Von Kornelia Wulf

Herr Paul streicht über die kühle Stirn. Wie schade, seufzt er, um dieses unermessliche Blau, in dem man gern ertrinken mag, während er ihre Lider schließt – denn so ist es Brauch – und die Haut mit einem dezenten Hauch überzieht. Nachdem er den Körper gründlich gewaschen hatte, wählte Herr Paul das Tages Make-Up, Farbton Nr. 8. Das Desinfektionsmittel zwischen Handflächen und Fingern verreibend, schaut er auf sein Werk hinab. Und die Zufriedenheit baut ihr wärmendes Nest in ihm auf. So jung diese Frau, denkt er, fast noch Kind. Doch der Schlag des Schicksals – er fackelte nicht lange. Griff unerbittlich zu mit eiserner Zange. Und man fragt sich, hatte sie Strafe verdient, weil ihr Leichtsinn Funken sprühte, das Longboard auf der vielbefahrenen Straße Schlange spielte? 

Hey, Paul, mahnt die Ordnungsstimme in ihm, das geht dich nichts an. Bestellt wurdest du nur für die äußere Hülle – sozusagen als Maskenbildner für den letzten Akt auf der Bühne, bevor der Vorhang endgültig fällt – nicht für Finessen der Seelenkosmetik. 

Noch einmal schaut er sie zärtlich an. Berührt scheu ihre Wangen, bevor er weit das Fenster öffnet und sein Tagewerk beendet.

„Lass Luft herein“, ruft Manja immer, „die Seele braucht Licht und Raum und Weite, um ihre Flügel zu entfalten.“ Und hinten im Garten nahe dem Fluss nicken die Kätzchen der Silberweide, als könnten sie fremde Gedanken empfangen. Mild weht der Abendwind durch das Fenster. Trägt den Geruch von Gleichmut herein – weißer Tüll bläht sich träge auf -, bevor er die Läden wieder verschließt. 

Die Schürze im Müllsack ordentlich gefaltet, verlässt er den Raum. Und während er über den Läufer im Korridor schreitet, vorbei an Büro und Kunden-WC, verschluckt der Flor den Absatzklang – wie ein Kater auf schwarzpolierten Tatzen kommt er sich vor -, bevor er die Tür öffnet, rechte Seite, den Eingang in die privaten Bereiche. Ein leises Klappern, Manja sitzt in der Küche. Der Duft von Jasmin schwebt durch den Raum. Und die bauchige Kanne vom Stövchen hebend, schenkt sie ihm den Abendtee ein. Er stiert auf den aus der Tasse aufsteigenden Dampf. Vielleicht lieber ein Glas reinen Wein aus dem Kühlschrank? 

Doch nein, Herr Paul seufzt auf, die Ordnungsstimme sagt, dass es zu früh dafür sei. 

Einen Moment lang. Sitzen. Schweigen. Bis sein Blick sie umkosend einfängt. Es drängt ihn, über ihr Haar zu streichen, vom Abendlicht in flüssigen Bernstein getaucht, über die Mähne in Wellen fallend, an der sich alle Kämme die Zähne ausbeißen. Er sucht in seiner Hosentasche, das rechte Bein lang gestreckt, bis er sie ertastet in einer Falte und die Haarspange aus dem Taftfutter zieht. 

Manja lacht auf, kraust ihre Stirn. „Wieder ein Fundstück für deine Sammlung?“  

Und ihr Blick fällt auf das dunkle Schränkchen, neben der Spüle aufgebaut. Versehen mit den kleinen Schubfächern, jedes einzelne mit einer Nummer beklebt. Herr Paul hatte in Ebenholz investiert. Das halte ewig, sagte der Schreiner seines Vertrauens. Nur drei Schritte – er steht vor dem Möbel. Schwarz sticht es ab von der schneeweißen Wand. Und als handele es sich um ein geliebtes Wesen, streicht er die über glatte Fläche. Poliert und gepflegt mit Bienenwachs, statt mit cremiger Sheabutter. Die Rose, auf der Ablage stehend, lässt ihre blutroten Blätter hängen. Rasch schüttet er das Wasser in den Ausguss, hebt den Armaturenhebel. Der perlende Strom entspannt seine Nerven, der aus dem Hahn in die Vase fließt. Bestimmt wird er sie nähren, denkt er, holt eine Schere. „Nur keine Angst“, raunt er, als die Schneide die Stiele abknipst.  

