Von Irmi Feldman

Pauls Herz schlug ihm bis zum Halse. Die junge Frau, die ihm schon seit Wochen überall auf dem Universitätsgelände über den Weg gelaufen war, stand jetzt mit Rotweinflasche in der einen Hand und Chipstüte in der anderen vor seiner Wohnungstür. An allen möglichen Orten hatte er sie getroffen: In einer Vorlesung, in der Bibliothek, auf den Wegen zwischen den Universitätsgebäuden, in der Mensa. Jedes Mal hatte sie ihm zugelächelt. Einmal sogar zugewinkt. Er war sich nicht sicher gewesen. Hatte sie wirklich ihn gemeint? Er war eher unscheinbar, einer, der in der Menge unterging. Einer, dessen Glanz erst zum Vorschein kam, wenn man sich mit ihm unterhielt. 

Trotzdem schien es ihm ungeheuerlich, dass eine so attraktive Frau ihn überhaupt bemerkte, geschweige denn, Interesse an ihm zeigte. Angesprochen hatte er sie noch nie. Dazu war er zu schüchtern. Er hätte sich ohrfeigen können. Die Zeit lief ihm davon. Er war fertig mit dem Studium, würde die Stadt in zwei Wochen verlassen und nach Berlin ziehen, wo er eine Stelle als Ingenieur gefunden hatte. Auch eine Wohnung hatte er schon.

Doch nun stand sie vor ihm. Das war Felix, seinem besten Freund und Wohngenossen, zu verdanken. Dem nämlich war sie im Supermarkt aufgefallen. Er hatte sie angesprochen und spontan zu seiner Geburtstagsparty eingeladen. Natürlich hatte Felix keine Ahnung, dass sie die geheimnisvolle Frau war, die Paul schon so lange im Kopf herumschwirrte.

Zuerst erstaunt, dann lächelnd, reichte sie Paul Wein und Chips.  

„Endlich!“, flüsterte sie. „Ich bin Isabel.“

Den ganzen Abend unterhielten sie sich. Sie hatten nur Augen füreinander. Sie war eine Austauschstudentin aus Madrid. Ihre Mutter sei Deutsche, mit einem Spanier verheiratet, habe sie ihm anvertraut. Noch nie hatte Paul sich so lebendig gefühlt. So geistig angeregt. So menschlich betroffen. So seelisch berührt. So unsterblich verliebt. In den frühen Morgenstunden landeten sie in Pauls Zimmer und dann in seinem Bett.

Drei Stunden später musste Paul wieder raus und den Frühzug nach Berlin erwischen, wegen der neuen Stelle und der neuen Wohnung. Todunglücklich ließ er Isabel zurück. Bevor sie ginge, versprach sie, werde sie Adresse und Telefonnummer von ihrer Familie in Madrid aufschreiben, denn sie werde am nächsten Morgen nach Spanien zurückkehren. Ja, doch, großes Ehrenwort, sie werde ihre Adresse hinterlassen, hatte sie ihm lachend versprochen, ihn ein letztes Mal geküsst und war gleich darauf erschöpft eingeschlafen.

Als Paul am nächsten Abend aus Berlin zurückkam, suchte er die ganze Wohnung nach Isabels Adresse ab. Zuerst noch mit freudiger Erregung, später in tiefster Panik. Da war keine Adresse. Nirgends.

Ob Felix Isabel gesehen habe an dem Morgen, bevor sie die Wohnung verließ, wollte Paul wissen. Felix verneinte, er habe ja auch zur Uni gemusst. Sie habe sich selbst aus der Wohnung gelassen. Vielleicht sei der Zettel ja im Abfall gelandet, meinte Felix. Nach der Party habe die Wohnung einem Schweinestall geglichen. Er habe Stunden gebraucht, um alles wieder aufzuräumen.

