Von Raina Bodyk
Hi! Ich bin Lukas und sammle Gesichter. Mit der Kamera. Ist Ihnen nicht auch aufgefallen, wie faszinierend diese sein können? Besonders die betagten, in denen sich ein ganzes Leben spiegelt? Kinder sehen normalerweise entweder fröhlich, stur oder stinksauer aus. Das Leben in all seinen Facetten hat sie noch nicht geprägt.
Ich weiß noch genau, wann mein Interesse und meine Neugier geweckt wurden. Es geschah an meinem elften Geburtstag, als meine Eltern mit mir in den kleinen Zirkus gingen, der jedes Jahr in unserem Dorf Station machte. Die ulkigen Clowns und ihre komischen Faxen begeisterten mich am meisten. Die Tiere mit ihren Kunststücken mochte ich auch, aber die Akrobaten fand ich langweilig.
Weil ich Geburtstag hatte, hatte ich einen Wunsch frei und wünschte mir selbstverständlich eine zweite Vorstellung am nächsten Tag. Ungeduldig wartete ich auf die bunt geschminkten Spaßmacher in ihren viel zu weiten Klamotten und den riesigen Latschen an den Füßen.
In der Pause kaufte ich mir einen Lutscher und wanderte zwischen den Käfigen hin und her. Da sah ich ihn, meinen Lieblingsclown, weil er mir ein paarmal zugewinkt hatte: der Narr hockte auf der schmalen Treppe seines Wohnwagens und seufzte kummervoll. Tränen formten Bäche aus der rot-weiß-schwarzen Schminke und tropften durch seine gespreizten Beine auf den verdorrten Rasen. Beim Versuch, sie wegzuwischen, verschmierte er sein Gesicht noch mehr. Die gelbe Perücke, auf der schief eine karierte Mütze hing, war heruntergerutscht und entblößte wenige graue Haare. Ich musste unwillkürlich lachen, er sah zu komisch aus. Er zuckte zusammen, erspähte mich, zögerte kurz und winkte mich dann kurzerhand zu sich.
„Hast wohl noch nie einen Clown weinen sehen, was? Merk dir eins, mein Junge: Du kannst den Leuten nur vor den Kopf schauen. Du kannst nur das sehen, was sie dir erlauben zu sehen. Fast jeder trägt eine Maske, hinter der er sich verbirgt. So wie ich. Niemand erkennt mich, wenn ich mein Gesicht mit Farbe und Glitter verkleide. Jeder denkt, ich sei besonders lustig. Aber das stimmt nicht – zumindest nicht immer.“
Ich verstand nicht so ganz, was er mir erklären wollte und forschte nach: „Warum weinst du denn?“
„Weißt du, ich hatte einen sehr lieben Freund, der ist krank geworden und gestern gestorben. Das macht mich so traurig.“
Das kapierte ich und nickte nachdrücklich mit dem Kopf. „Du hast so lustige Streiche gemacht, damit die Zuschauer lachen müssen. Aber innerlich warst du ganz unglücklich. Wer war denn dein Freund?“
„Er hieß Jackie und war mein Hund. Ihm konnte ich immer alles erzählen, was mich bewegte. Jetzt habe ich niemanden mehr.“
Von da an sah ich mir meine Umwelt genauer an.
„Darf ich ein Foto von Ihnen machen?“, wurde meine Standardfrage an die Leute, denen ich begegnete. Einige wenige nickten und wenn ich viel Glück hatte, erzählten mir die Älteren ein wenig aus ihrem Leben. Das war viel interessanter als der Geschichtsunterricht in der Schule! Die Jüngeren dagegen waren immer in Eile.
Die Köpfe von Personen, die in meiner Phantasie oder auch wirklich viel erlebt hatten, sei es Tragisches, Abenteuerliches, Gefährliches, Heiteres, zierten bald die Wände meines Zimmers. Die Bilder bewunderter Fußballer und der Helden aus ‚Star Wars‘ mussten ihnen weichen.
