Von Björn D. Neumann

Der Wind pfiff ihm ins Gesicht und das aufgewirbelte Herbstlaub umspielte seine Füße. Egon Schumann zog missmutig den Kragen seiner beigefarbenen Übergangsjacke höher, streckte den schmerzenden Rücken durch und stakste, immer gestützt auf seinen Spazierstock, durch den Stadtpark. An der großen Wiese am Kinderspielplatz machte er halt. Eine Gruppe Kinder lief johlend einem Papierdrachen hinterher, der fröhlich durch die Luft wirbelte. „Geht das auch ein bisschen leiser?“, rief Egon ihnen hinterher. Die Kinder hielten kurz inne, guckten den alten Mann an, setzten aber unverrichteter Dinge ihr Spiel fort. „Unverschämte Gören!“, murmelte Egon, wischte mit einem Taschentuch seine Hornbrille und ging kopfschüttelnd davon. Noch einmal, kurz vor dem Ausgang des Parks, rannte die Meute links und rechts an ihm vorbei, dass ihm Hören und Sehen verging und er fast gestolpert wäre. „Verdammt nochmal! Könnt ihr nicht aufpassen!“, schimpfte er ihnen nach. Kopfschüttelnd ging er auf den Mülleimer am Ausgang zu, stocherte ein wenig mit dem Spazierstock darin herum und griff letztendlich beherzt hinein. Er zog eine Pfandflasche heraus und wischte sie mit seinem Taschentuch sauber. „Wenigstens hat sich das heute gelohnt“, seufzte er und schob die Flasche zu den anderen in die Einkaufstasche.

Wieder zuhause angekommen, stellte er seinen Schatz in die Abstellkammer. Morgen würde er die Flaschen im Supermarkt eintauschen und sich davon beim Bäcker ein Brot vom Vortag gönnen. Die Rente war trotz eines arbeitsreichen Lebens schmal und gerade am Ende des Monats der Speiseplan mager. Diese Gedanken nahm er zum Anlass, schnell nochmal die Finanzlage zu prüfen.  Er griff sich an die hintere Hosentasche und erschrak. Sie war leer. Dort, wo seine Hand das warme Leder seiner Geldbörse spüren sollte, war nichts. Seine Gedanken überschlugen sich. Da waren noch ein Zwei-Euro-Stück und einige Cents. Die hatte er doch eingeplant. Die Papiere! Neben der Rennerei würde die Wiederbeschaffung auch Unsummen verschlingen. Geld, das er nicht hatte. Er hielt kurz inne. Vielleicht in der Jacke! So schnell er konnte, ging er zur Garderobe, untersuchte die Taschen, drehte das Kleidungsstück auf Links. Nichts. Er überlegte. Wo hatte er die Geldbörse zuletzt in der Hand? Was hat er dann gemacht? Immer kam er zu dem gleichen Schluss. Das können nur diese verdammten Kinder gewesen sein. Alles verzogene, kleine Verbrecher heutzutage. Ohne Respekt und Anstand. Es half ja nichts. Er würde jetzt zu Abend essen und die weiteren Schritte überlegen. Vielleicht die Polizei verständigen? Ach, die tun eh nichts! Oder sich morgen auf die Suche nach den Kindern machen? Was sollte er gegen die kleinen Ganoven ausrichten. Er hätte ja nicht mehr die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. In Gedanken versunken setzte er in der Küche einen Kessel Wasser auf. Zurück im Wohnzimmer blickte er auf das Bild auf der Anrichte. „Ach, Elsbeth, du fehlst mir so.“ 

***

Der Teekessel pfiff und Egon erhob sich ächzend aus dem Fernsehsessel. Gebeugt schlurfte er in die Küche, begleitet von der Stimme des Nachrichtensprechers in der Flimmerkiste. „Autsch!“, rief er, als er sich am heißen Kessel verbrannte. Gerade als er zu einer Wut-Tirade anheben wollte, klingelte es an der Tür. „Wer ist das denn jetzt schon wieder?“, murmelte er vor sich hin. Es klingelte erneut. „Ja, ja, ich komme ja schon!“, rief er ins Leere. Egon betätigte die Gegensprechanlage. „Wer ist da?“

„Hier ist Anne. Anne Müller“, klang es blechern aus dem Lautsprecher und Egon erkannte trotz der Verzerrung, dass es sich um ein kleines Mädchen handeln musste.

„Kenn‘ ich nicht! Was willst du?“, schimpfte er in das Mikrofon.

„Ich habe etwas für Sie“, kam als Antwort.

„Ich brauche nichts. Scher‘ dich weg!“

„Das wollen Sie aber bestimmt haben, Herr Schumann“, piepste es in sein Ohr.

„Wehe, du erlaubst dir hier Späßchen mit mir!“, knurrte Egon und drückte auf den Summer.

Misstrauisch wartete er an der Tür, während er Tippelschritte die Treppen hinauflaufen hörte. Dann sah er ein kleines Mädchen mit Sommersprossen und rotem, zu Zöpfen geflochtenem Haar. Unwillkürlich musste er an Pipi Langstrumpf denken. Lächelte aber nur innerlich und setzte seine griesgrämigste Miene auf. „Also, was hast du?“

Anne streckte ihm einen dunkelbraunen Gegenstand entgegen. Seine Geldbörse!

„Wo hast du die her?“, knurrte Egon.

„Gefunden. Im Park.“

„Soso. Gefunden. Und nicht zufällig aus der Tasche gezogen?“. Egon pflückte die Geldbörse aus ihrer Hand.

