Von Andreas Schröter

Adam Schneider (36) war Versicherungskaufmann, aber nicht als Einzelkämpfer in einer kleinen Ein-Mann-Klitsche, sondern in einem Riesen-Team („Berufliche Vorsorge“) in einer der größten Versicherungen des Landes. Seit der Corona-Zeit durfte er zu Hause arbeiten: Homeoffice. Und weil seine Chefs fanden, dass das gut funktionierte, blieb das auch nach der Pandemie so.

Adam fand’s herrlich. Im Großraumbüro war’s laut, weil meist alle gleichzeitig telefonierten, sein Nebenmann Martin war ein weltfremder Spinner, der mit 56 noch bei seiner Mutter lebte, und man musste des Chefs wegen ständig so tun, als würde man an irgendwas arbeiten, obwohl es in seinem Job durchaus Phasen gab, in denen rein gar nichts anstand. Schrecklich! Na gut, ihm fehlte die sexy Janina, die er immer abpasste, wenn sie sich in der Kochecke einen Kaffee holte, um sie mit halb ernst, halb scherzhaft gemeinten Angeboten zu überhäufen, mit ihm die folgende Nacht zu verbringen.

Das alles war Schnee von gestern. Heute machte er einen Mittagsschlaf, wenn nichts zu tun war, oder schaute sich irgendwelche anderen Janinas im Internet an, die nicht immer sittsam bekleidet waren. Herrlich war auch, dass er die Wohnung den ganzen Vormittag über allein hatte. Seine Frau Carola arbeitete als Supermarkt-Managerin und konnte das nicht von zu Hause aus erledigen. Und die Kinder Marina und Thorben (8 und 10) waren natürlich in der Schule.

In Phasen der Langeweile durchstreifte er gelegentlich die Wohnung und schaute sich in den Zimmern seiner drei Mitbewohner um. Vor sich selbst definierte er das keinesfalls als „Ausspionieren“. Er war ein treusorgender Ehemann und Vater, der sich eben für seine Mitmenschen interessierte. Das war doch gut.

Auf einem dieser Streifzüge blieb er länger als gewöhnlich in Thorbens Zimmer hängen. Vieles daran erinnerte ihn an seine eigene Kindheit: der Fußball im Regal, das Poster mit einem Blick ins Weltall oder die selbst gebastelten Flugzeuge, die an der Decke baumelten. Und natürlich der Karton mit den Spielzeugautos. Er nahm ihn und kippte ihn auf dem Teppich aus, um zu sehen, welchen Autotypen die kleinen Modelle heute nachempfunden waren. In seiner eigenen Kindheit waren es VW Käfer, Opel Kadett oder Ford Taunus, die er schon von seinem Vater übernommen hatte. Heute war das offensichtlich anders: Da gab’s kleine Nissan Micras, Peugeots 205 und (als Highlight) einen Mazda MX5.

Nicht alle Autos waren so auf den Teppich gefallen, dass sie mit ihren vier Rädern auf dem Boden standen. Manche lagen auf der Seite, andere auf dem Dach. Seltsam, dachte Adam, gibt es wohl Eigenheiten an den Autos, die sie so oder so fallen lassen? Der flache Mazda beispielsweise dürfte wohl kaum auf der Seite liegen bleiben. Und wenn ein Modell seinen Schwerpunkt im unteren Bereich hatte, könnte die Wahrscheinlichkeit höher sein, dass es auf allen vier Füßen landete.

Adam räumte alle Autos wieder zurück in den Karton und leerte ihn erneut auf dem Teppich aus. Wieder fielen einige der Modelle aufs Dach, andere auf die Räder und manche auf die Seite. Schade war nur, dass er jetzt nicht mehr genau wusste, wie sie beim ersten Mal gelegen hatten. Man würde das Ganze systematischer angehen müssen. Aber es müsste mit einer Art Wettbewerb verbunden sein, das würde es noch spannender machen. Wer bei – sagen mir mal – vier Würfen auf den Teppich häufiger auf den Rädern landete, hatte gewonnen: der Nissan gegen den Daihatsu, der Ford Fiesta gegen den VW Lupo. Ein glücklicher Zufall war, dass sich genau 36 Autos in dem Karton befanden. Da würde er eine 1. und eine 2. Liga bilden. Die Autos konnten auf- und absteigen.

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Zwei Monate später hatte Adam bereits die ersten vier Saisons durchgespielt. Es gab Heim- und Auswärtsspiele. Bei einem Heimspiel warf Adam das jeweilige Auto viermal auf den Teppich, bei einem Auswärtsspiel dreimal. Anschließend trug er die Ergebnisse fein säuberlich in endlos lange Listen ein. Jeder gegen jeden. Das machte mit Hin- und Rückspiel 34 Spieltage in jeder der beiden Ligen. Er hatte inzwischen dramatische Abstiege, hauchdünne Meisterschaften, Trainer-Interviews und -Rausschmisse erlebt, Sensationssiege im Pokal sowie endlose Sieges- oder Niederlagen-Serien einzelner Spielzeugautos. Ein Mercedes war am Ende der Saison tatsächlich noch in die 2. Liga abgestiegen, obwohl er die ersten zehn Spiele gewonnen hatte. Unfassbar! Das alles war hochspannend. Adam fieberte jeden Morgen dem Moment entgegen, wenn seine Familie das Haus verließ und er sich endlich wieder seinem neuen Hobby zuwenden konnte. Als Thorben einmal krank war, war Adam tief bestürzt. Immer wieder versuchte er seinen Sohn dazu zu überreden, doch vielleicht in die Schule zu gehen, obwohl der 39 Grad Fieber hatte. Das, was er verpassen würde, wäre nur schwer wieder aufzuholen – und damit meinte Adam nicht einmal seinen Sohn, sondern die Meisterschaft in der 1. und 2. Liga der Spielzeugautos. Adam konnte es schlicht nicht ertragen zu wissen, dass Thorben in seinem Zimmer war und womöglich sogar mit den Autos spielte – seinen Autos, wie er es inzwischen für sich wahrnahm.

