Von Ingo Pietsch

Peter war schon ein richtiger Lausbube gewesen, als man ihn noch Peterle rief.

Immer schon trieb er eifrig seinen Schabernack: Einmal entwendete er ein Fass Bier von der fahrenden Barre-Brauerei-Kutsche, um es seinem Vater zu schenken. Dann wieder spielte er  beim Nachbarn an dessen Traktor herum, dass dieser von allein durchs halbe Dorf gefahren und dann in einem Graben gelandet war. Doch davon ein andermal mehr.

Eines Tages lag der Siebenjährige auf dem Heuschober seines elterlichen Hofes und blickte verträumt auf die Wiese, wo die frisch gewaschenen Bettlaken im Wind flatterten.

Nicht, das er faul war, nein, aber er hatte sein Soll für heute schon erfüllt.

Wie es sich gehörte, halfen die Kinder auf dem kleinen Hof so gut mit, wie sie konnten.

Jeden Samstag war es Peterles Aufgabe, die Schweine in den Wald zu treiben.

Dort konnten sie sich am Schweineplatz an jungen Wurzeln, Eicheln, Bucheckern und vielem mehr gütlich tun, noch dazu bekamen sie dadurch ordentlich Auslauf.

Dies war aber auch mit gewissen Anstrengungen verbunden. Die Schweine waren flink und Peterles Hund ließ sich leicht ablenken. So musste er die Tiere in kleine Gruppen teilen und mehrmals den Weg gehen.

Außerdem war er nicht der einzige Hirte dort.

Trotzdem fanden die Schweine, bevor sie den Rückweg wieder antraten, alle zum richtigen Haufen zurück.

Peterle hatte sich diesbezüglich natürlich seine Gedanken gemacht, wie man die Schweine denn besser auseinander halten könne und hatte sie auf seine spezielle Art und Weise gekennzeichnet: Alle trugen auf ihren rosafarbenen Körpern schwarze Kringel, die der Junge mit Kohle aufgemalt hatte.

Und schon ging im Dorfe das Gerücht, die Pest wüte unter den Schweinen.

Als Dank für seine gute Tat hatte es vom Vater eine deftige Tracht Prügel gegeben, was zu der damaligen Zeit als gerechte Strafe gegolten hatte.

Peterle rieb sich den Hintern und kaute auf einem Grashalm herum. Dabei erinnerte er sich beim Anblick der Laken daran, wie er vor nicht allzu langer Zeit, als Gespenst verkleidet, Wanderer im frühen Morgennebel im Moor erschreckt hatte.

Und wie der Wind so die Bettlaken aufbauschte, kam es ihm in den Sinn, dass man damit fliegen könne. Sein Papierdrache konnte es schließlich auch.

Kaum war der Gedanke vollendet, hatte Peterle auch schon ein Laken von der Leine gerissen und die Enden miteinander verknotet. Jetzt hatte er seinen eigenen Fallschirm.

Er lief auf und ab, aber zum Fliegen reichte der Wind einfach nicht aus. Er bremste ihn sogar. Dann schaute er zum Heuschober auf und da wusste er, was er zu tun hatte.

Peterle kletterte zur obersten Luke, hielt die Knoten fest mit beiden Händen und als der Wind erneut aufkam, sprang er hinunter.

Tatsächlich verlangsamte das Laken seinen Fall und er glitt mit seinen Füßen von einem Heuballen, wurde weitergerissen und landete dann unsanft auf seinem sowieso schon schmerzenden Hosenboden.

Peterle lag lachend auf der Erde, als seine Mutter rief: „Peterle, dat Avendeten uess kloor.“(Peterle, das Abendessen ist fertig.)

Peterle stopfte das Laken zwischen die Ballen und antwortete: „Ja, Modder. Ick kame.“ (Ja, Mutter, ich komme.)

Die Kirchenglocke schlug 18 Uhr. Und schon mit dem ersten Schlag wusste Peterle, wie er doch noch zum Fliegen kommen würde, denn morgen war Sonntag.

 

Fast alle aus dem Dorf waren wie jeden Sonntagmorgen zum Gottesdienst gekommen.

Peterle saß ganz hinten in der Kapelle, so dass der Pastor ihn nicht sehen konnte.