„Wäre ich dann hier?“

„Das bedeutet gar nichts.“ Misstrauisch schaute er in das Münzfach. Er zählte 2,83 €. „Na wenigstens ist noch alles da.“

„Hätte ja nicht mal für ein Eis gereicht.“

„Werd‘ mal nicht unverschämt. Hast‘ also zumindest reingeguckt. War der feinen Dame wohl zu wenig zum Klauen und spekulierst jetzt auf Finderlohn. Da muss ich dich enttäuschen. Bei mir ist nichts zu holen.“

„Wie hätte ich Sie denn finden sollen, ohne nach dem Personalausweis zu suchen?“, antwortete Anne jetzt genervt.

„Mmh“, Egon überlegte. „Dann werde ich mich wohl bei dir bedanken müssen.“

„Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man hilft. Auch ohne dass man etwas erwartet.“ Sie machte eine Pause und fügte hinzu: „Und dass man sich bedankt, wenn jemand was Nettes für einen tut.“

Egons Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Scheint ja eine kluge Frau zu sein, deine Mutter. Nun gut. Schönen Dank und auf Wiedersehen.“ Egon wandte sich ab und wollte die Tür schließen. Dann hielt er kurz inne. „Ich habe gerade Teewasser aufgesetzt. Möchtest du auch einen? Pfefferminz?“, fragte er, ohne sich erneut umzudrehen. 

***

Anne blickte auf die vielen gerahmten Bilder, die auf der Anrichte standen. „Wer sind denn die?“, fragte sie, als Egon mit einem Tablett hereinkam.

„Die“, betonte Egon, „sind meine Familie. Meine Frau Elsbeth und das dort ist mein Sohn Thomas.“

„Und wo sind die?“

Egons Blick verschwamm. „Elsbeth ist nun schon 10 Jahre nicht mehr. Und Thomas …“ Egon zögerte kurz. „Thomas und ich, wir sprechen seit Jahren nicht mehr. Er hat jetzt selber eine Familie. Lebt irgendwo in Süddeutschland.“

„Warum sprechen Sie nicht mit ihm?“

„Du stellst ganz schön viele Fragen. Trink deinen Tee. Und hier sind Kekse.“ Egon stellte ihr eine Tasse Tee hin und legte zwei Butterkekse dazu.

„Danke. Liegt das daran, dass Sie so ein Griesgram sind?“

„Also, erlaube Mal!“ Egon spielte den Empörten, musste aber insgeheim ein wenig grinsen. Zum einen beeindruckte ihn der kleine Frechdachs und zum anderen, weil ein kleines Stückchen Wahrheit darin steckte. „Machen sich deine Eltern eigentlich keine Sorgen? Es ist gleich sechs“, versuchte er abzulenken.

„Meine Mutter arbeitet im Krankenhaus und kommt erst heute Nacht heim und einen Vater habe ich nicht.“

„Ach, herrje, du bist ein Schlüsselkind?“

„Ein Schlüssel, was?“, fragte Anne als hätte sie den Begriff noch nie gehört.

„Naja, du hast einen eigenen Schlüssel, weil niemand zuhause ist. Ein Schlüsselkind halt.“

Anne zog eine Kette unter ihrem Pullover hervor, an der zwei Sicherheitsschlüssel hingen. „Scheint so, als wäre ich eins“, sagte sie traurig.

„Macht ja nichts. Hast du eigentlich keine Angst. So allein bei einem Fremden in der Wohnung?“

„Meine Oma kennt Sie. Die wohnt im Nachbarhaus. Ich war vorhin noch bei ihr und sie sagt, Sie wären zwar ein mürrischer Zausel, aber tief im Innern …“ Anne konnte den Satz nicht beenden. 

Egon holte tief Luft. „Du kannst deiner Oma ausrichten…“ Er überlegte und brach ab. „Ich bringe dich jedenfalls nachher heim. Ich wollte eh noch an die frische Luft. Hast du Lust auf ein Kartenspiel? Uno vielleicht? Ich warne dich. Ich verliere äußerst ungern.“

***

Egons Miene verfinsterte sich. „So, junge Dame. Das ist das letzte Spiel. Wenn ich jetzt wieder verliere, werde ich ungemütlich.“

Dieses Mal sah es gut aus. Er hatte acht Partien hintereinander verloren. Aber jetzt nur noch eine Karte abzuwerfen, als er vergaß, „Uno“ zu sagen und zwei Karten nachziehen musste. Gefolgt von einer ganzen Serie von „Nachziehen“-Karten die Anne ablegte. Auch diese Runde ging für ihn „Mit Pauken und Trompeten“ verloren.

Böse blickte er Anne an, die im Sofa zu versinken schien. Dann zuckten seine Mundwinkel und er gluckste, kicherte und dann fing er an zu lachen. Und er lachte und lachte. Es war, als hätte sich in seiner Brust ein Knoten gelöst. Ein Gefühl, das so lange verloren war. Er erinnerte sich, wie er mit Elsbeth gespielt hatte, wie sie gelacht und wie kleine Kinder rumgealbert hatten. Er dachte an Thomas. An die glücklichsten Stunden in seinem Leben. Und es war, als wäre ihm jegliche Last von den Schultern genommen. Langsam verebbte das Lachen und Tränen flossen seine Wangen herab. Halb der Freude der Erinnerung und halb der Trauer über das, was er verloren hatte. 

„Ist alles gut?“, fragte Anne besorgt.

Egon wischte sich die Tränen mit dem Ärmel trocken. „Ja, es ist alles wunderbar. Beim nächsten Mal will ich Revanche. Und jetzt bringe ich dich nach Hause und dann muss ich telefonieren.“

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