Von Agnes Decker

Zack. Der Scheinwerfer geht an. Das Getuschel auf den Rängen verstummt. Hier und da noch ein Rascheln. Dann wird es still. Die Blicke richten sich auf die Gestalt im Zentrum des Lichtes. Der Mann mit der roten Perücke, die ebenso rot ist wie seine Nase, der eine weiße Rüschenbluse trägt und riesige Schuhe, und dessen bunte, viel zu große Hose nur dank der Hosenträger am Körper bleibt, dieser kleine Mann steht einfach da. Schaut die Menschen an, die ihn anschauen. Ganz langsam zieht er die Winkel des roten, von grellem Weiß umschlossenen Mundes nach oben, und lässt sie wieder fallen. Hebt die Schultern. Bis neben seine Ohren. Im Publikum wird gekichert. 

Zack. Das Licht geht aus. Zack. Wieder an. Der rote Mund bildet jetzt ein kreisrundes O. Der Mann streckt seinen Oberkörper vor. Sitzreihe für Sitzreihe, ZuschauerIn für ZuschauerIn scheint er zu taxieren. Dabei wird das O immer größer. Selbstvergessen dreht er sich im Kreis, hebt die Hände wie ein Dirigent. „Ohh“, macht das Publikum. „Ohh.“  Seine Hände gehen nach oben.  Wedeln, drängeln. Das Publikums-Ohh wird lauter. Und, als er den Zeigefinger vor den Mund hält, wird es leiser, immer leiser, bis es verstummt. Zack. Licht aus. Jetzt wird gelacht im Publikum und geklatscht.

Zack. Wieder im Licht. Der Mann hat seine Mundwinkel nach unten fallen lassen. Der große, rote Mund verzieht sich wie bei einem Säugling. Beginnt zu zucken und zu zittern. Die Bewegung setzt sich fort. Ergreift zuerst das Gesicht, setzt sich fort über die Schultern, den Oberkörper, bis zu den Knien. Schließlich schlottert der ganze Körper. Wie ein Busch im Sturm. Wie in Zeitlupe hebt er, Zentimeter für Zentimeter, seine Hand. Schaut sie an. Führt sie bis vor sein Gesicht. Spreizt Zeige- und Mittelfinger auseinander und schaut hindurch. Dreht sich wieder im Kreis. Es wird gelacht, zuerst vereinzelt, dann mehr und mehr. Immer noch zitternd geht der kleine Mann in seinem bunten Kostüm rückwärts bis zum Vorhang. Klammert sich dort fest. Zack. Der Scheinwerfer erlischt. Gleichzeitig wird es hell in der Manege. Musik erklingt. Artisten in glitzernden Kostümen ziehen durch das Rund und winken, verschwinden durch den Vorhang. Der Clown als Letzter. Bleibt noch einmal alleine mitten in der Manege stehen und verzieht sein Gesicht zu einem runden Ohh. Dann schlägt er einen Salto und läuft hinaus. 

Im Eingangsbereich riecht es nach frisch geröstetem Popcorn. „Tata tatatata tata tata ta, tata…“ Die blecherne Musik übertönt alle Geräusche. Ich presse mich durch die Menschenmenge. Da steht er. Hält einen Tiegel in der Hand. Er fährt mit dem Zeigefinger hinein und dann über die Nase des kleinen Jungen, der vor ihm steht und ihn anstrahlt. Eltern mit Kindern an der Hand drängen sich zwischen mich und ihn. Ich benutze meine Ellenbogen. Schiebe die Menschen, die mich von ihm trennen, zur Seite. Bis ich direkt vor ihm bin. Wir schauen uns an. Die weiße Schminke hat sich tief in die Falten seines Gesichtes gegraben. Er lächelt. Ich spüre, wie sich auch mein Mund zu einem breiten Grinsen verzieht. 

„Das ist lustig. Was Sie dort machen, meine ich. Gefällt mir“, sage ich. 

Er lächelt immer noch. Greift in den Tiegel und tupft mit seinem Zeigefinger auf meine Nasenspitze. 

