Von Peter Burkhard
Mitte der Achtzigerjahre …
Es war ein garstiger Novembertag, der ebenso trostlos begann wie er endete.
Beim Abendessen meinte Mutti beiläufig: „Ich habe bei der Post ein neues Tastentelefon bestellt. Damit hat dieses grässliche Unding mit seiner Wählscheibe ausgedient und kann endlich verschwinden.“
Ich blickte vom Teller auf und schluckte leer. Mir gefiel das knallig orange Gerät, das, seit ich denken konnte, bei uns in Gebrauch war. „Aber es funktioniert doch noch tipptopp, warum können wir das alte nicht behalten?“
Mutti schüttelte den Kopf, brummte etwas kaum Verständliches von „Gelegenheit“ und wischte sich eine Strähne aus ihrem müden Gesicht: „Iss, und lass das meine Sache sein!“
Drei Wochen später schlich ich in eisiger Dunkelheit, nur mit Socken und Nachthemd bekleidet aus dem Haus. Mühsam fischte ich das entsorgte Telefongerät aus der Mülltonne. Dass ich dabei ausrutschte und beinahe den stinkenden Abfallbehälter umriss, tat meiner Genugtuung keinen Abbruch. Ich wollte das Unding, wie Mutti es nannte, vor der Vernichtung retten und das tat ich.
In den ersten paar Tagen hielt ich den geheimen Gegenstand im Kasten meines Zimmers versteckt, um ihn später auf den Dachboden zu bringen, wo ihn niemand finden sollte.
Aber Mutti kam mir zuvor: „Was soll das?“ Sie zeigte auf den Esszimmertisch, auf dem das alte Teil in grellem Orange prangte.
Ich fühlte mich ertappt und stotterte: „Ich hab’s dir ja gesagt, … ich möchte das … das Telefon behalten. Es hat uns lange gute Dienste geleistet und … ich finde, dass es etwas Besseres verdient als ein Ende in der Mülltonne.“
Ihre Antwort überraschte mich: „Wenn es unbedingt sein muss. Aber wir können nicht jeden Ramsch ansammeln, merk dir das!“
Mit feuchten Augen ergriff ich Muttis Hand, presste ein Danke über die Lippen und brachte das umstrittene Objekt rasch außer Sichtweite.
Von diesem Tag an erhielt das Gerät einen Ehrenplatz auf meiner Wäschekommode und ich gab ihm einen Namen: Millie – im Andenken an meine beste Schulfreundin, die kurz zuvor weggezogen war.
Mutti arbeitete tagsüber als Verkäuferin und zusätzlich noch an vier Abenden als Garderobenfrau, um uns anständig über die Runden zu bringen. Ich war oft allein und vor allem an den langen Winterabenden fühlte ich mich häufig sehr einsam und wie liegen gelassen.
Ich weiß nicht mehr, was der Auslöser war, dass ich Millie zum ersten Mal zu mir aufs Bett nahm. Aber ich erinnere mich, dass ich mit ihr über meine Sorgen und Nöte als Vierzehnjährige sprach und mir einbildete, dass sie mir zuhöre. Und ich sehe noch heute vor mir, wie ich den Hörer auf die Brust legte, um sie meinen Herzschlag spüren zu lassen.
Unserer ersten zaghaften Begegnung folgten viele weitere.
Die Berührungen wurden inniger, der Austausch intimer und oft verbrachte Millie die Nacht bei mir im Bett. Auch wenn meine neue Gefährtin nicht sprach, spürte ich ihre Zuneigung und ihre unendliche Geduld, mit der sie mir zuhörte.
In trauter Zweisamkeit drückte ich ihr Gehäuse an mich, spielte liebevoll mit ihrer Drehscheibe, schlang mir das schwarze Spiralkabel um Hals oder Bein und küsste – von Glück beseelt – ihre glänzende Oberfläche. Millie und ich wurden ein Paar, von dessen einzigartiger Beziehung lange Zeit niemand etwas ahnte.
Selbst Mutti nicht.