Meine Klassenkameraden ärgerten mich gern mit dem Spitznamen „Knipser‘ oder schlimmer ‚Knipsi‘. Wie oft schallte es über den Schulhof: „Vorsicht, Leute! Knipsi ist wieder unterwegs!“ Aber das kümmerte mich nicht. Denn ich war ganz sicher, einmal ein berühmter Porträtfotograf zu werden. Dann würden sie vor Neid erblassen!
Mit der Zeit bildete ich mir ein, ganz gut in den Mienen anderer lesen zu können. Bis mich sozusagen das Leben eines Besseren belehrte, wie es so schön heißt:
Unsere Abiturklasse durfte die Justizvollzugsanstalt in der nahen Kreisstadt besichtigen. Mann, wir ins Gefängnis! Unsere Neugier war sofort geweckt und wir erwarteten ein spannendes Abenteuer.
Die Wirklichkeit war alles, nur nicht spannend. Wir erfuhren vom durchreglementierten Alltag der Insassen, ihrer Arbeit, ihrer Angst, der Langeweile, der Einsamkeit und ja, auch der Gewalt hinter Gittern.
Ein Strafgefangener war bereit, sich unseren Fragen zu stellen. „Bestimmt ein Mörder!“, wisperten wir uns leise zu. Ich glaube, jeder einzelne von uns bekam eine Gänsehaut und fühlte ein unheimliches Schaudern.
Dann die Enttäuschung: einen Killer hatte ich mir ganz anders vorgestellt: brutales Aussehen, ein tätowiertes Muskelpaket, vulgäre Sprache und vor allem eiskalte, gefühllose Augen. So wie man das halt kennt aus dem Fernsehen.
Doch dieser Mann sah nicht aus wie ein Totschläger. Im Gegenteil. Mit sanfter, freundlicher Stimme beantwortete er geduldig all unsere Fragen und warnte uns sogar eindringlich: „Jungs, tut euch selbst einen Gefallen und lasst die Finger von allem, was euch hierher bringen könnte. Es ist die Hölle, glaubt es mir.“
Wir wurden wir sehr still und nachdenklich.
Inzwischen bin ich einundzwanzig. (Ja, ich gebe zu, ich habe eine Ehrenrunde gedreht!) . Mein Ziel, Fotograf zu werden, habe ich nicht aufgegeben. Erst jedoch mache ich ein Soziales Jahr in einem Seniorenheim. Erstens halte ich das für eine verdammt gute Sache und zweitens hoffe ich, hier viele Menschen und ihre Lebensgeschichten kennenzulernen.
Alte Gesichter fesseln mich immer noch am meisten. Sie sind wie Bücher, in denen der aufmerksame Beobachter viel herauslesen kann. Die Falten, der Ausdruck der Augen, die in die einst glatte Stirn gegrabenen Runzeln, die verkniffenen oder lachenden Lippen erzählen so viel. Meine Bilder sollen ihre Geschichten weitererzählen.
Fast noch faszinierender sind die Mienen, die nichts verraten, ihr Geheimnis trotz des verräterischen Äußeren bewahren.
Da ist zum Beispiel der Sepp aus Zimmer 8, der so gern lacht. Seine Äuglein werden dabei immer ganz klein. Seine Witze, die er aus einem unerschöpflichen Vorrat hervorzuzaubern scheint, sind berüchtigt. Wie oft windet er sich vor Schmerzen, aber aus seinem Mund kommt nie eine Klage, dafür Scherze, die die Schwestern erröten lassen.
Die Heimleiterin hat mir erzählt, dass seine Eltern Alkoholiker waren und ihn ins Heim gegeben haben. Er saß wochenlang auf der zerbröckelnden Steintreppe am Eingang, wartete darauf, dass sie ihn wieder heimholen würden, wie sie es versprochen hatten. Aber sie haben ihn nicht einmal besucht. Nur sein angeborener Sinn für Humor hat ihn gerettet, ihn so stark gemacht, dass er seine Einsamkeit ertragen konnte und sogar lernte, mit dieser Fähigkeit Menschen für sich zu gewinnen.
