Von Veronika Beckmann

Wir waren dabei. Johannes und ich. Mit ein paar Kumpeln und Mädchen, die wir gerade kennengelernt hatten, feierten wir den Jahreswechsel in Berlin.

Erinnern Sie sich? Silvester 1989? Manchmal sind die Bilder noch im Fernsehen.
Über dem Brandenburger Tor ein bunter Sternenhimmel aus Raketen. Auf dem Platz um das Tor wogt die Masse der Feiernden. Ein bewegtes Meer, dessen Wellen immer wieder Menschen auf die Mauerkrone spülen. Sie reichen sich die Hände, lachen, sind das Volk, das wiedervereinte.
Meine Kumpel und ich, angehende Abiturienten aus dem Westen, verschmolzen mit der Menge, sangen mit Menschen aus der ganzen Welt „Looking for Freedom“.

Wir waren ohne Plan nach Berlin gekommen, brauchten keine Betten, denn wir hatten nicht vor, uns auszuruhen. Irgendwie würden wir im Auto schlafen, auf der Rückfahrt. Dennoch waren wir froh, als uns die Mädels am Neujahrsmorgen mit in ihre WG nahmen. Zu schnell fielen wir in einen tiefen Schlaf und träumten von Küssen und warmer Haut.

Als ich am späten Vormittag schlaftrunken zur Toilette ging, war in der Altbauwohnung noch alles ruhig. Durch die offenen Zimmertüren sah ich meine Freunde neben ihren Mädchen liegen. Nur eine lag allein auf ihrer Matratze, sie hieß Svenja. Eigentlich sollte Johannes hier sein. Aber anscheinend hatte er die Wohnung schon verlassen.
So war er, mein kleiner Bruder. Alle mochten ihn gern, weil er locker und immer fröhlich war. Nur wenige kannten seine stille Seite und wussten, dass er sich auch gerne zurückzog. Dann blieb er tagelang in seinem Zimmer oder streifte allein durch die Wälder.
Bestimmt lief er gerade durch die leeren Straßen, sah Straßenkehrern bei der Arbeit zu und Bäckern, die auch am Feiertag unermüdlich ihre Kunden bedienten.
Für mich war es eindeutig noch zu früh. Ich ließ mich erleichtert wieder ins Bett fallen und schloss die Augen.

Zwei Stunden später weckte mich Kaffeeduft. Fast alle waren schon in der Küche, saßen auf den wenigen Stühlen oder lehnten mit einer Tasse in der Hand an den Schränken. Ich griff in die große Papiertüte auf dem Tisch und grinste.
„Hat Johannes Brötchen mitgebracht?“
„Wieso Johannes? Das war Katrin.“
Ich sah fragend zu Svenja. Sie zuckte die Schultern und nippte an ihrem Kaffee.
„Ich weiß nicht, wo er ist. Irgendwann ist er aufgestanden und nicht zurückgekommen.“
In diesem Moment beschlich mich ein ungutes Gefühl.

Kennen Sie das? Gerade hat man noch gedacht, alles ist wie immer, und dann ist da plötzlich dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Wie bei diesen Suchbildern. Erst sehen beide Bilder gleich aus und dann bemerkt man die versteckten Fehler.
Damals in Berlin war es nur ein winziger dunkler Punkt, der das Bild veränderte. Jedenfalls am Anfang. Im Laufe des Tages wurde der Fleck größer und breitete sich aus, wie ausgelaufene Tinte auf einem hellen Stoff.

Zunächst lief ich allein eine Runde um den Block. Kontrollierte die kleine Grünanlage und die Sitzbänke an der Kirche, im Kiosk war nur ein alter Mann. Wieder in der Wohnung, scheuchte ich mit der sinnlosen Suche nach einer Nachricht, nach einem kleinen Schnipsel Information, die anderen auf.

