Von Christian Günther
Dezember 2021.
Wir saßen mit FFP2-Masken im Konferenzzimmer des Reviers. Die Uniformierte Lena war undercover im Altenheim von Judiths Omma Irmi als ungelernte Pflegerin eingeschleust, um zu Fortschritten in einer Diebstahlserie zu gelangen. Für sie war der Einsatz kein Problem, denn ihre Freundin war examiniert und die achtundzwanzigjährige Lena von Haus aus vielfältig denkend und vielseitig interessiert.
Chefin Romina klatschte in die Hände. »Lena, dann erzählen Sie, was der erste Tag an Erkenntnissen gebracht hat.«
Die Angesprochene beugte sich vor. »Nun …«
Im selben Moment klopfte es an der geöffneten Tür und die Stellvertretung winkte der Chefin zu. »Ein Gespräch aus Velbert, dienstlich, sehr wichtig.«
»Gut.« Romina seufzte. »Wir setzen gleich fort.«
Ich zwinkerte ihr zu. »Die nächsten Sendungen verschieben sich …«
»Ich verschieb Dich gleich, Nick, und zwar zur Verkehrsüberwachung.«
»War jetzt nisso unbedingt mein Karriereziel.«
»Eben.« Nun zwinkerte Romina mir zu und verließ den Raum.
Lenas Handy verkündete nach dem Schließen der Tür eine Nachricht.
»Du bist aber mutig«, fand Judith.
Lena kramte das Telefon hervor. »Ton an!«
»Et scheint so, ne?«
Lena las den Text auf dem Display. »Shit!«
»Wat is?«, fragte ich.
»Sie findet ihn partout nüscht.«
»Wen?«, wollte Judith wissen.
»Unsern Freundschaftsring.«
An ihren beiden Händen war keiner zu sehen.
»’n Ring? Wo is’n Deiner?«
»Im Dienst trag ich en nüscht, und inne Pflege sowieso nüscht. Kein Schmuck, kurze Nägel, keine offenen Haare, dit hat hygienische Gründe. Lernste früh inne Ausbildung.«
»Is dat nun fest bei Euch, Lena?«, erkundigte ich mich.
»Obwohl, warum nur Freundschaft?«, fügte Judith hinzu.
»Am bisherigen System ändert sich nüscht«, antwortete Lena. »Wenn jemand von uns Bock auf ’nen Kerl hat, iss bei uns nix. Die Freiheit behalten wir uns bei.«
»Samma, hasse ’en Ring dabei, Lena? Darf ich en sehn?«
»Klar, hab ick!« Sie nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche. »Seit wann interessierste Dich für Schmuck, Judith? Trägst doch nur Dei’n Ehering? Hier!« Das gute Stück wurde auf den Tisch gelegt.
Judith beugte sich vor und nahm ihn in die Hand. »Ansehn gern, Tragen muss nich unbedingt. Wow, der hat wat! War sicher nich billig?«
»Fast achthundert, also sieben-siebzig.«
»Aber Eure Wohnungen behaltet Ihr?«
»Klar! Nich wie Ihr, die dann doch zusammenzogen.«
»Dat war ’em Vorfall mit ’em Spitzel geschuldet, als ich dacht, mein letztes Stündlein hätt geschlagen. Danach hab ich umgedacht und bereu diese Entscheidung nich. ’n eigenes Zimmerken hätt ich, wenn ich ’n Rückzugsort brauch. Aber dann is Nick inne Nähe, wenn ich et mir spontan anders überleg, nich, Nick?«
»Als Du in Rüttenscheid wohntest und ich in Werden, da war dat umständlicher«, erinnerte ich mich. »Wat is mit ’em Ring Deiner Freundin, Lena? Verloren?«
»Yep!«, bestätigte sie. »Sie wohnt vor der Brücke und war mit ’ner Kollegin au’m Weg nahaus na’m Dienst. Da hatten se vor ’n paar Tagen ’n intensives Gesprächsthema, recht gestenreich. Dabei iss et passiert, sicher! Ick hab ihr gleich jesacht, der iss zu locker. Als se später Duschen wollte, iss et ihr aufgefallen. Wir ham die Wohnung mehrfach auf ’en Kopp gestellt, sind ’en Weg mehrmals gegangen und bei ’em Fundbüro war se, nix bisher! Wir sind lang ohne Ring ausgekommen, aber als wir bei ’en Ermittlungen zum Flugzeugabsturz inne Ruhr richtig Zoff hatten und uns bei ’ner langen Aussprache versöhnten, fiel die Entscheidung. Natürlich mussten wir ’n bisserl darauf sparen, vor ’nem Monat konnten wir et uns leisten. Dit iss ’n anderes Gefühl, ’ne noch tiefere Verbundenheit, die wir zusätzlich nach außen zeigen. War dat bei Euch nich der Fall nach der Hochzeit mit ’en Goldenen?«
»Doch, na klaro! Vor allem für mich, die lang nich mehr dran geglaubt hat, dat se so wat eingeht.« Judith gab Lena den Schmuck zurück. »Doll, sehr dolle, Dein Ring! Worüber ham die denn soo intensiv gequasselt?«
»Die Impfplicht für Pflegekräfte!«
»Die Impfplicht?«, wiederholte ich.
