Von Ina Rieder

Manchmal frage ich mich, wie sie das macht – so perfekt professionell zu wirken. Charlotte sitzt an ihrem Schreibtisch, der schräg vor meinem steht. Sie starrt frontal auf den Bildschirm und ihre Finger fliegen flink in einem gleichmäßigen Takt über die Tastatur. Vermutlich tippt sie eines der Protokolle ihres direkten Vorgesetzten, Herrn Dr. Wegschneider, der Mann, dem die Frauen vertrauen, ab.

Als Scheidungsanwalt hat er sich den Ruf eines beinharten Verhandlungspartners vor Gericht gemacht, bemüht darum den verflossenen Exmännern in spe das letzte Hemd auszuziehen. Dabei ist ihm jedes Mittel recht, doch das Gefährlichste an ihm, ist sein unwiderstehlicher Charme. Nur Charlotte scheint dagegen immun zu sein.

Die anderen, etwas jüngeren Anwaltsgehilfinnen, schnattern noch vergnügt, nippen an ihren Kaffeetassen oder tauschen sich über das Mittagsmenü in der Kantine aus.

Mein Blick schweift über Charlottes altmodische Kopfhörer, die ihr eine nostalgische Eleganz verleihen. Sie trägt lieber diese, anstatt der modernen „Ear Pads“.

Dass ausgerechnet sie … Das glaubt mir kein Mensch!

Ich bekomme die Bilder von vorletzter Nacht nicht mehr aus dem Kopf.

Ob sie mich erkannt hat? Immerhin haben sich unsere Augen für eine Millisekunde getroffen.

Heute Morgen hat sie sich jedenfalls nichts anmerken lassen. Sie begrüßte mich wie üblich mit einem knappen „Hallo“ und widmete sich dann weiter ihrer Arbeit.

„Guten Tag, die Damen!“

Herrn Wegschneiders tiefe Stimme zieht sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Mit einem herzallerliebsten Lächeln, das selbst welken Blumen wieder Leben einhauchen könnte, betritt er das Büro. Meine Arbeitskolleginnen können ihre Blicke nicht von dem immerwährenden Junggesellen um die Fünfzig lösen. Sie haften an ihm, wie eingebranntes Fett in der Pfanne. Er durchquert mit großen Schritten den Raum und ein Dutzend Augenpaare folgen ihm sehnsüchtig. Einige tuscheln und kichern, während er galant in seinem Büro verschwindet.

Charlotte lässt sich nicht ablenken, wie immer. Meine Gefühle sind gemischt. Nach dieser prekären Begegnung am Wochenende sehe ich ihn in einem anderen Licht. Ich beobachte Charlotte eine Weile. In ihrem schlichten, einfarbigen Kostüm, das nach einem kräftigen Farbklecks schreit, erinnert sie mich an einen Schatten, der leise durch den Raum gleitet und kaum bemerkt wird.

Könntest du dir wenigstens mal die Haare färben?!

Ihre aschblonde Mähne rundet ihr ödes Outfit perfekt ab. Sie scheint mit dem Verfassen des Protokolls fertig zu sein, denn ihre Hände ruhen. Dann wandert ihre Rechte auf den Hals. Ihre Finger tasten sanft über die Haut, als würde sie dort etwas suchen. Plötzlich hält sie inne, ihre Stirn legt sich in Falten, die Augenbrauen ziehen sich zusammen und ihre Lippen öffnen sich leicht. Ein Ausdruck von Verzweiflung zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Sie steht auf und verlässt das Büro.

Ich sehe auf die Uhr. Mittlerweile sind sicher zehn Minuten vergangen.

Wo bleibt sie nur? Das stimmt doch etwas nicht!

Ich stehe auf und sehe nach ihr. Wie vermutet, finde ich sie in der Damentoilette. Charlotte steht vor dem Waschbecken und tupft sich den Bereich unterhalb der Augen mit einem nassen Papiertuch ab.

„Geht es dir gut?“

„Ja, alles okay bei mir“, erwidert sie und gleichzeitig kullern Tränen aus den geröteten Augenwinkeln.