Auch er mochte den Peterle nicht besonders.

Früher hatte der Junge oben auf einer der beiden Emporen sitzen dürfen.

Aber auch dort war er auf dumme Ideen gekommen und hatte seine Sammlung lebender Hausspinnen auf die Anwesenden herabregnen lassen.

Auch dem Müller, dem Schuster und dem Wirt vom Gasthaus Blase schuldete er noch Wiedergutmachung.

Aber die Hilfe und Entschuldigung, die sein Vater ihnen in seinem Namen angeboten hatte, waren dankend abgelehnt worden. Sie wollten ihn lieber nicht in ihrer Nähe haben.

Peterle hatte sich das Laken um den Leib geschlungen und dann seine Jacke darüber gezogen.

Er sah jetzt zwar etwas dicker aus, aber das war niemandem weiter aufgefallen, weil er sonntags immer ein Stück hinter den anderen herlief und meistens der letzte war, der die Kapelle betrat.

Während der Pastor seine Predigt zum Besten gab, schlich sich der Peterle heimlich nach oben, wo es eine Tür zum Glockenturm gab. Diese war normalerweise verschlossen. Aber es gab da einen Trick, wie man die Tür auch ohne Schlüssel öffnen konnte.

Den hatte er vor Langeweile einmal herausgefunden.

Peterle brauchte für sein Vorhaben Publikum. Und so wollte er warten, bis die Stunde vorüber war, legte sich auf einen Stapel alter leerer Säcke und schlief ein.

Als der Gottesdienst zu ende war, läuteten die Glocken und schreckten Peterle auf.

Er wartete noch, bis sie aufgehört hatten, zu schlagen und rannte dann, so schnell er konnte, nach oben.

Dort öffnete er einen der Holzläden und stellte sich auf den Sims.

Er musste sich gut am kalten Stein festhalten, da es hier oben doch recht zügig war.

Auch die Menschen sahen viel kleiner aus.

Peterle wurde ein wenig mulmig. War der Turm doch um einiges höher als die Scheune.

Unten konnte er jetzt seine Eltern sehen, wie sie aufgeregt einen Nachbarn nach dem anderen etwas fragten. Wahrscheinlich suchten sie ihn.

Peterle zog seine Jacke aus und wickelte das Bettlaken vom Körper.

Dann schrie er so laut und damit es alle hören konnten: „Modder, Vadder. Ick bün hie baben!“ (Mutter, Vater. Ich bin hier oben!)

Augenblicklich drehten sich alle Köpfe in seine Richtung.

Der Pastor, der sich Hände schüttelnd von allen verabschiedete, machte ein Kreuz vor seiner Brust.

Peterles Mutter wurde ganz weiß im Gesicht und rief zurück: „Kam foorts darunner!“ (Komm sofort darunter!)

Sein Vater geriet in Panik, obwohl er Peterles Scherze ja zur Genüge kannte: „Nee. Bliev wo du büst.“ (Nein, bleib wo du bist.)

Die Sonne strahlte von oben herab und Peterle nahm das als Startsignal. Er holte noch einmal tief Luft und stieß sich mit Füßen fest ab.

Ein entsetzter Aufschrei ging durch die Menge.

Irgendjemand meinte: „Nu geiht et mit den Peterle to Enn.“ (Jetzt geht es mit dem Peterle zu Ende.)

Erst sah es so aus, als stürze der Peterle wie ein Stein nach unten. Dann wölbte sich das Laken und er flog geradewegs über den anliegenden Friedhof.

Vor Freude jubelte er: „Ick kann flegen!“ (Ich kann fliegen!)

Doch der Flug war schneller vorbei, als ihm lieb war. Kurz bevor er es gerade noch so über die Hecke schaffte, die den Friedhof eingrenzte, warf er mit seinen Füßen noch ein paar Grabsteine um.

Sofort rannten die Angehörigen der unfreiwillig geschändeten Gräber wütend hinter dem Peterle her, während seine Eltern beschämt zur Erde starrten und der Pastor ein Vater-Unser vor sich hin murmelte.

Wie er dem wütenden Mob schließlich ungestraft entkam und doch noch zum Helden wurde, ist aber eine andere Geschichte …