Von Thomas Gärtner

Der Zug nach Bielefeld war zwar unwetterbedingt ausgefallen, aber um die Ecke wohnte Laura. Dort stand Parker nun, klingelte und trat wie immer ein paar Schritte zurück. Wer konnte schon garantieren, dass der oder die Öffnende nicht über Nacht wahnsinnig geworden war und nun hinter der Tür darauf lauerte, den ersten Besten mit einem Bettpfosten niederzustrecken? Der aktuelle Zustand, in dem sich andere Menschen befanden, war allenfalls wahrscheinlich, nie aber sicher.

Laura öffnete. Sie trug eine Sonnenbrille, hatte zerschlissene Jeans, weiße Tennisschuhe und eine schwarze Lederjacke an, und  in der Hand hielt sie einen Revolver.

„Rein da“, sagte sie mit einer harten, keinen Widerspruch duldenden Stimme. Jetzt erst erkannte Parker, dass es gar nicht Laura war.

Sie marschierten durch den langen, dunklen Wohnungsflur.

„Das Bild da!“ befahl die Stimme hinter ihm plötzlich, und er spürte den Revolver nun deutlich im Kreuz. „Von wem?“

Parker blieb stehen und sah es sich an. Das war eine leichte Aufgabe. 

„Delvaux“, sagte er sofort.

„Falsch. Renoir. Weiter!“

Parker widersprach nicht, denn ein Mensch, der nicht einmal Surrealismus und Impressionismus auseinander halten konnte, war zu allem fähig.

Endlich erreichten sie das große Wohnzimmer. Lauras Wohnung hatte gigantische Ausmaße, und wer sich hier nicht auskannte, war rettungslos verloren. Der andere kannte sich aber offenbar gut aus. Parker gefiel das ganz und gar nicht.

Laura lag bequem in einem Schaukelstuhl, die Beine gekreuzt auf dem kleinen Teetisch.

„Hallo“, sagte sie gleich und tupfte die Zigarettenasche, ganz ihrer Gewohnheit entsprechend, über dem Fußboden ab.

„Lange nicht gesehen. Konnte mich schon gar nicht mehr erinnern, wie du aussiehst.“  

“Ich war gerade in der Gegend und dachte mir: Schaust mal rein. Um über die alten Zeiten zu plaudern und so“, sagte Parker. Er wusste selbst, dass er nicht sehr überzeugend klang, aber ihm fiel  auf die Schnelle keine  bessere Phrase ein.

„Ist ja reizend, dass du mal reinschaust. Setz dich doch. Darf ich vorstellen: Das ist Helmut Schmidt, mein Verlobter.“

„Naja, eigentlich…“ sagte Schmidt, weiter kam er nicht.

„Er hat einen ausgeprägten Sinn für Dramatik“, fuhr Laura unbeirrt fort.

Schmidt sagte nun gar nichts mehr, sondern lehnte bloß blöde am Bücherregal und zündete sich mit dem Revolver eine Zigarette an.

„Waren Sie früher in der Politik tätig?“ fragte Parker, dem der Name bekannt vorkam. 

Aber Schmidt hielt es offenbar für unter seiner Würde, sich mit Parker auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen.

„Lassen Sie das, Schmidt!“ zischte Parker Lauras neuen Verlobten an, der offenbar erst jetzt das Kaltwasseraquarium in der Ecke unter dem Fenster entdeckt hatte, darin herumstocherte und die Fische aufscheuchte.

Schmidt kehrte wortlos zum Tisch zurück und ließ sich gereizt aufs Sofa fallen. Dass ihn Parker auf diese Weise in seinem Studium der Fische unterbrochen hatte, missfiel ihm sichtlich. Es war klar, dass im Raum ein Klima herrschte, in dem gute Dialoge nicht gedeihen konnten. Alle drei warteten nun auf die Wiederkehr der Sprache.

„Was ist denn das hier?“ fragte Parker, der ein kleines, seltsames Ding auf der Ablage entdeckt hatte. Es sah aus wie ein Ei, hatte aber zwei Füße  und rosarote Schaumgummiohren, die nahezu bis auf den Boden reichten.

„Von mir, selbstgebastelt“, sagte Schmidt, der überhaupt nicht gefragt war.

Laura nahm es in die Hände, setzte es behutsam auf den Tisch, zog die Mechanik auf und ließ es laufen. Das Ding benahm sich eigentümlich, torkelte so, als wolle es jeden Moment fallen, fing sich wieder und stolperte dann weiter, geradewegs auf Parker zu.

Parker erkannte nun die Funktion der Schlappohren, die unaufhörlich im Kreise rotierten, dieses Wesen offenbar vor dem Umkippen bewahrten und es wohl auch mit zusätzlichem Schub versorgten.

Es bestand kein Zweifel: Schmidt verfügte über Ideen, und zwar über solche, wie sie Parker nur in seinen besten Zeiten gehabt hatte, und deshalb hasste er ihn, diesen Schmidt, weil der ihm so ähnlich war, im Denken und Verhalten, ihn jetzt sogar klar übertrumpfte.

„Er ist ein vielseitiger Mensch“, kommentierte Laura, als habe sie Parkers Gedanken erraten und wolle ihn noch zusätzlich quälen.

„Und das ist noch nicht alles.“

„Nicht alles“, wiederholte Parker. Wollte Laura ihm den finalen Todesstoß versetzen?

Sie verschwand wie weggeweht in der Küche. Man hörte die Kühlschranktür schlagen und sah sie alsbald mit einem Erinnerungsalbum voller Fotos zurückkehren.

Parker traute seinen Augen nicht. Das konnte unmöglich Lauras Stil sein! Einer ihrer Lieblingssätze lautete: Erinnerungen gehören ins Eisfach, sie blockieren die Zukunft.

