Von Jochen Ruscheweyh

Zwei Teller Tomatensuppe.

Beide werden gelöffelt.

Ein kurzes porzellanisches Klacken erklingt, wenn die Löffel den Rand oder Boden der Teller berühren.

 

Die Anzahl der Klackgeräusche beginnt sich ungleich zu verteilen, dann gibt es keine Geräusche mehr auf der linken Seite des Tisches.

 

Kleine rote Tropfen rinnen an dem Haar, das aus der Tomatensuppe gezogen wird, herunter und vermengen sich mit dem roten See, der im Teller darauf wartet, weiter gelöffelt zu werden.

 

„Mama, in meiner Suppe ist ein Haar.“

 

Siri, die automatische Spracherkennung des iPhones, kennt die Stimme. Sie gehört Lisa, Hannas Tochter. Siri wird von einer Kombination von Einsen und Nullen davon abgehalten, Lisa zu antworten.

Hanna wird von einer großen Menge an ungelesenen Nachrichten davon abgehalten, ihrer Tochter Lisa zu antworten. Und von der Tomatensuppe, die gelöffelt werden muss, solange sie heiß ist. Eine von diesen Nachrichten wurde von Michael geschrieben, der beschreibt, warum er davon abgehalten wird, seine Tochter Lisa an diesem Wochenende zu sich zu nehmen. Diese Nachricht wurde von Hanna mit den Worten „Das ist mal wieder typisch für dich, du bist so verdammt passiv“ beantwortet.

 

„Von wem ist das Haar, Mama?“

„Von Gott. Und jetzt leg es beiseite und iss weiter.“

 

 

Lisa hat das Haar, von dem ihre Mutter gesagt hat, es gehört Gott, beim Abräumen vom Tisch genommen und in ihrer Hosentasche verschwinden lassen. In Lisas rechter Hosentasche, denn die Linke ist für Taschentücher vorgesehen.

 

Lukas hat Sturm geschellt und Lisa abgeholt. Von dem Haar weiß er nichts, ebenso wenig weiß er, wie er seine Hausaufgaben für den nächsten Tag fertigbekommen soll. Aber der nächste Tag ist weiter weg als Amerika, wenn er mit Lisa zusammen ist. Und auch als Kufstein, wo er mit seinen Eltern in Urwald war. Lukas merkt, dass er mit dem Denken durcheinanderkommt, wenn er viel denkt.

 

Lisa hat das Haar um ihren Finger gewickelt. So wie ihre Mutter die Männer, die ihnen Geld für Tomatensuppe geben und für die aufgeklebten Nägel. Das sind die Harzer beim Bürgermeister, obwohl sie nicht nach Käse riechen.

 

Das Haar dreht sich wie eine Spirale von Lisas Finger.

„Gott muss es zurückhaben, wenn es ihm gehört.“

Das findet auch Lukas und seine Gedanken drehen sich Spirelli, wie die Nudeln in Omas Nudelsalat.

Lisa dreht sich um und zieht Lukas hinter sich her.

„Wohin?“, taucht er aus dem Nudelsalat auf.

„Gott wohnt in der Kirche. Ich gebe ihm sein Haar zurück.“

Lukas denkt, dass Lisa recht hat.

Weil Lisa recht hat, muss Lukas weniger denken.

 

„Warum gibt es hier keine Klingel?“, fragt Lisa.

Lukas weiß es nicht, und überlegt gleichzeitig, ob Lisa auch Evangelium ist und warum Lisa nicht durcheinanderkommt.

 

„Ich glaube, Gott ist nicht zu Hause“, sagt Lisa schließlich.

Lukas will nicht, dass Lisa Trauring ist, nein, das war der Hund im Fernsehen, der in der Kirche nach vorne gelaufen ist, als jemand geklingelt hat. Also sagt er: „Dann bringen wir es zum Friseur. Da kann er es dann abholen, wenn er zurückkämmt, Gott.“

Lisa weiß, was Lukas meint. Und ein Friseur hat Haare. Da hat Lukas recht.

 

 

„Ihr habt ein Haar von Gott? Gott ist tot“, sagt Herr Kubin, und hängt ein Schild an die Tür von seinem Salon. Ab jetzt für immer geschlossen. „Das ist ein rotes Haar, was ihr dahabt, Gott hatte weiße Haare. Probiert es mal bei O’Shady, dem Iren mit der Bar. Alle Iren haben rote Haare. Nein, probiert es nicht. Kinder haben nichts in Bars zu suchen. “

Als Lisa und Lukas weitergehen, ruft Herr Kubin ihnen hinterher: „Haben, haben, alle wollen immer nur haben.“

 

„Haben wir schon unsere Hausaufgaben gemacht?“, fragt Lisa, während sie das Haar wieder um ihren Finger wickelt. Lukas schaut, wie sich das Haar wie ein Spirale von ihrem Finger dreht und schüttelt den Kopf. „Das ist mal wieder typisch für uns“, sagt Lisa. „Ich glaube, wir müssen später auch mal zu den Harzern beim Bürgermeister.“

 

Lisa und Lukas legen sich auf den Rücken, auf die Wiese und gucken in den Himmel. Lisa nimmt Lukas Hand. „Wenn Gott zurückkommt, muss er hier lang.“

Lukas weiß, was Lisa meint. Denn Opa kann keine Spirelli mehr, weil er im Himmel isst. Und wenn Gott satt ist, kommt er in die Kirche zurück. Dann kann Lisa ihm sein Haar zurückgeben.

Bevor es dunkel wird, gehen Lisa und Lukas nach Haus.