Ganz zu Anfang gab es Augenblicke oder Phasen, die mich an mir zweifeln ließen und in denen ich mein Tun infrage stellte. Am schlimmsten waren die qualvollen Nächte, in denen ich stundenlang wach lag, mit oder ohne Millie an meiner Seite.
Lange Zeit darüber im Unklaren, wie mir geschah – war ich krank? – wusste ich doch eines mit Bestimmtheit: Dass es für mich keine Zukunft ohne Millie geben würde. Dieses hübsche, grellorange Gerät schenkte mir etwas, was ich vorher nie hatte erfahren dürfen: Zuwendung.
Auf mein Benehmen und die Leistungen in der Schule hatte unsere junge Liebe keinen Einfluss. Auch später, während meiner Berufsausbildung als Sportartikelverkäuferin, machte sich unsere geheime Liaison in keiner Weise unliebsam bemerkbar. Einzig in meinem privaten Umfeld und kleinen Freundeskreis fielen hin und wieder spätpubertäre Bemerkungen über Beziehungsunfähigkeit, Liebesangst und Asexualität.
Mutti interessierte sich nicht für mein Liebesleben. Bis sie an meinem einundzwanzigsten Geburtstag, den ich in intimstem Rahmen mit Millie feierte, unverhofft in mein Zimmer trat.
„Du hast eine Woche Zeit, um diese eklige Angelegenheit zu klären.“ Es waren einige der letzten Worte, die ich aus dem Mund meiner Mutter vernahm. Danach zerbröselte die schon lange schwächelnde familiäre Gemeinsamkeit mir nichts, dir nichts, als hätte es sie nie gegeben.
Bald einmal nach meinem Einzug in die Wohngemeinschaft von Uta, Gabor und Emma beschlich mich der Gedanke, mich als objektsexuelle Frau zu outen. Eines Abends beim gemeinsamen Essen wagte ich es, das Thema mit der Lebensgeschichte von Eija-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer unverfänglich aufs Tapet zu bringen. Ich erzählte der Tischrunde von der Schwedin, die behauptete, bis 1989 mit der berühmten Trennmauer verheiratet gewesen zu sein und die sich nach dem Abriss des Bauwerks als dessen Witwe fühlte.
„Also, das ist doch Quatsch.“ Emma blickte uns fragend an. „Oder was meint ihr dazu?“ Sie war sich ihrer Reaktion nicht ganz sicher.
„Ist es nicht.“ Uta reagierte energisch. „Hast du noch nie etwas von Animismus gehört, der Lehre, dass auch unbelebte Objekte eine Seele besäßen? Und auch im japanischen Volksglauben existiert die Meinung, dass Gebrauchs- und Alltagsgegenstände beseelt sind. Ich finde es zwar höchst fragwürdig, die Mauer oder den Eiffelturm zu heiraten und deren Namen anzunehmen. Aber dass Menschen Gefühle für Gegenstände entwickeln, sie sogar lieben können. Why not?“
Die weitere Diskussion verlief äußerst angeregt und führte letztlich dazu, dass ich beim Zubettgehen unsicherer war als zuvor, was mein geplantes Outing betraf.
Ich ließ es bleiben und hätte meine sexuelle Orientierung wohl für immer für mich behalten. Wenn mich nicht Uta einige Zeit später unter vier Augen darauf angesprochen hätte: „Mein Bauchgefühl sagt mir, dass du nicht zufällig auf die Eklöf zu sprechen gekommen bist und dass da mehr dahintersteckt. Möchtest du mit mir nochmals darüber reden?“
Ich war über Utas berechtigte Vermutung dermaßen verdutzt, dass ich keine Ausflüchte mehr suchte: „Ja, das möchte ich …“
Nach anfänglichem Zögern brach es aus mir heraus und ich offenbarte meiner neuen Vertrauten meine ganze Lebensgeschichte, gestand ihr meine Liebe zu Millie und schilderte ihr meine belastende Beziehung zu Mutti. Mir war, als könnte ich Wände einreißen, um endlich meiner Seele Raum und Gehör zu verschaffen.
