Von Björn D. Neumann

 

Mike konnte die Hand vor Augen nicht erkennen. Fast blind tappte er durch das verfallene, leerstehende Gebäude. Seine Teamkollegen Dennis und Regina folgten ihm auf den Schritt. Sie waren inzwischen ein eingespieltes Trio und konnten sich aufeinander verlassen. Jeder wusste, wie er sich in solchen Locations verhalten musste, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten und vor allem, um Ergebnisse zu erzielen. Verwertbare und stichhaltige Ergebnisse. Gerade in der Geisterjäger-Szene waren Misstrauen und Skepsis an der Tagesordnung.

Die Dunkelheit wurde jäh unterbrochen. Die Leuchtdioden des Geräts in Mikes Hand schlugen voll aus. „Wen haben wir denn da?“, fragte er ins Nichts. „Ich bin Mike. Möchte hier jemand mit mir reden? Du kannst das K2-Meter in meiner Hand gerne berühren. Dabei passiert dir nichts.“ Mike vollführte mit ausgestrecktem Arm eine halbkreisförmige Bewegung. Wieder schlug das Gerät aus. „Ich danke dir“, kommentierte er den erneuten Kontakt.

„So schnell hätte ich jetzt keine Rückmeldung erwartet.“ Dennis kratzte sich am Kopf. „So kann es gerne weitergehen.“

„Die Bauarbeiter haben gemeldet, dass es immer wieder zu unerklärlichen Ereignissen kam. Stimmen. Schatten. Geräusche. Gegenstände sind verschwunden“, wusste Regina zu berichten. Im Gegensatz zu den beiden Technik-Nerds, war sie diejenige, die sich bei den Ermittlungen auf ihre Intuition verließ. Und oft spürte sie die Anwesenheit einer Präsenz, bevor jegliches elektronische Messgerät auch nur einen leichten Ausschlag hatte. „Es ist eine männliche Seele. Und sie ist wütend.“

„Na prima. Ein wütender Geist und …“

„Psst“, unterbrach Mike seine Freunde. „Habt ihr das gehört?“

„Das waren doch Schritte von oben“, bestätigte Regina.

„Aber außer uns ist definitiv kein Mensch im Haus. Los, lasst uns eine Etage hochgehen.“

Wie erwartet war dort niemand. Aber selbst Mike bemerkte, wie die Stimmung immer drückender wurde. Mit der Vollspektrumkamera schoss er einige Bilder in die Dunkelheit. Zwischen den verrotteten Stühlen im grünlichen Licht der Aufnahme der Spezialkamera war ein heller Lichtpunkt zu erkennen. „Das ist merkwürdig“, murmelte er.

„Wieso merkwürdig? Das ist ein Orb. Irgendein Staubkorn oder Insekt, das das Licht reflektiert.“

„Aber dieses Insekt bewegt sich nicht. Und auch ein Staubkorn bleibt nicht mehrere Sekunden still in der Luft.“ Mike klickte durch die Bilderfolge auf dem Kameradisplay und wie er schon andeutete, blieb der Lichtpunkt während der ganzen Serie an Ort und Stelle.

„Wow, faszinierend. Ich packe mal die Kinekt aus.“ Dennis kramte sein neuestes Spielzeug aus dem Rucksack. „Wollen wir mal sehen, was das ‚Schätzchen‘ kann.“ Die Kamera der Spielkonsole konnte menschliche Konturen wahrnehmen. Angeblich auch dort, wo das normale Auge keine sehen konnte. Verbunden mit einem Bildschirm und der richtigen Software, sollte sie Geister sichtbar machen. „Ich werde verrückt! Da steht einer!“, rief Dennis, nachdem er das Gerät einschaltete. Und in der Tat war auf dem Bildschirm eine Skelett-Kontur aus Bildpunkten, die einem Strichmännchen glich,  zu erkennen.