Adam konnte sich nach einiger Zeit nicht davon freisprechen, Lieblinge unter den Autos zu haben. Er mochte den Citroen C4 und bildete sich ein, ihn mittlerweile so werfen zu können, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Rädern landete. Schwieriger war das natürlich wegen ihres ungünstigen Schwerpunkts bei hohen Fahrzeugen wie dem Sprinter. Sie landeten nur selten auf allen Vieren und fanden sich dementsprechend meist im unteren Tabellendrittel der 2. Liga wieder.

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Weitere drei Monate später hatte sich einiges verändert, davon nicht alles zum Guten: Adam war seit einiger Zeit nicht mehr beim Friseur gewesen und hatte sich nicht mehr rasiert. Seine Frau Carola hatte zuweilen den Eindruck, dass er etwas müffelte. Wusch er sich nicht mehr regelmäßig und wechselte er nicht mehr oft genug die Klamotten? Beim Jahresgespräch via Zoom in der Versicherung hatte sein Chef erstmals Kritik an seiner Arbeit geäußert. Manches Dringende war ungebührlich lange liegengeblieben, weswegen dem Unternehmen einige Kunden abgesprungen waren. Es hatte Beschwerden gegeben. Eine Stelle auf dem Teppich in Thorbens Zimmer wirkte etwas in Mitleidenschaft gezogen – ein Fakt, den sich niemand außer Adam erklären konnte und der zu tagelangen Verhören von Thorben geführt hatte. Es war die Stelle, an der immer die Autos auf den Teppich prallten. Auch die Autos selbst wirkten etwas ramponiert, obwohl Thorben sie nur selten anfasste. Er empfand sich selbst als zu alt, um noch mit Autos zu spielen. Bei einem Mitsubishi fehlte ein Außenspiegel, an einem Jeep ein außen angebrachter Ersatzreifen.

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Als Adam einmal Carola auf der Kiesvorfahrt überraschend früh vorfahren hörte, musste er die Meisterschaft sehr hektisch unterbrechen, was durchaus ärgerlich war, denn sie befand sich am 33. Spieltag in der Endphase. Am nächsten Tag würde es spannend werden. Sein geliebter Citroen C4 stand punktgleich mit einem Opel Meriva, den er weniger mochte, an der Tabellenspitze. Vielleicht konnte er dem Citroen mit ein paar gekonnten Schwüngen zum Sieg verhelfen.

Am nächsten Tag konnte er es kaum erwarten, dass Carola und die Kinder endlich das Haus verließen. Quasi zeitgleich mit dem Zufallen der Haustür sprintete Adam noch im Schlafshirt in Thorbens Zimmer und kippte die Kiste mit den Spielzeugautos auf dem Teppich aus. Wo war der C4? Er würde das alles entscheidende Duell mit dem Meriva einfach vorziehen und die anderen Meisterschaftsspiele danach austragen. Adam schaute den Haufen der Autos durch und konnte den C4 nicht sehen. Das war ungewöhnlich, denn er war in einem auffallenden Blau lackiert. Wahrscheinlich war er am Vortag in der Hektik des Zusammenpackens unter den Schrank oder sonst wohin gerollt. Adam schaute das gesamte Zimmer durch, rückte Möbel ab und leerte den Papierkorb auf dem Teppich aus. Er spürte, wie sich nach und nach eine tiefe Verzweiflung in ihm breit machte. Wie sollte er ohne den Wagen die Meisterschaft zu Ende bringen? Er könnte in den Spielwarenladen fahren und einen neue C4 kaufen. Aber das wäre doch nicht dasselbe. Es musste dieser eine sein, mit dem er die gesamte Saison (und die 25 Saisons davor) bestritten hatte.

In den folgenden Wochen war Adam nicht zu gebrauchen. Auf der Arbeit hatte er sich krankgemeldet, und er lag mehr oder weniger den ganzen Tag im Bett. Und wenn nicht, wiederholte er die immer aussichtsloser werdende Suche nach dem Spielzeugauto.

Diese für die gesamte Familie belastende Situation zog sich über Wochen hin, und Carola machte sich große Sorgen um ihren Mann. Irgendwann beim Abendessen sagte Thorben: „Der Papa von dem Jonas hat sich so ein Auto gekauft, wie ich eins bei meinen Autos hatte. Ein Citroen ist das, glaube ich. Ich hab es ihm geschenkt. Es hatte aber schon ziemlich viele Macken. Deswegen wollte es der Jonas gar nicht. Und er hatte recht. Ich wollte es dann auch nicht mehr und habe es weggeschmissen.“ Das war der Moment, in dem Adam Schneider aufstand und seinem Sohn eine schallende Ohrfeige verpasste.

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Heute, weitere sechs Monate später, sitzt Adam arbeitslos in einer Einzimmerwohnung. Carola hat sich von ihm getrennt. Einmal die Woche muss er zur Psychotherapie. Gestern hat sich das Ehepaar unter ihm beschwert. Es fühlt sich durch das regelmäßige Geräusch gestört, das aus Adams Wohnung kommt. Es hört sich an, als würde etwas immer wieder auf den Boden geworfen.

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