Von Ulli Lenz

Veronica starrt auf das Blatt Papier auf dem kleinen Tisch vor ihr. Acht Männer hat sie schon durch. Macht acht mal sieben gleich sechsundfünfzig Minuten. Plus Verzögerungen und Pinkelpause etwa siebzig Minuten vergeudete Lebenszeit. Wieso hat sie sich bloß von Bine zum Speed-Dating überreden lassen?

Zugegeben: Ihre Argumente waren schlüssig gewesen: Hier kann man sich nicht hinter falschen Fotos verstecken, Verheiratete sind ziemlich sicher keine dabei, und einen ersten Eindruck bekommt man auch schon. Von wegen Chemie und so.
Trotzdem. Seufzend lässt sie den Blick nochmals über die Anmerkungen gleiten, die sie sich zu den einzelnen Kandidaten gemacht hat.

  1. 2mal geschieden, 3 Kinder. Will keine Kinder mehr!
  2. Unreif? Lässt sich von den Eltern aushalten!!!
  3. Mag nur Blondinen. 
  4. Wohnt mit 38 noch bei der Mama. 
  5. Fußball, Fußball, Fußball. Raucher!
  6. Will wissen, welche Kleidergröße ich habe?! Starrt nur auf die Brüste.
  7. Bla Auto bla Arbeit bla Auto, bla bla. Autoverkäufer.
  8. Kleinkariert hoch drei. Sucht wohl eher eine Haushälterin als Frau.

 

Aber selbst wenn Bine sie wieder als zu übertrieben kritisch schimpfen wird: von diesen Männern hier möchte sie niemanden wiedersehen. Sie schaut nach links. Nummer neun sieht wenigstens sympathisch aus. Demotiviert wappnet sie sich für die letzte Runde und malt schon mal ein ‚9.‘ auf das Papier.

 

„Hallo, ich bin Veronica“
„Hi, du kannst mich Mitka nennen.“
„OK. Also, Mitka. Was macht dich kompliziert?“ Mist. Veronica beißt sich auf die Lippe. Kein sehr positiver Einstieg.

„Ääähm. Tja. Möglicherweise… bin ich manchmal… ein etwas, ähm, schwieriger Typ. Oder vielleicht nicht schwierig – nennen wir es lieber herausfordernd. Ja, ein herausfordernder Typ. Ich hab von manchen Dingen eben eine bestimmte Vorstellung. So wie in dem Film ‚Harry und Sally‘, kennst du den? Da ist sie auch eher so ein… T’schuldigung, ich schweife ab.“
Nervös zupft Mitka an seinem Hemdkragen, als ob er der Röte, die nun an seinem Hals empor kriecht, mehr Raum geben möchte.
„Oh Gott! Nicht gerade die beste Werbung für mich, oder?“ Verlegen rückt er die Brille zurecht.

„Stimmt“, sagt Veronika und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „War aber auch eine bescheuerte Frage, sorry. Ich weiß auch nicht, warum mir das herausgerutscht ist. Vielleicht weil ich gerne weiß, woran ich bin.“
„Oh, verstehe. Geht mir eigentlich genauso!“ Mitka nickt und lächelt schließlich befreit. Seine grünen Augen funkeln hinter den Gläsern.

Wow. Tolles Lächeln! Vielleicht war es doch nicht ganz umsonst. Veronica taxiert unauffällig ihr Gegenüber. Fragt sich nur, wo der Haken ist.
„Warum ist ein Typ wie du noch Single?“ Mist! Hat sie das gerade laut gesagt?
„Puh.“ Irritiert streicht Mitka sich durch sein kurzes braunes Haar. „Keine Ahnung? Ich habe es mir nicht ausgesucht… Sag‘ mal, bist du immer so direkt?“

Veronicas Wangen beginnen zu glühen. „Sorry, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Vermutlich habe ich heute schon zu viele Enttäuschungen hinter mir.“ In dem Moment wird ihr die Bedeutung ihrer Worte bewusst und sie schlägt sich die Hand vor den Mund.
„Ups.“ Schuldbewusst blickt sie auf die Männerreihe links von Mitka.
Mitka lacht leise auf. „Dann habe ich vielleicht ja noch Chancen!“

Sichtlich entspannter stützt er die Ellbogen auf den Tisch: „Aber jetzt bin ich mal dran. Ich finde, wir sollten einen Gang zurückschalten und ganz klassisch starten. Was machst du beruflich?“ Gespannt schaut Mitka ihr in die Augen.
In ihrem Bauch beginnt es seltsam zu flattern. Sie kann es sich nicht ganz erklären, aber irgendetwas an Mitka zieht sie an. Bloß jetzt nicht die langweilige Buchhalterin raushängen lassen.

„Ähm, ich mache für einen kleinen Familienbetrieb alles was mit Zahlen zu tun hat. Buchhaltung. Budgetplanung. Sowas eben.“
„OK. Du magst also Ordnung. Finde ich gut. Bist du ein Erbsenzähler? Ordnungsfanatiker? I-Tüpfelchen-Reiter? Kontrollfreak?“
Von seiner plötzlichen Direktheit überrumpelt, öffnet Veronica ihren Mund, bringt aber kein Wort hervor. Verlegen schiebt sie sich ihre schwarzen Stirnfransen aus dem Gesicht.
Mitka grinst frech. „Sorry, ich finde das nach deinen Fragen nur fair!“

„OK“, gibt sie ungern zu und lächelt gezwungen. „Ja. Ähm. Tja. Also genau genommen wahrscheinlich schon. Ich mag es, wenn alles am Ende stimmt. Ordnung finde ich gut, es ist schön, wenn alles seinen Platz hat. Ich bin etwas hmm, unflexibel bei manchen Dingen. Möglicherweise bin ich eine ErbsenzählerIN und I-Tüpfelchen-ReiterIN. Zufrieden?“ Uff. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Wenn er jetzt nicht davonläuft, gibt es vielleicht sogar eine Chance auf ein zweites Treffen. „Zumindest suche ich nicht ständig nach einem Haar in der Suppe“, versucht sie noch abzuwiegeln.

