrich später, als sie mit einem Glas Wein in der Buchhandlung sitzen. Mittlerweile ist es dunkel geworden und der Laden ist geschlossen.

„Lass dir nur keine Schuldgefühle einreden! Du bist nicht verpflichtet, dich lebenslänglich an einen Kerl zu ketten. Der Typ hatte doch offensichtlich ein Problem, wie er mit seinem Auftritt in deinem Ferienhaus bewiesen hat.“

„Ach Ulrich! Das wollte ich dir schon immer mal sagen. Ich bin so froh, dass ich dich kennengelernt habe. Du bist wie ein Vater zu mir.“

Als sie seinen entsetzten Blick bemerkt, verbessert sie sich. „Nein, du bist besser als jeder Vater“, und drückt ihm einen Kuss auf den Mund.

Was sind schon 24 Jahre Altersunterschied, denkt Ulrich und seufzt.

 

*

 

„Hallo, Hanna! Schön, von dir zu hören.“

Marlene hat Horsts Schwester an der Stimme erkannt und ist erstaunt, dass sie eine Woche nach der Beerdigung bei ihr anruft.

„Du warst ja schnell wieder weg, Marlene, was ich auch verstehen kann nach Mutters Worten. Aber ich fand es toll, dass du überhaupt gekommen bist. Hättest du ja nicht gemusst, wo ihr nicht mehr zusammen wart.“

„Das war ich Horst doch schuldig“, hört sich Marlene murmeln, auch wenn sie mittlerweile ihre Zweifel hegt.

„Meine Mutter hatte recht mit dem gebrochenen Herzen.“

Marlene überlegt, ob sie auflegen soll.

„Horst war nämlich seit Kindesbeinen herzkrank.“

Marlene runzelt erstaunt die Augenbrauen. „Davon habe ich nichts gewusst.“

„Horst wollte das auch nicht. Er mimte gerne den Starken. Du kennst ihn doch.“

„Jedenfalls“, fährt Hanna fort, „hat sich sein Zustand in den letzten Monaten stark verschlechtert. Hinzu kommt, dass er keine Tabletten mehr genommen hat. Ich finde, das solltest du wissen.“