Herr Paul greift in Schubfach Nummer drei, hält eine Bürste in der Hand. Und die Finger leicht gebeugt, zupft er aus den Borsten ein graues Haarknäuel. Wo hatte er die Bürste nur gefunden, Herr Paul schnauft laut, so viele Kunden. Ah, genau! Zartrosa hatte die Seide sich aufgebauscht – die vorbeirauscht an seinem Erinnerungsauge -, als er die Arme unter den Nachtmantel schob, bevor er den Körper der alten Dame hochhob. Während er sie bettete auf den Kissen, auf denen Schlafes Bruder die Arme nach ihr ausstreckte, ragte der Bürstengriff aus ihrer Tasche.

Nur drei Schritte – er sitzt neben Manja, striegelt ihr Haar mit festem Strich. Fast glaubt er die Borsten stöhnen zu hören, die sich durch die Mähne quälen, erleichtert aufatmen, als die Spange auf der Schläfe endlich einklickt. 

Ein Blick in die Augen. Gedankenfluss. Warm rollen Wellen über Herrn Pauls Seele. 

„Das Einstandsessen. Bei deiner Mutter.“ Manja gluckst. „Kannst du dich noch an den Blick erinnern…“

„… als die Perlmuttspange in deinem Haar aufsprang und eine Strähne in Mutters Kalbsbouillon schwamm?“ Herr Paul verdreht die Augen. „Oh, Mann …“

„… in ihren Augen stand es geschrieben. Sie wird dein Herz an sich reißen. Wie kannst du nur diese Wilde lieben.“ Und die Finger gespreizt zu spitzen Krallen, schüttelt Manja den Bernstein aus ihrer Mähne heraus.

Herr Paul grunzt versonnen, lächelt, nickt. Bringt die Bürste zu dem Schränkchen zurück.

Prüfend lässt er den Blick über die Zahlen schweifen. Alles chronologisch aufgereiht. Der Lauf der Dinge, alles Werden und Wollen, alles unter seiner Kontrolle. 

Er öffnet Schubfach Nummer zwölf. Fischt nach dem weißen Taschentuch. Fast glaubt er das Knistern noch hören zu können, das erklang, als er es aus dem Sakko zog. Fast noch den reinen Duft zu riechen, der aus dem Schlitz der Brusttasche drang. Glattgebügelt der Stoff, steif appretiert, der sich von dem Schwarz des Anzugs abhob, in den er Herrn Müller gekleidet hatte, – oder Schmitz (?)-, den er vom Altenheim abholte. Fest drückt er das Tuch an seine Wange. Ein Lavendeldufthauch umschwebt seine Nase. Lockt ihn zurück zu diesem Tag, an dem ihre Lippen sich das erste Mal trafen. 

So hatte das Tuch von Manja gerochen, als sie es aus ihrer Jeanstasche zog. 

Und den Blick gerichtet auf Nummer zwölf, öffnet Herr Paul sein inneres Schubfach.

Er hatte sich auf die Straße geworfen, die Arme weit nach vorn gestreckt. Fast vor die Räder des nahenden Volvos, um den kleinen Igel zu retten. Manja presste das Tuch sanft auf die Wunden, auf die winzigen Löcher in seinen Händen. Die Lippen ganz nah an seinen Schläfen, spritzte ein Tröpfchen auf das Ohrläppchen.