„Sieht aber nicht so aus. Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Ich berühre sie sanft an der Schulter.

„Meine Kette ist weg“, bricht es unerwartet aus ihr hervor. „Ein Erbstück meiner verstorbenen Mutter, das seit Generationen immer von Mutter zur ältesten Tochter übergeben wurde!“

Charlottes Verzweiflung schwappt zu mir über und ich nehme sie in den Arm. Nicht auszudenken, wie ich mich fühlen würde, wenn der altmodische Ring, der meinen Ringfinger ziert, plötzlich weg wäre. Nicht besonders wertvoll, aber das Letzte, das ich von meiner Großmutter habe.

„Das tut mir leid. Wir werden deine Kette finden!”

Charlotte wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln und nickt. „Danke.“

„Wo hast du sie zuletzt gesehen?“

„Ich bin mir nicht sicher, ich hatte sie am Samstagabend noch um, als wir…“

Eine peinliche Stille breitet sich zwischen uns aus. Charlotte sieht betreten zu Boden und ich ringe nach den richtigen Worten.

„Okay, ich verstehe. Ich verspreche dir, das bleibt unter uns! Lass uns Schritt für Schritt vorgehen”, schlage ich vor. „Die öffnen erst wieder am Donnerstagabend. Du versuchst in der Zwischenzeit dort jemanden zu erreichen. Vielleicht haben die deine Kette bereits gefunden.”

Charlotte atmet tief durch. „Ja, das klingt nach einem Plan. Danke, für deine Hilfe.“

„Jederzeit,“ sage ich und zwinkere ihr aufmunternd zu. „Wir werden sie finden.“

„Ich brauche noch einen Moment und versuche gleich dort anzurufen. Sollte ich niemanden erreichen, würdest du mit mir … ich meine …“

„Natürlich begleite ich dich! Wenn wir da tatsächlich noch einmal hinmüssten, könnten wir ja …“

„Arbeit mit Vergnügen verbinden?!“

Wir schauen uns an und unser Lachen hallt von den gekachelten Wänden wider.

Ich empfinde eine merkwürdige Verbundenheit mit dieser Frau, zu der ich vorher ein eher distanziertes Verhältnis hatte.

***

Wir parken gegenüber der Location. Für einen Donnerstagabend scheint es ungewohnt voll zu sein. Links und rechts neben dem Eingang stehen zwei große Palmen, an denen bunte Lichterketten drapiert sind. Ich klingele, kurze Zeit später summt es und die Türe öffnet sich. Der Vorraum erinnert von der Größe her an eine Abstellkammer. Eine Dame im schwarzen Strickpulli, die so gar nicht hierher zu passen scheint, begrüßt uns freundlich, nimmt die Anmeldungen sowie die Eintrittsgebühr, die wir passend in Bar dabeihaben, entgegen. Sie überreicht uns die Schlüssel für die Spinde.

„Viel Spaß!“

„Danke“, erwidere ich.

„Haben sie letztes Wochenende eine Kette gefunden? Gold mit einem kleinen Amulett?“

Die Dame zieht eine Schublade auf.

„Nein, tut mir leid. Alle Fundstücke werden hier deponiert und außer einem Feuerzeug wurde nichts abgegeben.

„Okay, Danke.“ Ein Ausdruck der Enttäuschung breitet sich auf Charlottes Gesicht aus.

Ich trete zuerst durch die Türe, in eine vollkommen andere Welt. Ein leichter Hauch von Vanille und Pfeffer liegt in der Luft. Die Betreiberin des Clubs begrüßt uns wie alte Bekannte. Wir gehen an ihr vorbei und betreten die Umkleide. Kurze Zeit später erinnert mich an Charlotte nichts mehr an ein Mauerblümchen. Das schwarze Korsett mit den silbernen Nieten betont ihre schlanke Taille, ihre Beine wirken durch die Highheels länger und ihre roten, vollen Lippen wecken selbst bei mir erotische Fantasien.