Mit der Dame ihm gegenüber unterhalte ich mich besonders gern. Josefine ist 94 Jahre alt, klein und schmal, mit feinem, weißem Haar. Mit ihrer hellen Stimme erzählt sie gern aus ihrer regen Vergangenheit. Sie liebt es zu lachen. Niemand würde ihr ihr Alter glauben, so jung und agil wirkt sie.
Heute hat sie mich ebenso erstaunt wie entsetzt. Mehrere Damen haben sich zu uns gesellt. Wie so oft, kommt das Gespräch auf Friedhöfe und Beerdigungen und was sie für sich so wünschen. Die üblichen Bemerkungen fallen, dass man die Kinder und Enkel weder mit den Kosten noch der Grabpflege belasten möchte und deshalb darauf gespart hat. Nur Josefine wehrt ab. „Unsere Familie hat eine Gruft, aber ich will da nicht rein. Ich möchte einfach nur irgendwo verscharrt werden und gut is‘!“ Wir alle sehen sie schockiert und fragend an
„Ja, ist doch egal! Ich habe nichts vorzuweisen, nichts geschafft in meinem Leben! Ich war nie arbeiten, kann ja nichts.“
Sie ist über sechzig Jahre mit dem Besitzer einer Baustofffirma verheiratet gewesen und kann sich mit seinem Tod vor sieben Jahren noch immer nicht abfinden. Sie hat einen großen Haushalt geführt, ihrem Mann, wie es so schön heißt, den Rücken freigehalten, große Gesellschaften gegeben. Bei Turniertänzen hat sie mit ihrem Mann so manchen Preis gewonnen. Nebenbei noch einen liebevollen Sohn großgezogen, der alle vier Wochen 500 km fährt, um seine Mutter zu besuchen.
Also ich finde, sie hat mehr als genug geleistet. Nur sieht sie selbst es nicht. Ihr Gesicht drückt nichts als gleichbleibende Freundlichkeit aus. Sie lebte durch und für ihren Gatten. Jetzt fühlt sie sich allein, ein Nichts, dankbar für jedes bisschen Nettigkeit von den Mitbewohnern, als hätte sie sie nicht verdient.
Das Foto von ihr ist mein liebstes. Ich habe einen schattigen Hintergrund gewählt, um sie noch besser in den Vordergrund zu rücken, habe sie mit lockerem Geplauder abgelenkt und genau im richtigen Augenblick abgedrückt. Sie sieht wunderschön aus. In ihren Augen konnte ich ihre nie ganz endende Traurigkeit ebenso einfangen wie ihren unglaublichen, anziehenden Charme.
Mit Franz haben wir es am schwersten. Seine Miene drückt fast immer Verbitterung bis hin zum Hass aus. Seine Augen blicken entweder völlig teilnahmslos oder wild vor Wut. Die Pflegerinnen haben Angst vor ihm und schicken immer ihre männlichen Kollegen zu ihm. Nicht nur einmal hat er versucht zuzuschlagen oder hat Sachen durchs Zimmer geschleudert. Beim Essen will niemand mehr an seinem Tisch sitzen. So hockt er da ganz allein und stochert auf seinem Teller herum. Es tut mir richtig weh, ihn so zu sehen. Vor allem, nachdem seine Frau mir erzählt hat, wie er früher war: ein echter Kavalier und Beschützer, liebevoll, voller witziger Ideen.
Die Demenz hat sein Wesen zerstört.
Nur wenn seine Frau kommt, beginnt er zu strahlen, wie ich noch nie jemanden habe strahlen sehen. Wenn er ihre Schritte hört, breitet er bereits seine Arme weit aus. Er weiß nicht mehr, wer sie ist. Aber sie ist die Person, die zu ihm gehört. Das weiß er ganz genau.
Vielleicht werde ich nie berühmt für meine Fotos, aber ich werde immer dankbar dafür sein, dass diese liebenswerten Menschen mir erlauben, hinter ihre Gesichter und ihre Masken zu schauen.
Vielleicht versuchen Sie es auch einmal mit dieser Art ‚Lesen‘. Sie werden überrascht sein, das verspreche ich Ihnen!
V1