Raina Bodyk

Von meiner Küche aus höre ich, wie die Tür der Nachbarwohnung aufgesperrt wird. Heike geht wohl wieder mit ihrem schwer demenzkranken Mann spazieren oder einkaufen. Man sieht sie fast nie ohne ihn.

Ein bisschen beneide ich sie trotz aller Probleme. Mein Heinz ist leider vor sieben Jahren gestorben. Ganz plötzlich. Schlaganfall. Jetzt sitze ich hier mutterseelenallein, die Tage ziehen sich zäh wie Kaugummi. Was hat man heutzutage schon großartig an Hausarbeit zu erledigen? Für alles gibt es Maschinen. Kochen nur für mich allein macht keinen Spaß

Gut, ich habe noch Karin, meine Tochter. Sie ruft mich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit an – vom Autotelefon aus, da spart sie Zeit, gestresst, wie sie immer ist.

Das klingt dann so: „Hallo Mama, heute Mittag habe ich eine Besprechung mit dem Chef. – Verdammter Idiot, kannst du nicht aufpassen? – Mein Kollege hat eine wichtige Entscheidung zu … – He, kannst du nicht blinken, wenn du abbiegen willst? – Jedenfalls wird es heute Abend wieder spät. – Du Pisser, schon mal was von Vorfahrt gehört? – Mama, ich muss – Noch einmal, dann steige ich aus und zeige euch, wie man Auto fährt, ihr Nichtskönner!  – aufhören, da will mich einer abdrängen. – Nicht mit mir!!“ Aufgelegt.

Das soll eine Unterhaltung sein? Ewig ist sie in Eile. Sicher, sie macht endlose Überstunden, bekommt immer die schwierigsten Aufgaben zugeschustert, muss an irgendwelchen Kursen teilnehmen. Ein bisschen Zeit für die eigene Mutter sollte aber schon drin sein, oder? Doch nein, die Karriere geht vor! Sie sollte sich lieber einen anständigen, ehrlichen Mann suchen und mir Enkelkinder schenken. Ich könnte ihr helfen, hätte wieder eine Aufgabe …

Ob sie mich besucht? Natürlich. Aber meist vergeht die Zeit mit Lebensmitteln einkaufen, Getränkekisten schleppen oder Arztbesuchen. Ich gestehe, dass ich manchmal heimlich ein paar Sprudelflaschen in den Ausguss leere, damit ich einen Grund habe, sie anzurufen und um eine Fahrt zum Supermarkt zu bitten. Aber ein gemütlicher Schwatz beim Kaffee sitzt selten drin.

 

Sie schlägt mir dauernd vor: „Du musst unter Leute, dann bist du auch nicht so allein.“

Damit sie noch weniger Zeit mit mir verbringen muss!

„Unternimm doch mal was!“

Mit wem denn? Nach der Beerdigung habe ich unsere ‚Freunde‘ kennengelernt! Die reizende Dame von nebenan, für die ich immer die Pakete mit den Klamotten aus den Modekatalogen angenommen habe und deren halb vertrocknete Blumen ich in ihrem Urlaub wieder aufgepäppelt habe, kam noch genau einmal zu mir – am Tag nach der Beerdigung. Sie wollte so gern ein Andenken an Heinz. Sie schleppte drei Gemälde und zwei seiner wunderschönen, selbstgebastelten Schwibbögen ab. Sie hat es eiskalt ausgenutzt, dass ich so aufgewühlt war, und hat ordentlich abgestaubt.

Befreundete Ehepaare zogen sich zurück. Vorbei waren gemeinsame Opern- und Konzertbesuche, Feiern. Können die Frauen wirklich auf mich altes Huhn eifersüchtig gewesen sein?!  Das Klischee der Männer verschlingenden Witwe! Wie lächerlich und beleidigend!

 

*

 

Heike ist nett und immer gutgelaunt. Sie nimmt mich zweimal in der Woche mit ins Fitnessstudio. Nach dem Sport trinken wir noch einen Cappuccino und quatschen ein bisschen. Manchmal packt mich der Neid. Sie ist noch so fit! Ich mit meiner Hüftoperation und den stets lauernden Schmerzen, komme mir neben ihr noch älter vor als sowieso schon. Allein wie sie die Treppe runtersaust! Ich humpele mühselig hinterher.