Mitka lehnt sich immer noch schmunzelnd zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. „Interessantes Date, muss ich sagen. Das ist das erste Mal, dass ich in den ersten fünf Minuten schon über die Leichen im Keller Bescheid weiß.“
Erleichtert über seine lockere Reaktion auf ihr Geständnis schaltet Veronica in den Flirtmodus: „Was denn für Leichen? Also bitte, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich würde mal sagen, wir kaschieren nur nicht unsere charakterlichen Problemzonen“, flötet Veronica und klimpert dabei übertrieben kokett mit den Wimpern.

Amüsiert schüttelt Mitka den Kopf. „Würde es dir gefallen, wenn ich dir gestehe, dass meine Exfreundin mich verlassen hat, weil ich ihr zu pedantisch bin?“
Veronica prustet los. „Ernsthaft? Nimmst du mich gerade auf den Arm?“
„Nein, ich schwöre! Es hat sie total verrückt gemacht, dass ich immer aufgeräumt habe.“
„Ich fasse es nicht!“, meint sie, immer noch so lachend, dass ihr Pferdeschwanz rechts und links über ihre Schultern tanzt. „Ich finde, das klingt verdammt gut!“, antwortet sie schließlich, und wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

 

Mitka legt beide Handflächen auf den Tisch und beugt sich verschwörerisch nach vorne. „Ich gestehe auch, dass ich dieses Speed-Dating schon verflucht habe. Ich war drauf und dran nach Hause zu gehen. Deine Konkurrenz ist nämlich erschütternd uninteressant.“
„War das jetzt gerade so etwas wie ein Kompliment?“
„Äh, nein. Das war lediglich eine Feststellung. Und noch habe ich mein Urteil über dich noch nicht abgeschlossen. Wer weiß, was du in den nächsten zwei Minuten noch zu beichten hast?“ Vergnügt zwinkert Mitka ihr zu.

„Also gut, dann packe ich jetzt vollständig aus! Bist du bereit?“ Sie holt tief Luft und beginnt aufzuzählen: „Ich hasse Essiggurken und Raucheratem. Wenn jemand von meinem Teller isst, werde ich ungenießbar, ganz besonders, wenn mein perfekter, letzter Bissen ruiniert wird. Ich kann Angeber, Lügner und Heuchler nicht ausstehen, aber ich mag Hunde, Katzen und Babys. Sport ist Mord – es sei denn, wir reden von Schach.“

Mit zusammengekniffenen Augen mustert Mitka sie. „OK“, meint er gedehnt, „Damit kann ich leben. Eine Frage habe ich aber noch: Gilt das mit den Angebern, Heuchlern und Lügnern nur für Männer, oder auch für die gegenderte Variante?“
„Das gilt natürlich auch für sämtliche ‚-Innen‘.“ Kichernd drückt Veronica ihren Pony über den Augen platt.
„Gut, das ist nur fair“ Mitka nickt gespielt ernst und verschränkt dabei die Arme vor der Brust.

„Ach ja, und da ist noch was!“ Veronica fuchtelt mit erhobenem Zeigefinger vor seinem Gesicht.
„Was, noch was? Du entwickelst dich langsam zu einer herausfordernden Persönlichkeit“, setzt Mitka theatralisch hinzu.
„Ja, tut mir leid, aber das muss noch sein: Ich. Hasse. Kosenamen!“ Sie sagt die letzten drei Wörter voller Inbrunst und verschränkt anschließend die Arme provokant vor der Brust.
„Soso. Also kein Schatzi, kein Mausi?“
„Ja, und es gibt von mir auch kein Bärchen, Hase oder Tiger zu hören, nur damit du das gleich weißt.“

„Und wie sieht es mit Spitznamen aus?“
„Bloß nicht! Ich habe zwar einen, aber den darf nur meine beste Freundin Bine verwenden.“
„Lass hören! Oder nein, lass mich raten: Vroni? Veri? Nika?“ Mitkas Augen blitzen vor Neugier. „Oder vielleicht etwas ausgefallener: Roni?“

„Hey, wir kennen uns fast noch nicht, da kann ich doch nicht schon mit solch intimen Details rausrücken!“, empört sich Veronica spaßeshalber.
„Dafür verrate ich dir dann meinen echten Vornamen.“
„Was, dann ist Mitka gar nicht dein richtiger Name?“
„Nö, denn haben mir meine Freunde verpasst, schon in der Grundschule, aber das passt mir, macht mich immerhin einzigartig.“

„OK. Deal.“ Veronica lehnt sich nach vorne, schüttelt Mitkas Hand und flüstert dann verschwörerisch: „Meine Freundin Bine nennt mich ‚Ohneka‘. Weil ich es nicht mag, wenn man meinen Namen falsch schreibt. Ich heiße nämlich Veronica ohne K. Nur mit C. Du weißt schon: I-Tüpfelchen-Reiterin.“

Mitka legt seinen Kopf in den Nacken und lacht schallend, sodass die anderen Teilnehmer sich nach ihm umdrehen.
„Nicht dein Ernst! Unglaublich, deine Freundin ist genial! Ohneka, darauf muss man erst mal kommen. Finde ich echt klasse!“
Dann beugt er sich auch nach vorne, greift nach Veronicas Hand und flüstert: „Ich glaube, das ist ein Zeichen. Mein Name ist nämlich Mika. Mit K.“

 

V3