Von Nils Duerr

 

Um seine neue Stelle antreten zu können, hatte James Doherty eine Durchleuchtung seines Privatlebens zugelassen, die ihresgleichen suchte. In ihm war zwischenzeitlich der Verdacht erwacht, dass der Inlandsgeheimdienst seines Heimatlandes ihn besser kannte, als er sich selber. Spielte dies jetzt noch eine Rolle? Er hatte sein Ziel erreicht und war unter mehreren hundert Bewerbern ausgewählt worden. Seine Referenzen waren tadellos. Alle Vorgespräche und ein erstes Treffen mit seinem potentiellen neuen Dienstherren waren reibungslos verlaufen. Er hatte das Gefühl, dass er den neuen Posten schon so gut wie in der Tasche hatte, zumindest wenn die kleinen Hinweise, die man ihm gab, von ihm richtig gedeutet wurden. Er schien bisher einen überzeugenden Eindruck hinterlassen zu haben.

Während man ihn auf seine Aufgaben vorbereitete, wurden oft Bemerkungen gemacht, dass er über seine Arbeit im Umfeld des neuen Monarchen mit niemandem würde reden dürfen. Manches könnte doch, nun ja, anders sein.

James war sich nicht sicher, was er von dieser Information halten sollte. Während seiner Laufbahn hatte er schon einiges gesehen. Manches war beunruhigend gewesen. Einiges wäre hochwertiges Material für die Boulevardpresse gewesen. Der daraus resultierende Skandal, hätte aber auch seine Reputation unwiederbringlich beschädigt.

Seine Einführung in die neuen Aufgaben war durch einen altgedienten Veteranen erfolgt. Mr. Larkin hatte seine Aufgabe die letzten 30 Jahre ausgeübt, bereitete sich nun aber auf den wohlverdienten Ruhestand vor. Besonders er hatte ihm eingeschärft: „Mr. Doherty, verlieren Sie niemals, ich wiederhole, niemals die Contenance in der Gegenwart seiner Majestät. Seine Majestät wünscht unter keinen Umständen, dass Sie sich anmerken lassen, wenn etwas Seltsames während Ihrer Arbeit geschieht. Habe ich mich da deutlich genug ausgedrückt?“ James Doherty hatte zustimmend genickt. „Vollkommen Mr. Larkin. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben, darf Lord Witheby…“. Doch Mr. Larkin hob nur abwehrend eine Hand und brummte: „Mr. Doherty, geben Sie niemals, selbst wenn es in vertraulicher Umgebung ist, Details über ihre aktuellen oder zurückliegenden Herrschaften bekannt.“

James Doherty hätte sich ohrfeigen können. Er merkte, wie ihm eine leichte Röte ins Gesicht stieg und sich ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend bemerkbar machte. Solche Fehler, das wusste er, durfte er sich nicht erlauben, wenn er diese besondere Anstellung bekommen wollte.

Jetzt saß er nervös auf einem Stuhl und harrte der Dinge, die da kommen sollten. „Du Idiot“, schalt er sich. „Ich bin doch mehrfach gewarnt worden.“ Aber er musste zugeben, so etwas Seltsames wie heute Abend war ihm einfach noch nie widerfahren.

Er hatte für hohe Herren gearbeitet, die sich abends von ihm gewünscht hatten, wenn er ihnen beim Auskleiden half, über bestimmte delikate Accessoires im Intimbereich hinwegzusehen. Andere wünschten sich von ihm, dass er wie ein Hund bellte, jedes Mal, wenn er ein Kleidungsstück von ihnen entgegennahm. Wieder andere hatten Koks geschnüffelt. Viele weitere Seltsamkeiten, Absonderlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten hatte er gesehen, aber der heutige Abend übertraf sie alle.

Dabei hatte der Abend sehr gut für ihn angefangen. Er hatte King Parcival jeden Wunsch erfüllt, den dieser geäußert hatte. Es war perfekt gelaufen.

„Oh, wäre da doch nur nicht dieser Fauxpas gewesen, als ich dem König beim Entkleiden zur Hand gehen sollte“, dachte er und stöhnte innerlich.

Zunächst hatte er ihm aus dem Jackett geholfen. Dann hatte dieser ihm die Manschettenknöpfe gereicht, die, wie er wusste, immer in dem samtenen Etui auf dem Sekretär des Königs aufbewahrt wurden.

Doch dann, nachdem der König sein Hemd aufgeknöpft, ausgezogen und an ihn weitergereicht hatte, zog dieser sein Unterhemd hoch. Mitten in der Bewegung hielt er inne und stierte auf seinen Bauchnabel.

„Mr. Doherty“, hatte er gesagt, „sehen Sie sich das nur an!“ Er hatte sich dienstbeflissen genähert, während sich der König genussvoll und unverschämt an den Bauchnabel fasste und darin herumpulte. Geradezu ekstatisch rief er dann aus: „Na, da haben wir aber eine schöne Menge Belly Button Lint zusammen. Mr. Doherty, reichen Sie mir doch bitte das kleine Döschen von meinem Sekretär. Nein, nicht dieses, sondern jenes dort, ja das aus Porzellan.“

Als der König das Döschen öffnete, schien es von Fusseln und Flusen geradezu überzuquellen. Versonnen schaute der König hinein. Fast zärtlich sagte er: „Dies ist sicherlich eine sehr ungewöhnliche Sammlung, aber sie bedeutet mir sehr viel. Bereits als kleiner Junge habe ich begonnen, sie anzulegen.“

James merkte, wie ihm für wenige Sekunden alle Gesichtszüge entglitten. Etwas Absurderes als dieses Erlebnis, dass wurde im schlagartig bewusst, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Und er arbeitete jetzt seit beinahe 30 Jahren in den hohen Häusern des Landes.

Der König schien diesen kurzen Verlust seiner professionellen Gleichmut als Butler bemerkt zu haben, denn mit gerunzelter Stirn und leicht schneidendem Ton bemerkte er: „Sie können jetzt gehen, Mr. Doherty. Ich möchte, das Mr. Larkin fortfährt, mir zur Hand zu gehen.“

Und jetzt saß er hier. Wer würde ihn jemals wieder einstellen, wenn der König ihn wegen Majestätsbeleidigung aus seinen Diensten entließ? Der Schweiß brach ihm aus. Er merkte, wie seine Hände zitterten. Ein leicht säuerlicher Geschmack stieg ihm die Speiseröhre hoch und verbreitete sich in seinem Mund. Ihm war schrecklich übel.

Zehn Minuten später kam Mr. Larkin in den Raum. Seine Miene war ausdruckslos. Flüchtig schaute er seinen Gegenüber an, bevor er gepresst flüsterte: „Ich hatte sie gewarnt, Mr. Doherty.“

Der Angesprochene fühlte sich immer elender.

Plötzlich sprang die Tür auf. King Parcival stand dort. Rotgesichtig schüttelte er sich. Es war zu erkennen, wie er um Fassung rang.

Tonlos redet er ihn an: „Mr. Doherty, ich muss eine sehr ernste Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Sie ist von nationalem Interesse.“ James straffte sich, denn jetzt kam er, sein Rauswurf. Er war geliefert.

Plötzlich prustete der König los: „Ich wollte sie von Anfang an in meine Dienste nehmen. Und jetzt dieser Test, den George, ich meine Mr. Larkin, ersonnen hat, um seinen Nachfolger auszuwählen, der hat mir ein großes Vergnügen bereitet. Sie waren der einzige, der sich zufriedenstellend beherrschen konnte. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir diesen kleinen Streich verzeihen und in meine Dienste treten würden.“

 

 

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