Von Michael Voß
Sorgsam streiche ich die Strumpfhose auf meiner Haut glatt, zupfe den Tutu-Rock zurecht und betrachte mich kritisch im Spiegel. Endlich ist es gut. Ich mache ein paar Dehnübungen.
Lara winkt mir. „He Schneewittchen, du bist dran!“
Schneewittchen.
Seit drei Jahren klebt dieser Name an mir. Seltsamerweise nicht nach unserer Interpretation von Schneewittchen und den sieben Zwergen, sondern seit der Dracula-Nummer im Jahr darauf. Damals war ich zum ersten Mal über meinen Schatten gesprungen. Umrahmt von einer Vampirbande hatte ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und bei der Zugabe das weiße, kunstblutüberströmte Kleid fallen gelassen. In schwarzen Netzstrümpfen, Minirock und Korsage hatte ich dann mit dem Oberdracula Frank getanzt, während der Saal vor Begeisterung kochte.
Doch jetzt, angesichts der Premiere unserer Nussknacker-Aufführung, fühlt sich die damalige Überwindung an wie ein Kinderspiel. Während Lara mir Lipgloss, Rouge und Lidschatten aufträgt, die Wimpern tuscht und die Langhaarperücke zurechtrückt, habe ich mehr Angst denn je. Als sie fertig ist, stehe ich auf, gehe hin und her, um die Spannung abzubauen.
„Wir sehen ja sooo Scheiße aus!“, höre ich aus einer Ecke.
„So schlimm war es noch nie“, kichert jemand.
Getränkewart Wolfgang lacht und winkt mit einer Flasche: „Ihr könnt euch ja selbst schöntrinken!“
„Hör auf mit dem Mist!“, faucht Thomas, unser Intendant.
Durch das geschlossene Tor hören wir, wie die nächste Gruppe angekündigt wird.
„Das ist die Jazzdance-Nummer. Macht hin, Mädels, nur noch zehn Minuten!“, ruft er nervös.
Unter der Perücke ist es heiß, ich fühle einen Schweißtropfen auf der Stirn. Instinktiv will ich mit dem Handrücken darüberwischen, als Frank mir in den Arm fällt. „Nicht doch, Süße, du machst deinen Look zunichte!“
Lara tupft mir die Stirn mit einem Wattepad ab.
„Aufstellung!“, kommandiert Thomas. „Ich gehe jetzt raus und mache die Ansage! Ihr setzt euch erst in Bewegung, wenn die Musik beginnt. Keinen Augenblick früher, verstanden?“
„Klar, Chef!“, erwidert Frank.
Thomas ist unser Multitalent. Familienvater, Choreograph, Ideengeber, Tänzer, Ansager und Rampensau. Seine mikrofonverstärkte Stimme dringt bis zu uns durch.
„Europa! Brasilien! USA! Australien! Und heute Abend hier bei uns! Nicht zum Abschluss ihrer Welttournee – nein Leute, zur Uraufführung ihres neuesten Stücks! Eine Darbietung, soviel darf ich sagen, die die Welt noch nicht gesehen hat. Und jetzt seid ihr dran Freunde: Lockt Eure Lieblinge mit eurem Applaus auf die Bühne! Gebt alles!“
Schreien, Klatschen, Pfeifen und Getrampel setzt ein.
„Da geht noch mehr!“, ruft Thomas, als der Lärmpegel nachlässt.
Erneut schwillt das Getöse an, findet einen Rhythmus. Hände und Füße klatschen und stampfen im Gleichtakt, werden schneller und schneller, münden in einem Crescendo.
Die Musik setzt ein. Frank öffnet das Garagentor und wir marschieren in einer Linie auf die Straße, in die laue Sommernacht und in das von Musik durchgezogene Stimmengewirr. Für einen Moment flaut es ab, um dann auf ein ohrenbetäubendes Niveau anzuschwellen. Begeisterte Rufe, Pfiffe und Getrampel. Am schlimmsten sind die Frauen, die aus dem Kreischen nicht herauskommen. Denn wir sind wieder da, das Männerballett „Letterboys“, die alljährliche Abschlussnummer des Straßenfestes der Poststraße, wo einmal im Jahr eben jene Post abgeht. Zwölf Kerle von Ende dreißig bis Anfang sechzig – klein, groß, dick, dünn und jeder mit wenigstens einem Schönheitsfehler.
Noch nie haben wir so verboten ausgesehen wie heute Nacht: Strumpfhose, Tutu und Feinrippunterhemd, alles in Weiß. Zu Bierbauch, Glatze und Plattfüßen. Es toppt alles, was wir bislang verbrochen haben. Die Leute lachen Tränen, dabei sind wir noch nicht mal auf der Bühne, sondern erst auf dem Weg dorthin, mitten durch die Menge.