„Jetzt du bist auch Clown“, sagt er mit einer für so einen kleinen Mann ungewöhnlich tiefen Stimme. 

„Danke“, erwidere ich. „Das bin ich tatsächlich. Habe mal in der Schulzeit bei einem Zirkusprojekt mitgemacht. Seitdem hat er mich gepackt, der Zirkus.“ Ich räuspere mich. „Ja, und ich trete auf. Werde viel gebucht, für Kindergeburtstage und Feste an Schulen und Kindergärten. Bisher ist es leider nur ein Hobby, würde gerne mehr draus machen.“ 

„Pippo.“ Er streckt mir seine Hand entgegen. „Wie dein Name?“

Ich lege meine feuchtkalte Hand in seine, die trocken und warm ist. „Ich bin Danny. Das ist mein Künstlername, wenn ich, ähm, wenn ich auftrete, meine ich.“ Ich spüre, wie Hitze an meinem Hals hochkriecht und Stück für Stück mein Gesicht überzieht. 

„Künstlername“, sagt Pippo und sein Lächeln wird breiter. „Hi, Danny. Welcome. Kollege. Machen wir zusammen Training?  Kannst du kommen morgen. 7.00 Uhr.“ Er zwinkert mir zu. „Morgens. Jetzt muss ich machen rote Nasen.“ Dann dreht er sich um.

Ich verlasse das Zelt. Wie in Trance gehe ich über den feuchten Rasen, vorbei an den Ponys, Eseln, Ziegen und Dromedaren, die auf einem abgesteckten Areal weiden. Ich schlage den Kragen meines Parkas hoch. Es regnet. Seit Tagen fast ununterbrochen. Vor mir ragen grau die Umrisse der Hochbahnstation auf. „Tata tatatata….“. Leiser wird die blecherne Musik, bis ich sie nicht mehr hören kann. Als ich das Gleis erreiche, fährt meine Bahn ein. Ich lasse mich auf einen freien Sitz fallen. 

„Kannst du kommen morgen zu Training. 7.00 Uhr.“ Hat er das wirklich gesagt? Zu mir? Meine Beine zittern ein wenig. Ich weiß nicht recht, ob aus Freude oder…? Warum konnte ich mal wieder mein großes Maul nicht halten? Morgen früh um 7.00 Uhr. Er hat bestimmt einen Witz gemacht. Oder? Morgen ist Samstag und ich habe frei.

 

Als ich am nächsten Morgen die Hochbahnstation verlasse, blitzt die Sonne zwischen den regenschweren Wolken hervor und taucht das Zirkuszelt in ein unwirkliches Licht. Etwas zögerlich, den Rucksack mit meinen Trainingsklamotten über der rechten Schulter, gehe ich an den weidenden Tieren vorbei. Vorbei an den Wohnwagen, in denen noch Licht brennt und bleibe vor dem Zelteingang stehen. 

„Hi. Danny. Richtig?“ Der Vorhang teilt sich und ein kleiner Mann tritt heraus. Er trägt eine dunkelblaue Hose, ein weißes Shirt und schwarze Turnschuhe. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass dieser Mann mit der Glatze und dem faltigen Gesicht Pippo sein muss. Unscheinbar sieht er aus. Ohne Kostüm. 

„Hi“, antworte ich und deute auf meinen Rucksack: „Ich müsste mich noch umziehen.“

„Komm mit.“ Pippo grinst mich an, und geht voraus. Die Manege ist hell beleuchtet und leer. Es riecht nach Schweiß und Sägemehl. „Du kannst legen deine Kleider auf Rand von Manege.“ Dann dreht er mir den Rücken zu und beginnt, seine Arme und Beine zu dehnen. Schnell schlüpfe ich aus Schuhen, Jacke, Jeans und Sweatshirt und ziehe meine Trainingsklamotten über, eine glänzende türkis-schwarze Hose und ein schwarzes hautenges Shirt. Dazu schneeweiße Sneakers.

„Fertig“, rufe ich und beginne ebenfalls mit ein paar Dehnübungen.

