Von Helmut Blepp
Als Kate erwachte, spürte sie zuerst die Kälte um sich herum. Und in ihrem Innern. Die Dunkelheit war total. Was war nur mit ihren Augen los? Sie versuchte, die Lider zu heben, aber sie waren verklebt.
Blut?
Der heftige Schmerz setzte plötzlich ein. Ihre Stirn schien eine einzige große Wunde zu sein. Entsetzt wollte sie ihr Gesicht betasten, aber sie konnte sich nicht bewegen.
Was war passiert?
Ein Unfall! Ja, es war ein Unfall gewesen!
Sie hing im Sicherheitsgurt, den linken Arm eingeklemmt zwischen ihrem Körper und der Türverkleidung. Die Finger des rechten Arms waren taub. Er tat weh, schien gebrochen sein. Und ihre Beine? Sie fühlte ihre Beine nicht!
Ruhig, sagte sie sich. Sie durfte nicht in Panik verfallen, musste sich erinnern. Wo war sie? Und wie war sie in diese Lage gekommen?
Um Beherrschung bemüht, atmete sie mehrmals tief durch. Und langsam kam die Erinnerung.
Da waren zu viele Tage und Nächte vorm Computer gewesen, um diese Fotoausstellung vorzubereiten. Der dumme Streit mit Mike, der sich vernachlässigt gefühlt hatte. Ihr Wunsch nach Abstand. Kurzerhand hatte sie den Pickup vollgetankt, ihren Schlafsack geschnappt und war auf der alten Route in die Mojave gefahren. Wasservorräte waren auf der Ladefläche verzurrt. In einer Tankstelle hatte sie noch einige Konserven eingepackt.
Ihr erster Halt war eine namenlose Geisterstadt gewesen, wohl eine ehemalige Arbeitersiedlung, verlassen nach dem Bau der 66. Es waren eher Buden als Häuser, leere Verschläge mit kleinen Fenstern ohne Glas. Nichts hatte mehr an die Bewohner erinnert. Selbst die Bartheke des Saloons hatte man herausgerissen. Sie hatte in einer der Hütten geschlafen, deren Tür zumindest noch einen intakten Riegel gehabt hatte. Und früh am Morgen war sie aufgebrochen zu dem berüchtigten Flugzeugfriedhof, den sie hatte fotografieren wollen.
Dieser Lagerplatz für ausrangierte Maschinen war einer der deprimierendsten Orte, den sie je besucht hatte. Kein Mensch war dort gewesen so früh am Tag, nur diese alten Mühlen in allen Stadien des Zerfalls. Amputierte Rümpfe, abgebrochene Tragflächen, Kabelbündel, die wie Eingeweide aus kuppellosen Pilotenkanzeln hingen. Friedhof schien ihr nicht der richtige Begriff dafür. Es war ein Schlachthof für Riesenvögel unter freiem Himmel.
Den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht geschoben, war sie auf dem Gelände umhergegangen, hatte nach interessanten Motiven gesucht und Dutzende von Bildern gemacht. Als die Sonne im Zenit stand, war sie ohne Eile weitergefahren. Nach eintönigen Meilen in flirrendem Licht war sie am Nachmittag von der Straße abgebogen und hatte den Wagen ein Stück weit ins Buschland gelenkt. Bei einer Gruppe von Kakteen hatte sie geparkt und war ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten.
Es war totenstill gewesen. Kein Lufthauch. Kein Zeichen von Leben. Nur dieses unwirtliche Land und schemenhafte Gebirgszüge am Horizont. Kein Anblick, der zum Fotografieren einlud.
Was war das doch für eine bescheuerte Idee gewesen, hatte sie sich gedacht, ausgerechnet in dieser Einöde den Ärger über das eifersüchtige Gehabe ihres Verlobten hinter sich lassen zu wollen.
Sie hatte beschlossen, an Ort und Stelle zu übernachten und bei Sonnenaufgang heimzufahren. Mit einem Bohnengericht aus der Dose im Bauch war sie dann in ihren Schlafsack gekrochen und schon bald eingeschlafen.
Morgens hatte sie es eilig gehabt. Sie war guter Stimmung gewesen und hatte plötzlich unbedingt gleich nach Hause gewollt. Spontan hatte sie den Motor angeworfen, ohne sich vorher auch nur wenigstens einen Kaffee zu machen. Aus dem Radio war ein alter Song vom Boss erklungen. Sie hatte mitgeträllert und war über den holprigen Grund zurück Richtung Straße gefahren. An der niedrigen Böschung angelangt, hatte sie übermütig Gas gegeben und nach links gelenkt, um mit Schwung auf die Fahrbahn zu gelangen.
Und dann war ihr wie aus dem Nichts dieser Kojote vor den Kühler gerannt!
Vor Schreck hatte sie das Steuer verrissen und war im falschen Moment auf die Bremse getreten. Als der Pickup sich zur Seite neigte, hatte sie versucht, gegenzusteuern. Aber es war schon zu spät gewesen. Das Auto war gekippt, ihr Kopf heftig gegen das Seitenfenster geschlagen.
Sie hatte keine Vorstellung, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Jedenfalls stand die Sonne schon hoch. Und sie hatte Durst. Gute Gründe, um möglichst schnell aus dieser misslichen Lage zu entkommen.