Sie müssen den Abfall durchsuchen, bestimmte Paul. Er gebe nicht auf, bis er Isabels Adresse gefunden habe. Außerdem komme die Müllabfuhr erst morgen früh. Bis weit nach Mitternacht durchwühlten sie die Müllsäcke. Isabels Adresse fanden sie nicht.

Paul war außer sich. Wie soll er Isabel nur finden? Er wusste nur, dass sie aus Madrid war und dort an der Universidad Complutense de Madrid studierte. Er wusste nicht einmal ihren Nachnamen. Auf der Party hatte sie nur mit ihm gesprochen. Über Spanien, über Kunst und Kultur, über Gott und die Welt.

Aber Isabel wisse doch, wo er wohne, warf Felix ein. Sie könne Kontakt mit ihm aufnehmen.

Was aber, wenn sie annimmt, dass er sich nicht meldet, weil er nicht an ihr interessiert sei, warf Paul verzweifelt ein. Sie war stolz. Sie würde ihm nicht hinterherrennen.

Ein paar Tage darauf zog Paul aus. Sein neuer Job in Berlin begann in zwei Tagen. Verzweifelt nahm er Abschied. Felix beruhigte ihn. Er werde ihn sofort benachrichtigen, sollte er etwas von Isabel hören.

Doch Tage wurden zu Wochen. Wochen zu Monaten. Später zu Jahren. Isabel hatte sich nicht gemeldet. Paul war am Boden zerstört. Monatelang war er wie gelähmt. An nichts anderes konnte er denken. Er verfluchte den Tag, an dem er nach Berlin gefahren war und sie zurückgelassen hatte. Warum hatte er sie nicht eingeladen mitzukommen? Die neue Wohnung anzuschauen? Warum hatte er nicht darauf bestanden, dass sie die Adresse sofort aufschrieb? Warum hatte er den Termin in Berlin nicht sausen lassen? Warum war er nicht bei ihr im Bett geblieben?

Das Leben ging weiter. Er war erfolgreich in seinem Job. In den Urlauben und an langen Wochenenden flog er nach Madrid. Er wanderte durch die Straßen immer nach Isabel Ausschau haltend. In Abendkursen lernte er Spanisch. Er nahm sogar Kontakt mit der Deutschen Schule in Madrid auf. Sie musste dort einst Schülerin gewesen sein. Stundenlang trieb er sich auf dem Campus der Universität herum, immer in der Hoffnung, sie dort anzutreffen. Alles Fehlanzeige. Er besuchte jedes Museum, jede Ausstellung, sah Hunderte von Filmen und studierte die Geschichte und Kultur Spaniens. Er gab nicht auf. Er würde sie finden. Mit der Zeit lernte er Spanien kennen und lieben. Dort fühlte er sich lebendig. Er sah das Land durch Isabels Augen. Er war ihr nahe, auch wenn er nicht wusste, wo sie war. 

Einmal im Jahr, am Jahrestag ihres Treffens, schrieb er ihr einen Brief, in dem er ihr seine Gefühle darlegte. Gefühle, die mit den Jahren eher stärker wurden. Da er die Briefe nicht abschicken konnte, sammelte er sie in einer Schachtel. Eines Tages würde Isabel diese Briefe lesen. Davon war er überzeugt.

Irgendwann in diesen Jahren hatte Paul auch geheiratet. Doch die Ehe hielt nicht lange an. Paul konnte seiner Frau nicht die Zuwendung geben, die sie verdiente. Sie ließen sich scheiden. Zum Glück gab es keine Kinder. Seither lebte Paul wieder allein.

***

Wohl schon zum Tausendsten Mal hielt Felix den kleinen grünen Zettel in seiner Hand. Abgegriffen war er, achtlos herausgerissen aus einem Block vor so vielen Jahren. Tausend Mal auseinander- und wieder zusammengefaltet. Wie Origami. Jeder Faltgang einstudiert und mechanisch ausgeführt. In den letzten Jahren war es schwieriger geworden wegen seiner früh eingesetzten Arthritis.