Ich rücke die schwarze Maske, die meine blauen Augen in Szene setzt, zurecht und folge Charlotte, im knappen Lackkleid bekleidet, in das imposante Entrée der Villa.

„Zuerst Drinks?“

„Lass uns bitte nach der Kette suchen! Das lässt mir keine Ruhe.“

„Okay, wo glaubst du, könntest du sie verloren haben?“

„Ich vermute da.“

Charlotte zeigt mit ihrem Finger zu einem der Räume und steuert ihn an. Ein warmes rotes, gedämpftes Licht empfängt uns im Inneren. Ich höre das vertraute Geräusch von Peitschenhieben, die nackte Haut treffen. Ein Stöhnen, das aus der hinteren Ecke des Raumes tönt. Wir passieren ein Pärchen, dass sich lüstern auf einem an einen Thron erinnernden Sitz vergnügt. Es kribbelt in meinen Bauch und zieht wohlig im Unterleib. Erregt folge ich Charlotte, die vor einem der silbernen Käfige stehen bleibt.

„Hier drinnen waren wir.“

Sie öffnet die Türe und steigt hinein. Ich sehe die absurde Szene vergangenen Samstag wieder deutlich vor mir.

Charlotte, im schwarzen „Catsuit “, mit Stiefeln bis zu den Knien, ein Mann, vor ihr auf allen vieren wie ein Hund. Sie, eine Leine, dessen Band um seinen Hals ging, fest im Griff, einen Fuß auf seinem Rücken und er ihren anderen Stiefel genüsslich ableckend.

Als sich unsere Blicke treffen, drehe ich mich reflexartig ab und dann höre ich hinter mir ein: „Gefällt es dir so, meine Herrin?“, da wusste ich sofort, wer ihr „Pet Player“ war.

„Wie kam es eigentlich dazu, dass du und Herr Dr. Wegschneider?“

„Ach, Toni und ich, wir kennen uns schon seit Kindertagen. Das weiß nur niemand und soll auch so bleiben!“

„Keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas. Ich möchte selbst nicht, dass das die Runde macht!“

Charlotte kniet sich auf den Boden und tastet jeden Zentimeter des Teppichs mit ihren Händen ab. „Mist, dass hier Handyverbot herrscht, sonst könnte ich mit der Taschenlampe ausleuchten.“

Ich folge ihrem Beispiel und suche rundherum die Umgebung ab. Doch nichts.

„Seid ihr noch wo anders gewesen?“

„Ja, oben in der ‚Wild Zone‘!“

Na Bravo, denke ich und hoffe, dass es einen Stock höher nicht schon so heftig zur Sache geht, dass wir uns im Vierfüßler-Stand zwischen klatschende, schmatzende Fleischberge hindurchzwängen müssen.

In den „Playrooms“ im ersten Stock ist jedoch zum Glück nichts los. Charlotte greift sich plötzlich auf die Stirn, dreht sich auf dem Absatz um und läuft wieder nach unten.

Was zum Teufel? Ich hole mir jetzt erst mal einen Drink.

Auf dem Weg zur Bar kommt sie mir wieder entgegen. Sie strahlt wie die Sonne im Sommer.

„Ich konnte mich wieder erinnern und habe Toni angerufen, der mir bestätigt hat, dass meine geliebte Kette auf der Ablage seines Spiegels liegt. Dort habe ich sie in jener Nacht abgenommen, bevor ich ins Bett ging. Normalerweise lege ich sie nie ab, aber ich habe unter dem engen Latexanzug so geschwitzt und die Kette hat unangenehm an meiner Haut gerieben, da habe ich sie ausnahmsweise abgenommen und nicht mehr daran gedacht!”

„Dieser ganze Zirkus umsonst!“, erwidere ich und meine Mundwinkel ziehen Richtung Discokugel.

„Ohne dieses Drama hätten wir uns wohl nie besser kennen gelernt. Ich hielt dich immer für eine egozentrische Yuppiebraut!“, erwidert Charlotte glucksend.

„Und ich dich für eine schnöde Schnecke!“

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