„Wahnsinn …“, jäh wurde Mike wieder von einem Poltern unterbrochen. Die Geisterjäger sahen sich erschrocken an und als sie erneut auf den Bildschirm blickten, war dieser wieder leer. „Das gibt es doch nicht.“

„Hey, Leute. Das glaubt ihr nicht.“ Dennis richtete die Kamera nach oben. Dort hing jetzt die Gestalt, einer Spinne gleich, unter der Decke. So als warte sie nur darauf, sich auf ihre Opfer zu stürzen.

„Okay, keine Panik. Wir sollten jetzt mit der Kommunikation beginnen. Es will uns mit Sicherheit nichts Böses. Das ist nur eine verirrte Seele.“

„Ist euch auch so kalt, Jungs?“ Regina blies in die Luft und ihr Atem bildete Wolken, die durch den Raum zogen. „Wir haben Sommer und es sind immer noch über 20 Grad.“

„Ich habe eine Gänsehaut“, bestätigte Mike. „Die Präsenz zieht Energie aus der Umgebung. Das ist ganz normal.“

„Lasst uns endlich die Spirit-Box anstellen. Vielleicht erfahren wir dann, wer hier umgeht.“ Mit diesen Worten kramte Dennis das radioähnliche Gerät aus dem Rucksack und drückte den Kippschalter auf „on“. Sofort erfüllte weißes Rauschen den Raum. „Schauen wir mal, ob unser Freund sich auf irgendeiner Frequenz bemerkbar machen kann. Hallo, ich bin Dennis. Wie ist dein Name?“

„… Helmut …“, kam aus der ohrenbetäubenden Geräuschkulisse.

„Habt ihr gehört? Ich habe eindeutig Helmut verstanden!“ Regina starrte ihre Kameraden mit weit aufgerissenen Augen an.

„…“

„Da! Da war wieder etwas. Aber nicht verständlich.“

„… Hilfe …“

„Ganz klar ‚Hilfe‘! Ich werde verrückt. Krass!“ Jetzt nahm Dennis seinen Mut zusammen und fragte in die Leere: „Wobei brauchst du Hilfe? Können wir dir helfen?“

„… nicht …

„Nicht? Sollen wir dir doch nicht helfen? Sollen wir gehen?“, fragte Mike weiter nach.

„… weggehen …

„Wir sollen weg – das war eindeutig! Warum sollen wir weggehen? Magst du uns nicht?“ In dem Moment löste sich das Kruzifix an der Wand und fiel scheppernd zu Boden.

„… Verdammt … zum Teufel …“

„Ok, das war es! Packen wir unser Zeug zusammen.“ Mike war kreidebleich.

„Ich spüre Verzweiflung. Wenn wir doch nur besser kommunizieren könnten…“ Regina blickte hilfesuchend zu den Jungs. „Ich habe das Gefühl, wir können jetzt nicht einfach gehen. Vielleicht haben wir doch was falsch verstanden.“

„Was für Hinweise wie ‚Teufel‘ oder ‚Verdammt‘ brauchst du denn noch? Wir gehen!“ Wieder unterbrach ein Scheppern Mike. „Los jetzt!“

Eilig verstaute das Trio die Gegenstände in den Rucksäcken und verließ das Haus. Nur Regina blickte sich noch einmal unsicher um. Ihr war, als ob sie irgendetwas vom Fenster aus beobachtete.

***

 

 

Wenige Wochen später trafen sich die Freunde bei Mike, der ihnen was Wichtiges mitteilen wollte. Jeden Abend nach der Arbeit hatte er sich zigmal die digitalen Aufnahmen angehört, versucht weitere electronic voice phenomenons wahrzunehmen und konnte seinen Mitstreitern nun die Ergebnisse präsentieren.

„Ich habe die Aufzeichnungen unserer Session ausgewertet. Jetzt ergeben die EVPs schon ein ganz anderes Bild. Anscheinend braucht da wirklich jemand unsere Hilfe.“ Mike öffnete ein Programm auf seinem Laptop und spielte die überarbeitete und zusammengeschnittene Tonspur jener Nacht ab.

„Ich heiße Helmut. Helft mir! Hört mich doch. Ich brauche Hilfe. Ich finde Helga nicht. Ich kann nicht ohne sie weggehen. Verdammt, ihr sollt mir helfen. Hört mir doch zu, zum Teufel!“, war jetzt aus den Lautsprecherboxen deutlich zu hören.