Endlich angekommen, stellen wir uns nebeneinander auf und fangen an. Nach rechts tippeln, nach links tippeln, eine Drehung. Natürlich hat wieder einer gepennt und dreht falsch herum. Macht nichts. Weiter geht’s auf den Zehenspitzen, die Arme hoch über den Kopf gehoben, Drehung, Knicks, Drehung, tippeln. Die Choreographie ist überschaubar. Aber das ist dem Publikum egal, denn kaum etwas ist so dermaßen schräg wie ganz normale Männer, die sich in Frauenklamotten zum Affen machen. Die Leute klatschen, rufen, schreien.
Dann kommt mein Solo vor der jetzt im Hintergrund tippelnden Bande. Warum ich? Tja, ich habe nun mal die längsten Beine von allen und bin einer von den wenigen ohne Bauch. Das reichte, um mich für die „Beautyqueen“-Rollen des Ensembles zu qualifizieren. Schneewittchen halt. Oder heute Abend eben die Odette aus Schwanensee. Dafür habe ich die Pirouette geübt, die langsame Rumpfbeuge mit gestreckten Beinen und diese halbwegs grazile Armbewegung. Es muss, nein, es darf nicht richtig gut sein, sondern nur nahe dran. Denn das Publikum soll lachen, nicht staunen.
Und wie es lacht, als ich, nach der eleganten Bewegung abwärts mir beim Aufrichten kurz an den Rücken greife und mit schmerzhaft verzogenem Gesicht ein Gebrechen vortäusche, was ich gar nicht habe. Die Leute johlen.
Jetzt taucht Frank auf. Er ist die Überraschung, die die ganze Zeit hinter dem Vorhang gewartet hat. In Umhang und federgeschmücktem Dreispitz ist er Prinz Siegfried, der mich nun werbend umtanzt.
Natürlich lasse ich ihn eine Weile zappeln, bis ich ihm endlich schmachtend in die Arme sinke. Er versucht (zum Schein) mich, die einen Kopf Größere, auf die Arme zu heben, und gibt nach einem vorgetäuschten Beinahesturz auf. Ich werfe ihn mir über die Schulter und stampfe raus.
Das Publikum brüllt vor Begeisterung.
Wir kommen zurück, bilden mit allen eine Reihe, verbeugen uns, winken, werfen Kusshände und machen die Biege.
Natürlich müssen wir wieder raus, für die obligatorische Zugabe. Diesmal brauche ich kein Kleid mehr fallen zu lassen, es ist auch so schon schlimm genug. Wir führen unsere Standard-Mitmachnummer auf, drei Schritte vor, drei zurück, Drehung. Arme kurbeln, in die Hände klatschen und das Gleiche von vorn. Die Leute gehen begeistert mit, die Kinder wie die Alten, alle strahlen, lachen und singen.
Wir verbeugen uns zum letzten Mal, Frank schwenkt huldvoll den Dreispitz.
Lara kreischt: „Ich will ein Kind von dir, mein Prinz!“
Lara ist sechzehn und Wolfgangs Tochter. Ihre Freundinnen quietschen.
Wolfgang stemmt erbost die Hände in die Hüfte, Frank streckt den linken Arm einladend in Richtung des Mädchens und greift sich mit der Rechten ans Herz.
Wieder lacht die ganze Nachbarschaft.
Der Vorhang fällt.
Geschlossen geht die Truppe zum Bierwagen, wo unser Getränkewart einen Meter Bier hingestellt hat. Später setze ich mich mit meiner Frau Nici auf eine Bank. Der DJ legt irgendeinen Partyhit auf, die Leute fangen an zu tanzen. Ich beobachte ein paar Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumwuseln, ein Teenie-Pärchen, das sich wohl an diesem Abend gefunden hat und den alten Kurt, der am Bratwurststand mit Lara einen Kurzen kippt.
Nici schmiegt sich an mich. „Du hast mir gut gefallen, Robert. Nur am Anfang dachte ich, du hast ein bisschen Lampenfieber.“
„Ein bisschen? Mir war schlecht!“, sage ich.
„Hast du aber ganz gut kaschiert.“
„Kriege langsam Übung darin.“
„Das war die beste Nummer, die ihr je gebracht habt“, schnurrt sie.
„Leider.“
„Wieso leider?“
„Weil ich mir jetzt ein neues Hobby suchen muss.“
„Warum das denn?“, fragt Nici entsetzt. „Das war doch Spitze!“
Ich seufze: „Eben drum. Wie sollen wir die Nummer im nächsten Jahr noch toppen?“
„Und was willst du stattdessen machen? Kegeln? Netflix? Oder Briefmarken sammeln? Dann lasse ich mich scheiden!“
„Ich dachte an was Seriöses.“
Sie rückt etwas von mir ab, mustert mich misstrauisch. „Etwas Seriöses?“
„In der Altstadt hat letzte Woche das Tropica aufgemacht, ein kleiner Club mit Programmbühne. Sie suchen noch ein paar Dragqueens.“
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