Von Monika Heil

Endlich war es so weit! Jan stand am Ortsschild und schaute, ein letztes Mal für die nächsten drei Jahre, zurück auf die schmale Straße, die ins Dorf führte.

„Auf geht´s“,murmelte er, schulterte seinen Rucksack und lief los.

Henriette hatte ihm eine Landkarte in die Hand gedrückt und alles, alles Gute gewünscht. Henriette, Ersatzmutter, Lebensretterin.

 

Nach etwa zwanzig Kilometern war er müde. Er brauchte eine Pause. Dringend. Erschöpft lehnte er sich gegen einen niedrigen Zaun, der die schmale Straße von einem Privatgrundstück trennte, zog seine Wasserflasche aus der Seitentasche des Rucksacks. Leer! Mist. Ein alter Mann jätete ein Blumenbeet auf seinem Grundstück. Jan sprach ihn an.

„Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich vielleicht meine Wasserflasche bei Ihnen auffüllen?“

Der Alte schaute auf, mustere kurz Jans Kluft. Sofort wurde seine Miene freundlich.

„Aber sicher doch. Kommen Sie rein.“

„Ich will nicht stören.“

„Tun Sie nicht. Sie sind auf der Walz? Gibt es das heute überhaupt noch?“ Er öffnete das Gartentor und wies mit einladender Handbewegung zur offenstehenden Haustür. Erst eine Stunde später verließ Jan von einer leckeren Suppe gesättigt und mit frisch gefüllter Wasserflasche das Haus. Das Wertvollste aber war eine Adresse in der noch ca zehn Kilometer entfernten Stadt. Opa Meier, wie sich der Alte selbst nannte, hatte ihn telefonisch in der Tischlerei gleichen Namens angemeldet. Sein Sohn. Was für ein Zufall.

                  

Nach einem halben Jahr wurde es Zeit, weiter zu wandern. Von Süd nach Nord ging seine Tour. Einfach war es nicht immer. Doch das war er ja gewohnt. Wie viele Nächte musste er im Freien übernachten? Er zählte sie nicht. Gern erinnerte er sich an die netten Jungs auf dem Zeltplatz dicht an der Weser. Ungern an die ältliche Witwe, die zu freundlich war, ihm sogar die zweite Betthälfte in ihrem Schlafzimmer angeboten hatte. Die schönsten Erinnerungen vermerkte er in seinem Wanderbuch zusätzlich zu den Arbeitszeugnissen der kleinen Betriebe, die durchweg positiv ausfielen.

Was ihm nach wie vor schwerfiel, war die Tatsache, dass Handys, Tablets und Co. während der Walz nicht erlaubt waren.

 

                            ***

 

Einfach war sein Leben nie gewesen. Die Jugendhilfe hatte ihn seiner unfähigen, alleinerziehenden Mutter entzogen als er zwei Jahre alt war. Sein Vater war unbekannt. Drei Jahre lebte er in einem Heim, bis ihn ein älteres Ehepaar in Pflege nahm. Wie sagt man so schön? Dort kam er vom Regen in die Traufe. Frau Lechner starb, als er gerade eingeschult worden war. Herr Lechner war der Situation nicht gewachsen. Er verfiel in Schwermut und dem Alkohol. Und wieder wurde Jan ein Heimkind.

 

Als er mit vierzehn Jahren die Schule verließ, vermittelten ihm die Behörden eine Ausbildung in einer Schreinerei mit sogenanntem Familienanschluss. Zumindest hatte er ein eigenes Zimmer.

 

Und dann kam Henriette.  Nach einer Fete mit zu viel Alkohol war er im Stadtpark hängengeblieben und auf einer Parkbank eingeschlafen. Bei ihrem Morgenspaziergang fand ihn Henriette Wehner zufällig, sprach ihn an und brachte seinem Leben fortan eine Wende. Endlich lernte er Liebe und Geborgenheit in einer intakten Familie kennen. Es dauerte, bis er das Wort „Vertrauen“ begriff. Eva und Lars, Henriettes Kinder lebten im Ausland. Ihr Mann Otto war ans Haus gebunden seit Mr. Parkinson bei ihm eingezogen war. Dennoch war er nach wie vor am Leben interessiert. Beide weckten Interessen in Jan, die sein junges Leben bereicherten. Musik, Literatur, ernsthafte Gespräche. Henriette und Jan wurden unzertrennlich. Sie hatte versucht, Kontakt zu seiner leiblichen Mutter aufzunehmen. Doch das ging schief, restlos schief. Ihm blieb nur ihr Name. Jan Kuschinski.

 

                          ***

 

Noch zwei Jahre. Wanderkluft, prallgefüllter Rucksack, sein Stenz und Gottvertrauen. Mehr brauchte er nicht. Glaubte er. Dann begegnete er Clara.

 

Es war die Zeit der Apfelernte und er war gerade im Alten Land angekommen. Er verliebte sich sofort in die herrliche Landschaft nahe der Elbe. Ausgedehnte Apfelplantagen bogen sich unter der Last herunterhängender Zweige und Früchte. Die Fachwerkhäuser längs der Straßen fanden sein besonderes Interesse. Bunt gemauertes Fachwerk, reichverzierte Giebel, oft mit Sinnsprüchen bemalte Prunkpforten zeugten vom Wohlstand früherer Generationen der hiesigen Obstbauern. Und ein solcher heuerte ihn auch an. Wie in den meisten Orten hatte Jan zuerst den Bürgermeister aufgesucht und um Arbeit sowie passende Betriebe nachgefragt.