Dennis zog eine Augenbraue hoch. „Oh Gott, der braucht wirklich Hilfe. Wir müssen da nochmal hin.“

„Aber jetzt auf meine Weise. Intuition und Bauchgefühl sind doch manchmal hilfreicher als jede Technik.“ Reginas Worte waren freundlich, aber doch bestimmt. Stumm sahen sich die beiden Jungs an und nickten.

***

Auf der Fahrt zum Haus berichtete Regina, was sie in der Zwischenzeit erfahren hatte. Bevor sich das Team für eine erneute Begehung entschlossen hatte, holte Regina in der Nachbarschaft einige Erkundigungen ein. „Das Haus gehörte zuletzt einem Helmut Schuster und der ist vor ungefähr einem Jahr verstorben.“

„Hatte er Angehörige?“, hakte Dennis nach.

„Nein. Seine Frau Helga ist zwei Jahre vor ihm gestorben. Sie war die einzige Familie, die er hatte. Die Nachbarn sagen, dass er sich danach vollkommen zurückgezogen hatte. Mit niemandem redete und ohne seine Frau irgendwie verloren wirkte. Letztendlich sei er wohl am „Broken-Heart-Syndrom“ gestorben. Ich meine, kein Wunder nach 60 Jahren Ehe …“

„Wow, was für eine traurige, aber irgendwie auch romantische Geschichte.“ Mike lenkte den Wagen in die Einfahrt des Hauses. „Dann hoffen wir mal, dass wir Erfolg bei der Familienzusammenführung haben.“

An diesem Abend herrschte in dem Haus eine andere Stimmung. Gelöster. Die drückende Atmosphäre der letzten Session war verschwunden. So als ob eine große Last von den Schultern genommen wurde und man sie willkommen hieß.

Im Wohnzimmer hielt Regina kurz inne. Sie schloss ihre Augen und streckte die rechte Hand aus, als ob sie nach irgendetwas greifen wolle. „Er ist hier. Lasst es uns hier machen.“

Ohne Worte setzten sich die Freunde im Kreis zu Boden. Regina stellte eine Kerze in ihre Mitte und entzündete sie.

„Wir sind wieder hier, Helmut. Wir haben jetzt verstanden, warum du Hilfe brauchst. Alles wird gut.“

„Ich habe eine Gänsehaut, es ist wieder eiskalt geworden“, flüsterte Mike dazwischen.

„Schhh. Ich versuche gerade Vertrauen aufzubauen. Er ist jetzt hier in unserer Mitte. Ich kann es deutlich spüren.“ Während Regina Mike zurechtwies, flackerte die Kerze hell auf. „Helmut, hab‘ keine Angst. Ich werde dich zu Helga führen. Siehst du ein Licht? Ich kann es spüren. Es ist hier ganz nah bei uns. Geh darauf zu. Helga ist nicht mehr in diesem Haus. Sie wartet auf dich auf der anderen Seite. Du kannst loslassen. Nichts hält dich hier fest. Bald seid ihr wieder vereint.“ Eine Träne rann Reginas Wange herunter. Nach wenigen Minuten der Stille öffnete sie die Augen und lächelte. „Er ist erlöst. Er hat Helga gefunden. Alles ist gut.“

Auch Mike und Dennis standen inzwischen Tränen in den Augen. „Ich würde sagen, der Fall ist erfolgreich abgeschlossen.“ Dennis wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht.

„Hoffen wir, dass die beiden jetzt glücklich sind“, fügte Mike an.

„Ganz sicher. Ich fühle es. Wir haben es geschafft. Und das ganz ohne elektronischen Klimbim.“ Regina zwinkerte ihren Freunden zu.

„Ich finde, wir haben uns prächtig ergänzt“, gab Dennis zurück

Regina hätte es nicht beschwören können, aber als sie das Haus an diesem Abend verließen, war es ihr, als hätte ihr eine Frauenstimme ein leises „Danke“ ins Ohr geflüstert.

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