Unter dem Armaturenbrett vor dem Beifahrersitz war das Funkgerät verankert. Das musste sie irgendwie zu fassen kriegen! Aber wie? Der rechte Arm war unbrauchbar. Eine Chance hatte sie nur, wenn sie den Linken freibekam. Doch dazu war es nötig, dass sie das Gewicht ihres Oberkörpers irgendwie in die Höhe bugsierte.
Sie versuchte es, stemmte sich mit Kopf und Schulter gegen die Fahrertür, aber der Arm saß weiter fest. Der Stellbügel des Sitzes und das Kartenfach in der Tür verhinderten, dass sie ihn herausziehen konnte. Resigniert entspannte sie die schmerzenden Muskeln und stöhnte unwillkürlich auf.
„Es lebt“, sagte da eine Männerstimme.
„Hallo!“, rief Kate, so laut ihr eben möglich war. „Ist da jemand?“
„Es spricht“, stellte nun eine zweite Stimme fest.
Es schienen zwei junge Männer zu sein.
„Bitte, meine Herren!“, versuchte sie es wieder. „Ich brauche Hilfe!“
„Hast du auch Hunger?“, fragte nun der eine Mann, offenbar an seinen Begleiter gewandt.
„Ja, klar!“, antwortete der. „An dem räudigen Kojoten, den wir von der Straße gekratzt haben, war ja nichts dran.“
„Vielleicht sollten wir …“
„Auf keinen Fall!“, fiel ihm der andere ins Wort. „Der Alte hat ausdrücklich gesagt, dass wir die Finger von Lebendigen lassen sollen.“
„Weiß ich ja! Er muss es doch nicht erfahren.“
„Der alte Sack kriegt alles raus, und dann schlägt er uns wieder grün und blau.“
„Aber er ist nun mal nicht hier, oder? Ich hätte jetzt wirklich Lust darauf, in ein saftiges warmes Herz zu beißen.“
„Meine Herren!“ sagte Kate flehend, und es war fast nur noch ein Flüstern. „Scherzen Sie doch nicht! Bitte, helfen Sie mir!“
Die Männer ignorierten sie.
„Komm mir nicht mit Herzen“, wurde das Gespräch weitergeführt. „Zähes Zeug! Nichts für meine maroden Zähne.“ Ein gackerndes Lachen. „Aber ein Stück zarter Leber wäre nicht verkehrt.“
„Na, siehst du! Jetzt hörst du dich vernünftig an.“
Die Männer lachten lauthals. Sie hatten ihren Spaß.
„Nein! Nicht doch!“, rief Kate, ihre letzten Kräfte mobilisierend. „Hilfe!“
Da ertönte ein Schuss.
Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen.
„Scheiße, der Sheriff!“, erklang dann ein Fluch, und sie hörte, wie sich die beiden Verrückten eilig entfernten.
Sie hielt den Atem an und lauschte. Eine Weile blieb es still, doch alsbald kamen schwere Schritte auf den Wagen zu. Als sie am Heck des Pickups verharrten, war es zunächst wieder ruhig. Dann ertönte ein schabendes Geräusch, das Kate nicht einordnen konnte.
„Verdammtes Gesocks!“, hörte sie einen kräftigen Bariton sagen. „Ihr Erzeuger hätte sie ersäufen sollen, solange er noch die Chance dazu gehabt hat. Nichts als Ärger mit denen!“
„Sheriff!“, machte Kate auf sich aufmerksam. „Sind Sie wirklich der Sheriff?“
Er trat an die Beifahrerseite und schaute von oben zu ihr hinein. Der braungebrannte Mittfünfziger, dessen schütteres graues Haar ihm verschwitzt am Schädel klebte, lächelte väterlich.
„Ja, ich bin der Sheriff“, bestätigte er. „Von seinen Mitbürgern geliebt, gewählt und wiedergewählt. Darauf kannst du einen lassen, Kleines!“
Wieder dieses Schaben. Woran erinnerte sie das nur?
„Ich bin schwer verletzt, Sir“, stammelte sie. „Ich brauche einen Arzt.“
Er verzog bedauernd den Mund.
„Ist hier draußen nur schwer zu kriegen, Kleines. Das können wir getrost vergessen.“
„Aber ich kann das nicht länger aushalten.“ Sie begann zu weinen. „Jemand muss mir doch helfen!“
„Nur nicht durchdrehen, okay! Ich bin ja da“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Wenn ich jetzt einen Notarzt rufe, dauert das Stunden, bevor der hier aufschlägt. Soviel Zeit bleibt dir nicht, armes Ding!“
Erneut dieses Schaben. Wurde da etwas gerieben? Oder wurde Metall über einen Stein gezogen? Sie konnte kaum noch klar denken. Die Schmerzen nahmen zu.
„Sheriff, ich kann wirklich nicht mehr“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Mir wird immer kälter. Meine Beine sind wie tot. Ich habe solche Angst.“
Es blieb still. Schon befürchtete sie, er habe sie allein gelassen, doch dann sagte er in diesem ruhigen Ton: „Alles wird gut, Kleines! Ich hole dich jetzt da raus.“
Noch einmal ein entschiedenes Schaben, als hätte er einen Entschluss gefasst.
„Stück für Stück!“