»Meine Freundin möcht diese mRNA-Plörre nich. Gegen Hepatitis iss se geimpft, bei ähnlich konzipiertem Stoff hätte se weniger Bedenken. Aber sie will ’ne eigene Entscheidung treffen, wie wir, wie alle inne Gesellschaft. Ihr seid doch ooch nüscht, odda?«
»Stimmt«, nickte Judith, »ich bin immer noch unentschlossen und Nick wat skeptisch. Wir entscheiden dat gemeinsam, wie allet andere im Leben.«
»Ihr seid bekannt dafür, dat Ihr et stets so handhabt.«
»Issoch selbstverständlich«, pflichtete ich meiner Gattin bei. »Bis jetzt ham wir immer ’ne Lösung gefunden, wie bei Judith ’n Käffken nur vor Mitternacht, zum Beispiel. So sollt et sein, dat alle Beteiligten sich mit ’nem Kompromiss arrangieren können.«
»Bei Euch! Die Schwester meiner Mutter und ihr Mann ham sich wegen Impfdebatte getrennt, weil sie dit nich wie Ihr konnten. Streiten nun um et Sorgerecht für de beiden Mädels, sechs und drei. Die Armen, wie die darunter leiden, weil sie nich verstehen, wat ihre Eltern plötzlich ham. Warum nix mehr wie zuvor iss, heile Welt zerstört.«
»Die Entscheidung hat ’ne Tragweite«, meinte Judith, »dat darf niemand außer Acht lassen. Wir sind sehr vorsichtig, am besten et gar nich erst kriegen. Dat is gefährlicher als ’n Schnüppken. Wer dat leugnet, hat se nich alle! Wir sind außerhalb vonne Wohnung nur mit Maske unterwegs, oder bei Treffen mit de Familie. Et läuft auch viel über Telefon, dat is momentan so. Desinfektionsmittel is stets griffbereit, de Händkes oft waschen. Inne Pflege wird sich immer auffe vulnerable Gruppe bezogen, wie zu hören is.«
»Die iss vulnerabel, dit steht außer Frage.«
»Mit denen hat jeder Kontakt, irgendwie.«
»Stimmt schon, aber nisso engen. Dat muss man sagen. Allerdings hat die Pflege öfters mit Hygiene zu tun und iss geschult. Bei ihnen iss Corona öfter ausgebrochen, stets von unvorsichtigen Angehörigen reingeschleppt. Wenn ich die Alten und Kranken schützen will, dann muss ich doch erst diese Leute impfen, oder eben alle. Warum einzig die Pflegekräfte verdonnern? Bei ’ner allgemeinen oder altersbedingten Impfpflicht kneifen die Verantwortlichen den Schwanz ein, dat trauen die sich nich! Zu viele Wahlberechtigte betreffend? Als wärn Pflegekräfte Menschen zweiter Klasse, nur blöde Arschabwischer! Selbst …«
»Is ’n sehr ehrenwerter Beruf«, unterbrach ich.