„Geh zu Stechmanns. Die haben einen großen Obsthof und Pflanzenbetrieb. Dort wird immer ein handwerklich begabter Allrounder gebraucht.“

Und so geschah es. Jan wurde mit offenen Armen empfangen. Sein Zimmer musste er zwar mit fünf Erntehelfern teilen. Doch das störte ihn nicht. Die Jungs aus Polen waren alles nette Kerle, die schon im dritten Jahr bei der Apfelernte halfen. Zum Unternehmen gehörte auch ein Obstladen, in dem die frischen Erzeugnisse verkauft wurden. Je nach Jahreszeit Spargel, Erdbeeren, Kirschen, Äpfel. Aber auch selbstgemachte Marmeladen, Apfel- und Birnenschnaps, sowie Butter, Käse und Schinken. Dies war Claras Reich.

 

Sie begegneten sich zum ersten Mal am Mittagstisch, den die Familie Stechmann mit allen ihren Angestellten gemeinsam einnahm. Gibt es Liebe auf den ersten Blick? Im ersten Augenblick meinte Jan, sie schon zu kennen. Ihre Bewegungen, ihr ernster Blick schienen ihm merkwürdig vertraut. Clara war Anfang zwanzig, schmal und hochgewachsen. Lange blonde Haare fielen ihr über die Schulter. Jeans und Shirt unterstrichen ihre schlanke Gestalt. Frau Stechmann stelle Jan als neuen Kollegen im Team vor, erklärte kurz, was ´auf der Walz` bedeutete und wünschte dann „guten Appetit“ nachdem sie ein kurzes Tischgebet gesprochen hatte.

 

Immer wieder schaute Jan zu der jungen Frau. Immer wieder grübelte er, an wen sie ihn erinnerte. Er kam nicht darauf. Am Abend sprach er sie an. Sie lud ihn spontan zu einem Spaziergang ein. Einträchtig erklommen sie den schmalen Grünstreifen auf dem Deich, der die Elbe entlang führt, beobachteten ein paar Schiffe, die vorbeizogen und plauderten über unverfängliche Geschehnisse. Es dauerte nicht lange und der Funkte sprang über. Fortan waren sie ein Paar. Natürlich hatte Jan schon sexuelle Erfahrungen. Eine dauerhafte Freundschaft hatte sich jedoch nie ergeben, was auch daran lag, dass er sich schon sehr früh geschworen hatte, niemals zu heiraten, niemals Kinder zu zeugen und nie so enden zu wollen wie seine nicht vorhandenen Eltern.

 

Man soll nie „nie“ sagen. Von wem stammte der Satz?

 

Clara wurde stets merkwürdig wortkarg, wenn er Fragen zu ihrer Kindheit und Familie stellte. Er konnte es verstehen, mochte er doch selbst höchstens von Henriette und Otto reden.

Nach vier Wochen gingen sie gemeinsam zu ihren Arbeitgebern.

„Frau Stechmann, wir haben eine Bitte“, fiel Jan sofort mit der Tür ins Haus. „Clara und ich sind ein Paar. Wir wollen auch heiraten.“

„Aber nicht gleich“, fiel ihm seine Geliebte ins Wort. „Jetzt wollen wir Sie erst mal bitten, uns die kleine Mansardenwohnung über dem Laden zu überlassen. Nur für uns.“

„Wir zahlen auch Miete,“ versprach Jan.

„Ach, Ihr Beiden, das ging aber schnell. Aber ich freue mich für Euch. Nur, Jan, deine drei Jahre Wanderschaft sind noch nicht erfüllt. Wie stellst du dir das vor?“

„Die halte ich ein. Wenn hier der ganze Apfelerntetrubel vorbei ist, ziehe ich weiter. Erst mal nur nach Hamburg. Und von dort kann ich jedes Wochenende herkommen. Clara bleibt ja hier.“

„Na gut. Dann machen wir einen richtigen Mietvertrag mit euch beiden Hübschen. Ich bereite alles vor und sag´ euch dann Bescheid, wenn die Unterlagen fertig sind. Und Ihr dürft erst mal mietfrei in der Mansarde wohnen, bis du eine feste Anstellung hast, Jan.“

 

„Hinrich, kommst du mal?“, rief Frau Stechmann am nächsten Abend ihren Mann zu sich an den Schreibtisch. „Schau dir das an. Hat der Jan nicht behauptet, er heiße Wehner? Hier in seinem Arbeitsnachweisheft steht aber Kuschinski. Das muss ich seinerzeit wohl übersehen oder irgendwas überhört haben.“

„Was, das gibt´s doch nicht! Bist du sicher?“

„Ja. Und was das Schlimmste ist: er kommt aus Windheim.“

„Um Gottes Willen! Da meinst …?“

„Ich fürchte, ja. Clara heißt Kuschinski und kommt aus Windheim.“

„Das hieße möglichereise …“

„Eben. Ich befürchte, die zwei sind Geschwister. Bring sie her. Sofort.“

                        ***

 

Sechs Kinder hatte Margot Kuschinski geboren. Vier Väter waren daran beteiligt. Jan war ihr Ältester. Er beendete seine Walz nach drei Jahren und einem Tag, wie es die Vorschriften verlangten. Dann kehrte er zurück zu Henriette, seiner zweiten Mutter. Heute führt er einen kleinen Schreinerbetrieb mit vier Mitarbeitern.

 

Clara, die Jüngste, die ihrer Mutter sehr sehr ähnlich sah, zog wieder nach Windheim als diese an Krebs erkrankte. Zu ihrer Beerdigung trafen die Geschwister sich ein letztes Mal. Sofort war die gegenseitige Anziehung wieder da. Beide spürten die Gefahr, die von derartigen Begegnungen ausging und so beschlossen sie, an jenem Tag auch ihre Beziehung zu beerdigen. Dennoch wusste Jan, dass seine Liebe zu Clara damit nicht endete.

 

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