In fünf Wochen wird sie siebzig. Das nagt sehr an ihr. Sie sagt, ihr inneres Bild von sich und ihr Gefühl passen nicht zu dieser Zahl. Ich liebe es, sie an diesen Geburtstag zu erinnern, so oft ich sie sehe. Gemein? Warum ist sie auch so jung geblieben!

Ich ‚tröste‘ sie dann: „Was soll ich denn sagen, ich bin schon achtundsiebzig!“ und bekomme ein leicht verärgertes „Soll mich das aufmuntern?!“ zur Antwort. Sie lacht dabei, obwohl es sie auf die Palme bringt. Insgeheim tut mir das gut.

 

Ab und an beklagt sie sich über die Probleme mit ihrem Dieter, seine Aggressionen, seine Hilflosigkeit, sein nicht mehr funktionierendes Gedächtnis, seine mangelnde Hygiene.

Wenn ich nur helfen könnte!

 

Obwohl … Nach meinem Einzug hier (unser Haus war für mich allein zu groß) wäre ich seinetwegen fast wieder ausgezogen. So einen Rüpel habe ich noch nie erlebt. Ich ließ das langweilig grau gekachelte Badezimmer umbauen. Die Tür sollte nicht mehr durchs Schlafzimmer führen. Besucher haben da nichts verloren. Die Renovierung war logischerweise mit einigen Tagen lauten Lärms verbunden.

Da hat dieser Dieter doch die Frechheit besessen und dauernd bei mir geschellt und rumgetobt: „Das ist ja nicht zum Aushalten! Hören Sie sofort mit dem Krach auf, sonst rufe ich die Polizei.“

So eine Unverschämtheit! Ganz ruhig habe ich versucht, ihm die Sache zu erklären. Aber er hat nicht mal zugehört, nur weiter gepöbelt.

Er hat die Handwerker grob beschimpft und bedroht. Völlig ratlos, wie sie sich verhalten sollten, haben sie vorsichtshalber mittags die Arbeit zwei Stunden ruhen lassen. Auf meine Kosten!

Und die Beleidigungen, die der Herr Nachbar mir an den Kopf geworfen hat! „Kein Mensch mit ein bisschen Grips im Kopf, macht so viel Krach. Man sollte Sie einsperren.“

Ich habe nur noch geheult: Heinz tot, unser liebevoll gepflegtes Haus verkauft. Diese winzige Wohnung hier, in der ich nicht mal alle unsere leidenschaftlich gesammelten Gemälde aufhängen kann. Dazu ein solcher Nachbar! Ich wäre am liebsten gestorben!

 

Gottseidank lernte ich Heike kennen, bevor ich ganz durchdrehte. Wir liefen uns im Treppenhaus über den Weg. Sie stellte sich gleich so nett vor, dass ich mich traute, ihr von den Wutausbrüchen ihres Mannes zu berichten.

Sie war sehr peinlich berührt und hat sich tausendmal bei mir entschuldigt: „Mein Mann ist dement. Er versteht nicht, was vorgeht. Bei Lärm dreht er regelrecht durch. Ich glaube, er ist bis heute vom Radau der kreischenden Sirenen und der abgeworfenen Kriegsbomben traumatisiert. Ich darf nicht mal in der Wohnung etwas fallen lassen. Es tut mir so leid. Hätten Sie doch gleich etwas gesagt, ich wusste das nicht. Solange bei Ihnen gebohrt und gehämmert wird, werde ich ihn mit zur Arbeit nehmen. Er kann sich bei mir in der Bibliothek im Lesesaal aufhalten und Bücher schmökern.“

Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich ruhiger geblieben. Aber dennoch, sein Gebrüll und seine Beleidigungen …

„Geht das denn?“

„Kein Problem, wirklich!“

 

Inzwischen begleite ich Heike auch in ihren Englischkurs. Meine Sprachkenntnisse sind zwar völlig eingerostet, aber sie sagt nur: „Meine auch. Es macht trotzdem so viel Spaß, wenn die Erinnerung an längst Vergessenes zurückkommt und man in einer anderen Sprache klönt und liest.“

Also gehe ich mit. Zumal meine Tochter mich mal wieder ermahnt hat, mehr zu unternehmen. Zu Befehl!