»Für Dich, Nick … und für Dich, Judith«, fügte sie eilig hinzu, als sich meine Partnerin auffällig räusperte. »Aber, wat ich sagen wollt: Selbst Geimpfte dürfen nüscht malochen bei ’nem positiven Test. Klar, diese Impfe schützt nich vor Ansteckung Fremder. Wenn dit so wär, wär dit wat anderes. Aber sie iss ’n Eigenschutz, soll schweren Verläufen vorbeugen. Bei Verbrechern gilt: Im Zweifel für den Angeklagten. Nur: Wat ham Pflegekräfte verbrochen? Anerkennung für den pflegerischen Beruf iss zwar nix Materielles wie der Ring, doch iss et ’n weiterer Verlust, wat hier passiert. Wozu die Verpflichtung? Ick hoff, dat viele klagen und dat dat BVerfG ihnen recht gibt. Recht geben muss! Die können zu keinem andern Ergebnis kommen, ansonsten wär dit ’n Fehlurteil. Dann wär dat BVerfG für mich als oberste Instanz nich mehr tragbar.«
»De Kollegin is geimpft?«, hakte Judith ein.
»Natürlich! Die war eine der Ersten und der Stolzesten, wat se da gemacht hat. Sie will nun alle bekehren und hat den Chef auf ihrer Seite. Wer dit nich tut oder tun lassen will, iss für sie automatisch Corona-Leugner und Impfverweigerer. Ihr iss die Verachtung denen gegenüber regelrecht anzusehen.«
»Dat wird inne Gesellschaft generell nich getrennt und nich differenziert betrachtet«, erwiderte ich nachdenklich. »’ne sachliche Debatte kannsse Dir wünschen, wird aber nich passiern. Dafür is et zu aufgeheizt.«
»Iss selbst in dem Hause unmöglich. Da gab et ’ne Bewohnerin, die sich nüscht impfen lassen wollte. Sie ist über achtzig, meint, wenn der liebe Gott sie holen wolle, würde er dieses tun. Zu dem Zeitpunkt, den er für richtig hält. Da iss glatt so ’ne Tusse von ’em Sozialdienst bei ihr aufgekreuzt und hat ihr angedroht, dat se dat Zimmer nie mehr verlassen darf. Weil sie ’ne Gefahr für alle andern iss. Die hat sich unter dem Druck impfen lassen, hat de Impfe nisso jut so vertragen und iss am selben Tag schwer gestürzt. Hat ’nen komplizierten Oberschenkelhalsbruch und wird aus dem Grunde gegebenenfalls bettlägrig sein für den Rest ihres Lebens. Vorher mobil, nun ans Zimmer gefesselt, eventuell für immer.«
»Schrecklich«, fand Judith. »Die wird doch ihres Lebens jetzt nich mehr froh. Nee, so ’n Druck dürft nie ausgeübt werden. Krass, wat da abgeht!«
»Genau, wegen so ’ner blöden Tusse, ich könnt die er…« Sie stockte. »Nee, dit sprech ick inne Gegenwart vonne Zivilfahndung besser nicht aus, wa?«
»Nick vergisst wegen seines hohen Alters manchmal Dinge«, beruhigte Judith sie. »Hab ihn schon auf zig Wartelisten von Heimen ausse Gegend gesetzt.«
»Der Älteste, mit dem ich … ähm, naja … war sechzig. Iss in höherem Alter kein Ding der Unmöglichkeit und kann befriedigend sein.«
»Ich halt ihn mir dafür schon fit, keine Sorge.«
»Ich bin nur zehn Jahre älter als Du«, erinnerte ich Judith. »Dreiundvierzig, übrigens! Aber wenn Heim, dann bitte nich da, wo Lenas Freundin arbeitet, beziehungsweise diese Tussi.«
»Wenne artig bist, zieh ich die Anfrage dort zurück.«
»Darum möcht ich Dich gerne bitten, wär mir lieber.«
»Mach ich gleich morgen«, beschloss Judith, als Romina zur Tür hereinkam.
»Was machst Du morgen?«, fragte die Chefin. »Den Heimdieb verhaften?«
»Ich hätt nix dagegen, wenn wir den schnell fassen.«
»Aber vorher habt Ihr ’nen anderen Einsatz.« Sie schwenkte einen Zettel, bevor sie ihn mir gab. »Hat Moment länger gedauert, weil noch ein weiterer Anruf kam.«
»Der Juwelier in Kettwig?«, las ich.
»Mit An- und Verkauf«, bestätigte Romina. »Er ist sicher, dass ein Typ ihm eben einen Ring angeboten hat, den er selber vor Kurzem erst zwei netten jungen Frauen um die dreißig verkauft hat. Ist zum Schein darauf eingegangen. Die Adresse des Mannes hat er, so war es unauffälliger, und hat danach direkt uns informiert.«
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