Nach langem, geduldigem Zuhören nahm mich Uta in ihre Arme und so verharrten wir minutenlang. Zum ersten Mal im Leben durfte ich die Warmherzigkeit eines menschlichen Wesens spüren. Mit von Tränen getrübtem Blick tastete ich nach Millie …
* * *
Sieben Jahre sind seither vergangen, in denen sich Entscheidendes verändert hat.
Emma verließ unseren Kreis in bestem Einvernehmen, Uta und Gabor wurden Eltern von Zwillingen.
Und …, vor drei Jahren heiratete ich in einer kleinen Zeremonie meine Millie, allerdings nicht ohne Gabor vorher in mein Geheimnis einzuweihen.
Der Überrumpelte blieb gelassen und meinte: „Du wirst kaum darauf hoffen können, dass euer Bund fürs Leben je anerkannt werden wird, aber mein Segen sei euch gewiss.“
Hatte das Leben in unserem kleinen Paradies zuvor einen ruhigen Verlauf genommen, stand kürzlich Großes an.
Ich entschied mich, zum ersten Mal überhaupt, für längere Zeit zu verreisen und das – es zerriss mir schier das Herz – ohne Millie. Wir zwei hatten das untereinander geklärt und für besser befunden, dass ich meinen Sprachaufenthalt in Havanna allein antreten würde.
Über die Abschiedsszene möchte ich keine Worte verlieren. Zu emotional war das Loslassen meiner kleinen Gefährtin … Doch kaum im Flugzeug überkam mich ein Gefühl der Erleichterung, als hätte ich nicht nur meine Liebsten zurückgelassen, sondern mit ihnen auch alle Sorgen des Alltags.
In Havanna verflogen die Tage im Nu und die Stadt linderte den Trennungsschmerz mit ihrer unvergleichlichen Atmosphäre und karibisch anmutenden Leichtigkeit, welche so viele der dort herrschenden Missstände übertünchte. Es wurden drei intensive, lehrreiche, aber auch entbehrungsreiche Wochen, in denen es mir lediglich einmal gelang, Kontakt mit Zuhause aufzunehmen.
Dann kam der Tag der Heimreise, und die Vorfreude auf ein Wiedersehen war riesig.
Umso mehr war ich enttäuscht, als ich mit meinem Gepäck in der Ankunftshalle stand und vergeblich nach meinen Freunden Ausschau hielt. Immerhin konnte ich mich damit trösten, dass es auf ein paar Minuten mehr bis zu unserem Zusammentreffen auch nicht mehr darauf ankäme und rief nach einem Taxi.
Der Fahrer schüttelte genervt den Kopf. „Es herrscht viel Verkehr, Madame, das werden gut und gerne dreißig Minuten.“
„Kein Problem“, log ich und verwünschte innerlich den verhassten Pendlerverkehr. „Da, wo ich jetzt herkomme, gehört Warten zum Alltag.“
„Wo waren Sie denn? Malediven oder Karibik?“
Ich schreckte aus meinen Gedanken an Millie auf: „Bitte?“
„Ich meinte nur wegen ihrer Bemerkung von vorhin.“
„Havanna. Ich war drei Wochen in Kuba. Es war wunderschön, aber heiß und jetzt bin ich froh, wieder zurück zu sein in meiner gewohnten Umgebung.“
Der Fahrer schielte auf sein GPS. „Wo ist das genau, sagten Sie? Seestraße Nummer?“
„Sechsunddreißig. Ecke Körnerstraße. Das sind die Reihenhäuser aus den Sechzigerjahren.“
Im Rückspiegel sah ich, wie der Typ die Brauen hochriss.
„Das ist jetzt aber ganz schlecht. Wirklich. Da war letzte Woche ein Großbrand. Vier oder fünf Häuser sind komplett niedergebrannt, bis auf die Grundmauern. Da liegt alles nur noch in Schutt und Asche.
Zum Glück kamen keine Personen zu Schaden, das ist das Wichtigste. Jetzt können Sie nur hoffen, dass …
Madame, ist Ihnen nicht gut?“
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