Mit schmerzenden Fingern faltete Felix auch jetzt den Zettel auseinander. Er fühlte sich schwach. War verwirrt. Sein Kopf schmerzte. Die letzte Bestrahlung hatte nicht den erwünschten Erfolg gehabt. Trotzdem erinnerte er sich an jedes Wort, jede Zeile auf dem Zettel. Es war fast wie ein Gebet. Der Text eingebrannt in sein Gedächtnis: Isabel Martinez de Orujo Bader, Calle de Velazquez 39, Madrid, Spanien.

Auch was unter der Adresse stand, konnte er auswendig Wort für Wort vortragen. Wie sehr Isabel sich darüber gefreut habe, dass sie und Paul sich nahegekommen seien. Er sei ihr Seelenverwandter. Noch nie habe sie sich so eins gefühlt mit einer Person. War das Liebe?

Felix seufzte. Wie viele Jahre war es nun her, seit er den Zettel gefunden hatte? Warum nur hatte er Paul damals nicht sofort in Berlin verständigt? Er wusste es noch wie gestern. Er hatte Pauls Zimmer für den nächsten Mitbewohner vorbereitet. Weil die alte Matratze auf der einen Seite so durchgelegen war, hatte er sie umgedreht. Und da hatte er den grünen Zettel gefunden, der zwischen Matratze und Bettgestell gerutscht war.  

Wie gelähmt hatte er auf den Zettel gestarrt. Er wusste, dass er jetzt sofort nach dem Telefon greifen sollte, nein, greifen musste, um Paul die freudige Mitteilung zu machen. Und doch tat er es nicht. Er tat es nicht. Auch nicht nach einer Stunde. Auch nicht am Abend oder am nächsten Tag. Warum nicht? Er wusste es nicht mehr. War es, weil er Paul diese Beziehung nicht gönnte? War es, weil er insgeheim sauer auf Paul war, dass dieser seinen Vorschlag mit ihm eine Firma zu gründen so abrupt abgelehnt hatte? Wollte er Paul einen Streich spielen? Aber Paul war sein bester Freund. Er wusste, wie sehr Paul darunter litt, dass er keinen Kontakt mit Isabel aufnehmen konnte.

Doch auch nach einer Woche benachrichtigte er Paul nicht. Sagte kein Wort, obwohl Paul jeden Tag anrief und nachfragte, ob er denn Isabels Adresse gefunden habe.

Felix blieb auch stumm, als nach etwa drei Monaten ein Brief von Isabel ankam. Felix öffnete ihn. Isabel wollte wissen, ob er, Paul, denn ihre Adresse gefunden habe. Warum er nie geschrieben habe? Ob er sie vermisse? Dass auch sie ihn vermisse. Schrecklich vermisse. Dass sie ständig an ihn denken müsse.

Jetzt wäre es so einfach gewesen, ihren Brief an Paul weiterzureichen. Und doch tat er es nicht. Warum nicht? Er wusste es beim besten Willen nicht mehr.

Mit der Zeit wurde der Kontakt zwischen Felix und Paul immer weniger, bis Felix ihn ganz abbrach.

***

Der Umschlag war groß und gelb, so dass er kaum in Pauls Briefkasten passte. Drinnen steckten zwei kleinere Umschläge. Der eine war von einem Anwalt, der ihm mitteilte, dass Felix Wegener an einem Gehirntumor verstorben sei. In seinen Nachlasspapieren habe man diesen Brief gefunden, mit der Anordnung, ihn nach seinem Ableben an Paul weiterzuleiten. 

Verwirrt riss Paul den kleinen Umschlag auf. Darin fand er einen zerfledderten Zettel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Noch bevor er ihn vorsichtig auseinanderfaltete, wusste er, was es war.

Keine drei Stunden später saß Paul im Flugzeug nach Madrid. Mit vierunddreißig Briefen im Handgepäck.

Ende

© Irmi Feldman 2025, v1; 9514z