„Ok.“, Pippo stellt sich mir gegenüber auf. „Erst mal warm machen“, sagt er mit seiner sonoren Stimme und beginnt mit Kniebeugen. 

Eins, zwei, drei… . Bis zehn zähle ich, und spüre, wie meine Kräfte schon nachlassen. Pippo beschleunigt das Tempo. Mein Atem geht keuchend. Der Schweiß läuft in Bächen über meinen Rücken und unter den Achseln herab bis zum Hosenbund. Wann habe ich mich zuletzt sportlich betätigt? Pippo schlenkert mit den Armen, geht noch ein paar Mal in die Hocke, lässt sich von dort aus nach vorne fallen.

 „Liegestützen“, ruft er mir zu. 

Mühsam beuge ich mich nach unten und folge seinen Bewegungen. Rauf, runter, rauf, runter. Ich kann nicht mehr, werde langsamer, setze mich hin und wische mir den Schweiß von der Stirn. Pippo grinst und macht weiter. Rauf, runter, rauf, runter… Endlich stoppt er. Steht auf, macht einen Handstand und lässt sich herabsinken, bis er auf dem Kopf steht. Mit Schwung springt er wieder auf die Beine und grinst mich an. „Jetzt du.“ 

Den Handstand bekomme ich so grade noch hin. Mein Atem kommt pfeifend aus meiner Brust. Ich spüre sämtliche Muskeln. Sinke auf den Boden. „Gibt es keine Matte?“, presse ich heraus.

Pippo lacht schallend. „Hast du schon mal Clown auf Matte gesehen“, ruft er mir zu und läuft schon  wieder los, schlägt einen Salto nach dem anderen, dann einen Flickflack, kommt auf den Händen auf und läuft so mehrere Runden durch die Manege. Kurz vor mir hält er an, springt auf die Beine und schaut mir direkt ins Gesicht. „Los, Danny. Kollege.“ 

Ich schüttele den Kopf. „Das kann ich nicht.“

„Was du machst auf Bühne?“ Pippo hat sich vor mir aufgebaut und schaut mich fragend an.

 „Auf der Bühne? Da bin ich lustig. Mache Unsinn. Wie ein Clown halt“, stammele ich und denke an den letzten Auftritt. Wie ich mit großen Gesten in einem glitzernden Kostüm vor die Kinder getreten bin, sie an den Ohren gezogen, lustige Geschichten erzählt und so getan habe, als könne ich Trompete spielen. Dabei kamen nur schräge Töne heraus. 

Pippo schaut mich immer noch an. Von oben bis unten. „Lustig“, sagt er. „Wenn ich stehe in Manege und mache so…“ Er zieht die Mundwinkel nach unten und lässt die Schultern fallen „…dann ist alles da drin, was ich habe gelernt.“

Ich sehe, wie seine Halsmuskeln hervortreten, sein Körper sich anspannt, vom Gesicht bis zu den Fußspitzen und wie er mit seiner Präsenz die ganze Manege ausfüllt. 

„Wie lange hast du gelernt?“, frage ich.

„Fünf Jahre Schule für Artisten in Milano, meine Heimat. War ich noch jung. Seitdem, jeden Tag in Leben Training. Vier Stunden, sechs Stunden.“  Pippos Gesicht ist ernst. „Harte Arbeit. Und du, Danny? Clown Danny? Wie lange du hast gelernt? Und wie oft du trainierst?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, fährt Pippo mit seinem Training fort. Handstand, Salto vor und zurück, Flickflack, Kopfstand. Ich schaue ihm zu. Dann nehme ich meine Kleidung, stopfe sie in den Rucksack, werfe den Parka über die Schulter und verlasse das Zelt.

Am Abend bin ich wieder da. Die letzte Vorstellung. Ich sitze in der ersten Reihe. Am Ende bleibt Pippo vor mir stehen, schlägt einen Salto aus dem Stand. Schaut mich an. Zieht mit dem Zeigefinger ein Augenlid herunter. Ich zwinkere zurück. Ich habe verstanden. 

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