Versuchen Sie mal, sich in diese Zeit zurückzuversetzen. Was sehen Sie? Oder besser, was sehen Sie nicht? Richtig, es gab schon Computer und für unglaubliche Preise waren riesige Handys auf dem Markt, aber nicht jeder Schüler lief selbstverständlich damit herum. Also kein Messenger, keine SMS, noch nicht einmal ein Telefongespräch außerhalb einer Telefonzelle oder weiter als zwei Meter entfernt von der Telefondose im Flur der Eltern.

Wir warteten also und spielten Kartenspiele. Stundenlang.
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und griff nach meiner Jacke. Die Jungs boten mir ihre Hilfe an. „Irgendwann müssen wir ja auch wieder los.“ Mein bester Freund guckte betreten auf den Boden.
Wir teilten uns auf und durchstreiften die Straßen in einem größeren Radius. Aber die Stadt hatte meinen Bruder verschluckt. Ich war ratlos. 

Die Dämmerung ging früh in den Abend über. Bedrückt rief ich zuhause an.
Mein Vater reagierte entschlossen. Sie würden kommen, mit dem Auto, sofort. Erleichtert legte ich den Hörer auf.
Um acht Uhr verabschiedeten sich meine Freunde. Ihre Hände klatschten ermutigend auf meinen Rücken. Gegen zehn Uhr waren meine Eltern da und wir gingen zur Polizei. Die Stadt pulsierte im Licht der Verkehrs und der Leuchtreklamen. Johannes war noch immer verschwunden, hatte sich auch zuhause nicht gemeldet, wo jetzt unsere Oma neben dem Telefon saß.

Auf der Wache meinte der Polizeibeamte, dass es nicht ungewöhnlich wäre, wenn ein Siebzehnjähriger loszog, um die Stadt allein zu entdecken. Gerade in diesen Zeiten. Das war eben Berlin. Wir könnten ihn als vermisst melden, aber wenn meine Eltern so besorgt wären, wäre es vielleicht besser, erst in den Krankenhäusern zu fragen. Vielleicht war er dort eingeliefert worden. Alkohol, Drogen, eine Prügelei, ein Unfall, das war hier Alltag. Ihre Liste mit gemeldeten Vorfällen war lang.
„Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?“
Der Beamte zog ein paar Blätter zu sich heran. Thermopapier aus einem Faxgerät. Mit dem Zeigefinger fuhr er von oben nach unten über die Seiten, bis der Finger in einer Zeile stoppte.
Er stand auf und ging in eines der hinteren Zimmer. Nach ein paar Minuten kam er mit einer jungen Kollegin wieder heraus. Sie bat uns in ihr Büro und wartete bis wir uns gesetzt hatten. Dann lächelte sie unsicher.
„Wir haben eine Meldung bekommen, die zu Ihren Angaben passt. An der S-Bahnlinie nach Lichtenrade hat es am frühen Morgen einen Todesfall gegeben. Leider hatte der Mann keine Papiere bei sich und konnte deshalb noch nicht identifiziert werden. Zu der Todesursache fehlen uns noch abschließende Erkenntnisse, aber zurzeit gehen wir von einem Suizid aus.“ Sie hatte schnell gesprochen und musste Luft holen. Wir waren wie erstarrt. Ihr Blick wanderte nervös zwischen unseren Gesichtern hin und her und sie wurde rot.
„Ich kann Ihnen im Moment nicht sagen, ob es sich um Ihren Sohn handelt. Damit Sie Gewissheit haben und um unsere Ermittlungen zu unterstützen, können Sie ihn identifizieren?“

Es war mein Bruder.
Ich konnte da nicht mit reingehen, weil mir schlecht war vor Angst. Aber meine Eltern haben ihn erkannt. Als sie wieder vor der Tür zum Kühlraum standen, brach meine Mutter zusammen.
Haben Sie das schon mal miterlebt? Es ist, als ob jemand in lauter kleine Stücke zerfällt. Meine Mutter zerbröselte zu einem Haufen Krümel auf dem Boden des Flurs und ich sah hilflos zu.