 

Ich würde gern mal mit Heike Kaffeetrinken gehen, oder ins Museum, Theater und so. Aber Heike bleibt außer beim Sport (morgens um sieben Uhr, weil Dieter da noch schläft) und dem Sprachkurs immer zuhause. Ihr Mann ist total auf sie fixiert. Er hängt wie eine Klette an ihr.

 Neulich musste sie zum Arzt und hat ihn ausnahmsweise mal nicht mitgenommen. Sonst geht er selbst zum Gynäkologen mit! Da ist er zum ersten Mal weggelaufen. Er kam nicht weit, weil er inzwischen Schwierigkeiten mit dem Laufen hat. Ein Krankenwagen hat ihn zurückgebracht. Er soll zweimal hingefallen sein. Gottseidank kam Heike gerade um die Ecke, sonst hätten sie ihn mitgenommen.

Wenn ich nur helfen könnte!

 

Sie und ich, wir könnten so viel Spaß zusammen haben. Ausflüge machen, in die Berge fahren. Wandern kann ich ja nicht mehr mit meiner Hüfte, aber wozu gibt es Seilbahnen. Sie ist so lebendig und ihr Mann fesselt sie mit seiner Krankheit fest an sich. Seine Großmutter soll vierundneunzig geworden sein …

Manchmal höre ich ihn wütend brüllen. Heike sagt, das tue er meist, wenn er etwas nicht versteht oder nicht kann. Er denke ja immer, er sei noch wie früher. In letzter Zeit schreit sie manchmal zurück. Das tut mir in der Seele weh. Sie ist jetzt immer so nervös und angespannt. Kein Wunder. Sie bräuchte mal Urlaub, der letzte liegt Jahre zurück.

Wenn ich nur helfen könnte!

Ich frage mich, warum Heike ihn nicht ins Pflegeheim gibt. ‚In guten wie in schlechten Zeiten‘? Schlechtes Gewissen? Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass sie auch eine Pflicht gegen sich selbst hat, dass sie auf sich achten muss, Leider hört sie nicht auf mich.

Manchmal werde ich richtig böse, weil Dieter sie so vereinnahmt. Sie merkt das anscheinend gar nicht. Wenn sie mich zum Sport abholt, hat sie manchmal ganz verquollene Augen, hat wohl wieder geweint. Ist ja auch nicht einfach, wenn sie Dieter nachts zur Toilette begleiten muss, weil er sie allein nicht findet und er dann zum Dank noch meckert. Viel Schlaf kriegt die Arme nicht.

Ich liebe meinen Heinz immer noch, aber ob ich das ausgehalten hätte? Dieter ist doch kein Ehemann mehr, kein Gesprächspartner. Auf ihre Art ist Heike genauso einsam wie ich. Er ist wie ein Kind. Ein Kind, das sich zurückentwickelt zum hilflosen Baby.

 

Es schellt. Um diese Uhrzeit?

Dieter steht da. Unsicher auf seinen Beinen schwankend hält er sich am Treppengeländer fest. „Ist meine Frau bei Ihnen? Sie ist weg.“

 

Ein kleiner Stoß würde genügen …

 

*

 

Ein Schrei im Treppenhaus. Schritte, Wortwechsel, Lärm, Türenschlagen. Dann Stille.

 

Ein Klopfen an meiner Wohnungstür.

 

Meine Nachbarin steht schluchzend davor mit verweinten Augen und verschmiertem Make-up: „Dieter ist tot!“

Mitleidig nehme ich sie in die Arme und rede leise und beruhigend auf sie ein. „Oh, Heike! Das tut mir so leid. Komm rein, du frierst ja. Ich mache dir erst mal einen schönen, heißen Kakao.“

Teilnahmsvoll tätschele ich ihre Hand und hänge der Zitternden eine Jacke um die Schultern: „Das ist der Schock. Ich bin für dich da. Ich helfe dir bei den Formalitäten und der Beerdigung. Ich kenne mich da aus. Du weißt ja … Und wenn alles vorbei ist, fahren wir irgendwohin, wo du dich erholen kannst und wieder zu Kräften kommst.“