„Man friert ein, um aufzutauen“, sagte sie nun, und “man taut auf, um Platz zu schaffen für neue Erinnerungen.“  

Parker sagte dazu nichts. Widerwillig nahm er das kalte Album entgegen. Die Seiten klebten zusammen, deshalb musste er beim Umblättern stets die Eiskristalle herausklopfen.

Lauras Erinnerungsfotos hatten es in sich. Parker versank mit jedem Bild tiefer in die Polsterung, denn das Album übertraf noch seine schlimmsten Befürchtungen.

– Schmidt & Laura im durchlöcherten Heißluftballon hoch oben im Himmel („Wir wären dabei fast umgekommen“)

–  Schmidt & Laura als Drachenflieger in den bayrischen Alpen („Man muss nur das Gleichgewicht halten, dann geht das Leben weiter“)

– Schmidt mit einer auf seinem Rücken montierten Haifischflosse („Endlich hatten wir das Meer für uns allein“)

– Schmidt als blinder Tattergreis verkleidet im U-Bahnschacht („Ein sozialpsychologisches Experiment. Es hilft tatsächlich niemand“)

– Laura manipuliert den Stromzähler („Er besorgte die Literatur, ich führte es aus“)

–  Schmidt & Laura in einer spiritistischen Sitzung („Der ganze Tisch wackelte“)

– Schmidt mit Geige, Laura mit Riesentrompete („Jetzt steht die Wohnung neben uns leer“)

„Was sind denn das hier für seltsame Blumen?“ fragte Schmidt aus dem Hintergrund, der inzwischen die fleischfressenden Pflanzen entdeckt hatte und dann: „Aua!“

Parker blätterte weiter. Beide hatten nun schon Eishände: Parker vom Halten und Umblättern, Laura, weil sie jedes Foto betasten musste, als werde die Erinnerung dadurch gegenständlicher. 

Die Fotos wurden immer niederschmetternder, Parker stand auf. Er sah vollständig ein, dass er diesem Schmidt, zumindest heute, nicht gewachsen war. 

“Señorita, der Gringo nutzt Sie nur  aus”, sagte Parker noch, an Laura gewandt. Er wusste, dass sich Laura insgeheim als Mexikanerin fühlte, und dass eine derartige Rede sie hochgradig ansprach. Und gerade deshalb war er sich auch sicher, dass er diesen Schmidt, sofern er nur wollte, mit Leichtigkeit ausstechen konnte. Parker wusste einfach zu viel von Laura, das, was eine Null wie Schmidt nicht wissen konnte, und was den entscheidenden Unterschied ausmachte: Den Unterschied eben zwischen einem *Gringo* und einem *Nicht-Gringo*.

“Vaya con dios”, sagte Schmidt unerwartet, “por favor no vuelvas.”

Parker traten fast die Tränen in die Augen. Schmidt kannte offenbar Lauras Geheimnis.

„Ich werde gehen“, sagte er, wandte sich zur Tür, sprang dann aber in einem plötzlichen Einfall zum Fenster, riss beide Flügel weit auf und ließ sich die Regenrinne hinunter.

Als er unten angelangt war, sah er oben Schmidt & Laura Kopf an Kopf den Vorgang beobachten.

„Ich komme aber wieder!“ rief Parker hinauf. Das richtete sich in erster Linie gegen Schmidt. Irgendwann wollte er es ihm heimzahlen, diesem Wicht, und zwar mit doppelter Münze.

Das Unwetter hatte sich inzwischen zu einem bloßen Wetter abgeschwächt, das weder für Menschen, noch für Tiere und auch nicht für Züge gefährlich war.  Von Parkers Seite aus bestand also kein Grund mehr, die Zugausfallerei nach Bielefeld weiter zu kultivieren, und so wandte er sich in Richtung Bahnhof, um nachzuschauen, ob die Bahnbehörde es ähnlich sah. Allerdings fiel ihm jetzt absolut nicht mehr ein, was er eigentlich in Bielefeld wollte – in einer Stadt, von der nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt existierte.

Gesichert existent  hingegen war Laura. War es nicht sehr viel sinnvoller, seine Energie in Rückeroberungsversuche zu investieren, statt einer Fata  Morgana namens *Bielefeld* nachzuhechten? 

Laura von sich zu überzeugen, war ein anspruchsvolles, aber auch höchst sinnvolles Programm. Denn Laura war nicht nur die klügste, sondern auch die schönste Frau der Welt. Wer Laura unvorbereitet und zum ersten Mal begegnete, ging, geblendet von ihrer Schönheit, sofort zu Boden und kam erst einige Minuten später wieder zu Bewusstsein. Parker erinnerte sich an sein erstes Mal… Er war  mehrere Schritte rückwärts gestolpert, hatte das Gleichgewicht verloren und war polternd in einen riesigen Dosenturm gestürzt, den  der Abteilungsleiter liebevoll aufgebaut hatte.

Während Parker das Treppenhaus hochstieg, suchte er nach einer guten Begründung für seine rasche Wiederkehr. Vielleicht: „Hallo Laura, ich  wollte nur mal nachschauen, ob sich irgendetwas seit meinem letzten Besuch von vor zwei Minuten getan hat.“

Ja, das war wundervoll! Und falls wieder dieser Schmidt öffnen sollte, so würde ihm schon etwas Passendes, Druckvolles einfallen.

Jetzt stand er direkt vor dem Klingelknopf, nur einen Zeigefinger entfernt.

Parker (in die Kamera): Ich merke schon, einige von euch zweifeln daran, dass ich das Herz dieser Frau zurückgewinnen kann. Nun gut, wir werden ja sehen.

(Klingelt, Ausblende)