„Oh du mein tapferer Stachelheld!“

Wie gerne würde er jetzt verweilen. Doch die straffe Nummernreihe lässt ihn nicht los, zerrt ihn weiter. Heute fühl´ ich mich irgendwie ferngesteuert, denkt Herr Paul, als sein Blick die fünfundzwanzig überschreitet. Vergeblich versucht er ihn aufzuhalten – bin ich nicht mehr Herr meines Geistes? -, bis er stoppt vor Schubfach dreißig. In ihm ruht ein Kugelschreiber – blaues Plastik, Dutzendware -, den Herr Paul nicht mehr anfassen mag. 

Bei wem hatte er ihn nur gefunden. Er weiß es nicht mehr. So viele Kunden. Und über die Sache noch nachgrübelnd, fällt er in ein Erinnerungsloch.

Er saß am Tisch hier in der Küche. Vor ihm das weiße Blatt Papier. In der schwitzigen Hand ein Kuli von Manja, den er entdeckt hatte in einer Lade. Blaues Plastik klebte an seinen Fingern, als er ihr schrieb auf endlosen Linien. Dass es nun auch eine andere gäbe, die bei ihm eingezogen wäre. Und dass er über ein großes Herz verfüge. Sie bewohne jetzt die linke Kammer, gleich neben Manja. Das weiße Blatt, ordentlich gefaltet, schob er ihr unter die Morgenteetasse. Bevor er davonschlich über den Läufer, die Schultern bis an die Ohren gezogen, den Rücken gebuckelt wie ein Kater. 

Und die Erinnerung bäumt sich auf.

Warum musste sie nur in den Garten laufen, an diesem Tag im letzten Jahr? Warum die noch blühenden Rosen beschneiden, bei diesem Sturm? Stumm und starr lag Manja im Gras. Gleich wird sie aufstehen, ich weiß es genau, dachte Herr Paul, und die Tonsplitter aus ihrer Mähne schütteln.

Hey Paul, mahnt diese lästige Stimme in ihm, bleibe sachlich. Bloß ein raues Lüftchen wehte, kein Sturm. Nicht mal die Acht auf der Beaufortskala. Und dass der Dachziegel locker lag, hast du gewusst. 

Unter den Rippen ein dumpfer Druck. Als galoppiere ein Strafbataillon über Herrn Pauls Brust. Und die Hände gestemmt auf schwarzes Holz, ringt er nach Atem und dreht sich um.

Der Stuhl von Manja – verwaist und leer. Und durch das geöffnete Fenster mit Blick zum Garten strömt Luft herein. Nur fünf Schritte – er steht neben der Scheibe. Presst seine Schläfe auf kühles Glas, starrt in die Weite. Gefährlich, denkt er, dieses unermessliche Schwarz, in dem man nicht ertrinken darf. Doch die Gedanken spinnen weiter. Weben an einem löchrigen Netz. Und Herr Paul spürt den Sog, der ihn verführt. Rasch schlägt er die Lider nieder, bis ein Licht vor dem wimpernumkränzten Spalt aufscheint.

Er starrt auf die Weide nahe dem Fluss. Bunte Tupfen wachsen im Dunkel. Als sei ein Pinsel vom Himmel gekommen, habe sich der Tristesse der Nacht angenommen. Zwei hauchzarte Flügel spannen sich auf. Umrahmen die Farben glänzend wie seidige Geishahaut. Fast glaubt er das Pochen der Adern zu hören, fein verästelt in den Flügeln. Könnte er noch einmal Manjas Hals berühren, ihn mit suchenden Lippen erspüren. Sein ganzes Herz gäbe er dafür.

Und der Falter hebt ab. Er zieht seine Kreise um die Zweige. Adieu, adieu, summen die Kätzchen der Silberweide. Bis sie sich verbinden, die Seelenschwingen, mit dem dunklen Samt der Nacht. 

Herr Paul legt die Hand auf seine Brust. Kein Galopp mehr. Alles gut.

Er hebt den Kopf, lauscht dem Ton. In seinem Arbeitszimmer klingelt das Telefon …

 

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