Von Marco A. Rauch

Man sagt, im Leben sei es wichtig, den Fokus auf das Wesentliche zu lenken. Es gab eine Zeit, da habe ich sehr intensiv darüber nachgedacht. Wo ist das Wesentliche oder besser: Was ist das Wesentliche? Es dauerte etwas, doch schließlich fand ich meine Antwort. Sie war nicht weit entfernt.

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Guten Tag, mein Name ist Bernhard und wie heißt du? Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin dein Erzähler, der dir sagt, was er sieht. Ich erzähle, was gerade passiert. Dadurch kannst du miterleben und teilhaben, du erlebst durch mich. Dafür brauche ich nur deine Hand. 

Wenn ich aus dem Fenster sehe, stehen da ein paar Bäume. Einige Autos parken an den Straßenrändern. Ich sehe Menschen ihren Weg gehen. Eine Straßenbahn fährt quietschend und scheppernd vorbei. Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite, überwiegend Altbauten. Fenster, Vorhänge, Rollläden. Es wirkt alles friedlich. 

Eine junge Frau geht die Straße entlang, sie trägt eine blaue Jeans und ein schwarzes Top. In der Hand eine Einkaufstüte aus Plastik. Sie geht schnell, wirkt gestresst. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Was links und rechts geschieht, scheint sie nicht zu interessieren. Doch hoppla, die Tüte reißt. Auf einmal purzeln Orangen, Joghurt und ein Senfglas über den Gehweg. Sie bleibt stehen, senkt die Tüte zu Boden, stemmt beide Hände in die Hüften. Eine kurze Kopfbewegung nach vorne, das muss ein Seufzen gewesen sein. Sie geht in die Knie, sammelt alles zusammen, stopft es in die Tüte, nimmt sie mit einer Hand an den Griffen, mit der anderen am Loch. Schnell geht sie weiter. Nach einigen Metern verschwindet sie im Eingang eines der Häuser. Ich erkenne dein Mitgefühl an deiner Atmung.

Da kommt eine Frau mit einem Kinderwagen. Sie trägt einen weißen Rock mit buntem Blümchenmuster, dazu passend ein hellblaues Shirt. An ihrer Seite läuft ein Mädchen, vielleicht drei Jahre alt? Die Kleine hüpft, sieht sich um. Auf einmal bückt sie sich und hebt etwas auf. Was ist das? Sie streckt es ihrer Mutter entgegen. Ich glaube, es ist ein Kugelschreiber. Die Mutter gestikuliert, zeigt auf den Boden. Jetzt neigt sie sich etwas dem Mädchen zu und scheint zu schimpfen. Auf einmal packt sie den Kugelschreiber und wirft ihn zu Boden. Dann geht sie einfach weiter. Ich sehe das Mädchen, es weint bitterlich. Die Mutter entfernt sich immer weiter, ich spüre deutlich die Angst und den Zwiespalt der Kleinen. Sie will Aufmerksamkeit, aber hat Angst, verlassen zu werden. Ich kann deutlich spüren, wie sie überlegt, wie sie mit sich kämpft. Was soll sie tun? Die Mutter geht einfach weiter. Jetzt erhebt sich Verzweiflung in dem Kind, es beugt sich nach vorne in Richtung der Mutter und brüllt regelrecht. Endlich, Mutter bleibt stehen, dreht sich um und signalisiert dem Mädchen mit Handbewegungen, zu kommen. Aufgelöst rennt die Kleine zu ihr, klammert sich an ihr Bein, weint unaufhörlich. Jetzt endlich drückt die Mutter mit dem Fuß die Bremse des Kinderwagens, geht in die Knie und sagt ein paar Worte zu ihrer Tochter. Die wischt sich über die Augen, nickt und verlangt nach Mutters Hand. Beide gehen ihren Weg weiter. Ich spüre Erleichterung im Pulsieren deiner Hand.

Gegenüber sehe ich eine Bewegung. Eine ältere Frau im Haus auf der anderen Seite hat ihr Fenster geöffnet, ein Kissen auf den Rahmen gelegt und lehnt sich darauf. Sie betrachtet uns. Ich winke ihr zu und lächle. Die Frau winkt zurück, wendet ihren Blick zur Straße unten. Ich habe deine Hand gesehen, schön, dass du auch gewunken hast. Sie hat uns beiden zugewunken, eine nette, alte Dame. Dein Körper bebt leicht, während du lächelst.

Ich werde jetzt gleich zu Philipp gehen, meist möchte er wissen, was in den Tagesnachrichten* steht. Obwohl er sie selbst lesen könnte. Morgen besuche ich dich wieder. Wie ich zum Lormen kam? Durch meine Frau. Sie verlor ihr Gehör in Kindestagen. Doch das machte mir nichts, als ich sie kennenlernte. Für mich war sie immer die schönste Frau. Sie konnte wunderbar Lippen lesen, kein Gemecker war vor ihr sicher. Ich lernte Gebärdensprache, es war nicht so schwer und dieses Band hielt bis zuletzt. 

Ein dicker Seufzer drängt aus meiner Kehle. Schwer wurde es erst später, als eine Krankheit nach und nach ihr Augenlicht raubte. 

Zum Glück blieb uns genug Zeit, um Lormen zu üben. Das auf der Handfläche verteilte Alphabet war nicht ganz leicht zu lernen, doch durch gezieltes Tippen und Drücken konnten wir uns schließlich austauschen. Mit etwas Übung kann man sich ganz vernünftig unterhalten, merkst du ja selbst. Meine gute Eva, es war ihre Idee, das Erlernte gemeinnützig einzusetzen. Sie war immer schon so gütig und lebensfroh. Aber ehrlich gesagt, mit der Zeit spürte ich eine Veränderung, es wurde mehr als helfen. Wenn ich mit dir kommuniziere, spüre ich nicht nur die Wärme deiner Hände. Es sind deine Regungen, dein Atem, du lächelst. Reaktion und Gegenreaktion. Eine unglaublich intensive Form der Verständigung, die mir jedes Mal aufs Neue bestätigt, warum ich es mittlerweile so schätze, mich mit dir und anderen Betroffenen zu unterhalten. So erwuchs unserem privaten Unglück ein neuer Sinn. Und als Rentner habe ich nun auch genug Zeit. 

Und jetzt entschuldige mich, ich gehe Philipp aus der Zeitung vorlesen. Oh, du brauchst dich nicht für meine Hand zu bedanken, sie kommt von Herzen. Hab einen schönen Tag.

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So ist das geworden. Manchmal liegt die Antwort eben doch ganz nahe. Ich gehe gerne in das betreute Wohnheim. Und wenn mich jemand fragt, was ich in meiner Freizeit mache, sage ich einfach: Manche spielen Musik oder modellieren Ton, meine Hände vermitteln Wesentliches. 

 

https://stiftung-taubblind-leben.de/lormen

 

(* Die Tagesnachrichten für taubblinde Menschen sind Deutschlands kleinste Tageszeitung.)

https://de.wikipedia.org/wiki/Tagesnachrichten_für_taubblinde_Menschen

 

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