Die Zeit danach ist schwer zu beschreiben. Es war so, als ob bei uns das Licht ausgegangen wäre.
Stellen Sie sich vor, Sie wären mit zwei Menschen, die Sie sehr mögen, in einem Zimmer. Plötzlich geht das Licht aus. Kann sein, dass das Schicksal es ausgeknipst hat. Kann sein, dass Sie noch ein höhnisches Lachen hören. Aber das ist nicht wichtig, weil Sie gerade ganz andere Probleme haben.
Sie sind nämlich in diesem Raum, es ist zappenduster und alle drei stolpern herum und suchen den Lichtschalter. Weil es so dunkel ist, stoßen Sie ständig an die Möbel, die dort stehen. Es tut jedes Mal höllisch weh. Außerdem werden Sie von den anderen angerempelt, weil die Sie nicht sehen. Auch das tut weh und Sie bekommen immer mehr blaue Flecken.
Dann stellen Sie fest, dass Ihre Stimme versagt. Sie können nicht mehr mit den anderen sprechen und die sprechen auch nicht mehr mit Ihnen. Das ist aber okay, denn die Schmerzen machen es Ihnen unmöglich zuzuhören.
Manchmal treffen Ihre tastenden Hände in der Dunkelheit auf andere Hände. Dann sind Sie froh, dass einer Sie hält. Der andere ist auch froh und sie klammern sich eine Weile aneinander, aber bald lassen Sie wieder los. Sie müssen ja weiter nach dem Lichtschalter suchen.
So war das bei uns. Meine Eltern und ich sind ziemlich lange herumgeirrt.

Sie fragen, wann das ein Ende hatte? Hoffen auf ein Happy End?
Stellen Sie sich noch einmal den dunklen Raum vor. Die Zeit verging dort sehr langsam. Aber irgendwann hörte ich die leise Stimme meiner Mutter. Vielleicht, sagte sie, würden wir etwas falsch machen. Vielleicht wäre der Lichtschalter gar nicht die Lösung. Mein Vater und ich gaben zögerlich zu, dass wir das auch schon mal gedacht hatten.
Daraufhin versuchten wir es anders. Noch immer war es dunkel und in Abständen litt jeder von uns an dem Schmerz, aber es half, dass wir zusammen waren. Schließlich fanden wir ein Fenster, öffneten es und stießen die verschlossenen Läden auf. Die Sonne schien zu uns herein.

Sind Sie erleichtert? Warten Sie, lehnen Sie sich noch nicht zurück.
Vielleicht sind Sie schon mal aus einer alten Kirche, so einer mit dicken Mauern und kleinen Fenstern, raus auf den sonnenüberfluteten Vorplatz gekommen. Wenn Sie nicht religiös sind, nehmen Sie einfach ein anderes altes Gemäuer und zum Beispiel einen sonnigen Burghof.
Was haben Sie da gemacht? Wahrscheinlich haben Sie ein paar Sekunden die Augen zugekniffen, um sie dann nur ein wenig zu öffnen. Haben vorsichtig ins Licht geblinzelt, bis Sie von der Helligkeit nicht mehr geblendet wurden. 

Wir mussten uns jedenfalls erst daran gewöhnen, wieder mehr Licht in unser Leben zu lassen. Das ging nicht von heute auf morgen. Außerdem hatten wir uns verändert, waren gealtert. In den Haaren meiner Eltern waren graue Fäden und in ihren Gesichtern Falten.
Am Anfang haben sie nur halbherzig gelächelt. Ich war erstmal nicht sehr gesprächig. Aber Schritt für Schritt wurde das besser und wir haben ein anderes, ein neues Leben begonnen.
Ja, wir genießen jetzt an schönen Tagen wieder die Sonne und sind froh.

Als Johannes noch bei uns war, waren wir zu viert.
Irgendwie vollzählig. Wie ein Kleeblatt mit vier Blättern, wie Glücksklee.