Von Birgit Wolf

Es hatte angefangen leicht zu regnen. Gunda zog sich die Kapuze ihrer Funktionsjacke über den Kopf, atmete tief durch und stapfte weiter zielstrebig den Wanderweg entlang. Das bisschen Regen machte ihr nichts aus, es war ja nicht kalt. Gleich morgens um acht war sie zuhause aufgebrochen und nun schon seit über einer Stunde in diesem herrlichen Wald unterwegs. Sie liebte die frühen Stunden in der Natur, bevorzugte einsame Spaziergänge und Wanderungen ohne Begleitung. Nur hier könne sie ungehindert ihren Gedanken nachhängen, sich frei fühlen, meinte sie immer, wenn ihre Tochter oder Freundinnen sie darauf ansprachen. Es sei doch viel zu gefährlich, gerade in ihrem Alter, man könne ja auch mal stürzen oder ähnliches, waren in Gundas Augen unsinnige Einwände. So ein Blödsinn, sie war zwar über siebzig, aber sehr gut beieinander, immer noch sportlich und hell im Kopf. Außerdem hatte sie ja ein Handy dabei und konnte jederzeit um Hilfe telefonieren. Gunda war technisch bewusst stets auf dem Laufenden geblieben. Das machte sie schließlich auch unabhängig, war ihre Meinung.

 

Ein Stück entfernt sah sie einen Unterschlupf, unter dem sie eine kleine Rast einlegen wollte. Vielleicht hörte es inzwischen ja auch wieder auf zu regnen. Es war eine offene Holzhütte mit Tisch und zwei Bänken, für alle Wanderer frei begehbar. Solche Unterstände waren hier in größeren Abständen am Wegesrand zu finden. Bei Regen ist es darunter allemal angenehmer, als draußen zu sitzen, dachte Gunda und ging noch ein wenig schneller. Dort angekommen packte sie ihren Rucksack auf den Tisch und holte eine Thermoskanne mit heißem Tee heraus. Sie goss sich ein und trank genüsslich in kleinen Schlucken, dazu aß sie ein paar Nüsse, die sie in einer kleinen Box mitgenommen hatte. Ah, das tat gut. Bis jetzt war ihr auf dem Weg noch niemand begegnet. Nicht ungewöhnlich, mitten in der Woche und außerhalb der Ferienzeit. Gunda wohnte am Rande des Harzes und hatte in den Wäldern ihre speziellen Routen, kannte sich wirklich gut aus. Den heutigen Weg war sie zuletzt mit Freunden gegangen, aber viel lieber noch wanderte sie hier alleine. Die Route führte sie durch hohen Nadelwald, vorbei an einem Bach, den sie gleich kreuzen würde. Sie wollte nach der Pause noch eine gute Stunde weitergehen, bis zu einem Aussichtspunkt und dann nach einer weiteren Rast den Rückweg antreten. Von dort hatte sie sich eine kürzere Strecke ausgeguckt, die wieder aus dem Wald heraus, etwa sechs Kilometer weit bis zu einer Hauptstraße führte. Dort war eine Bushaltestelle von der sie der Bus zurück in die Kreisstadt bringen würde. So gegen eins wollte sie wieder zuhause sein und sich bei einem kleinen Mittagsschlaf ausruhen.

 

Gunda stand wieder auf, stellte sich nach vorne und sog die die würzige, feuchte Luft in ihre Lungen. Einfach herrlich war das. Das leichte Rauschen des Regens, die ansonsten völlige Ruhe, hier war Gunda ganz bei sich. Vergessen waren die Momente in denen sie in letzter Zeit ungewohnt kopflos gewesen war, manchmal richtig verwirrt. Sie überkam dann jedes Mal eine große innere Unruhe, lief ziellos in ihrer kleinen Wohnung umher und wusste nicht so recht wo sie war und was sie eben zu tun vorgehabt hatte. Am Ende fand sie sich meist mit zitternden Händen auf dem Sofa oder am Küchentisch sitzend wieder, erschrocken über sich selbst. Dann versuchte sie sich zu sammeln, in dem sie sich bewusst auf ihren Atem konzentrierte bis dieser unangenehme Zustand ganz vorüber war. Das gelang ihr nicht immer leicht und hatte sie in ihrem gewohnten Selbstvertrauen stets aufs Neue erschüttert. In so einen Zustand war sie auch schon zwei, drei Mal unterwegs geraten. Einmal mitten im Supermarkt  beim Einkaufen. Sie hatte plötzlich nicht gewusst, was sie in dem Laden eigentlich wollte. Von jetzt auf gleich fühlte sie nur noch ein schwarzes Loch in ihrem Kopf. Ziellos und fahrig war sie durch die Gänge gelaufen und hatte am Ende Nudeln und Schokolade gekauft, um viel später zuhause festzustellen, dass davon schon reichlich im Schrank lag. Eier, Butter und Brot fehlten ihr aber. Immerhin fand sie nach solch einer „Furchtbaren Unruhe“, wie sie diese Zustände für sich selbst nannte, jedes Mal einigermaßen problemlos wieder nach Hause. Darum hatte sie auch niemandem davon erzählt, denn sagte man nicht, dass Menschen mit Demenz sich immer verlaufen würden? Und das neulich im Supermarkt war nur eine einmalige Sache gewesen, redete Gunda sich ein. Eine ganz normale Alterserscheinung. So hatte sie es nicht nur einmal gelesen und sich dementsprechend verhalten. Außerdem war sie für Demenz ja nun auch wirklich noch ein bisschen zu jung.

 

Jetzt hier im Wald war sie ruhig und fühlte sich ganz klar im Kopf. Geht doch, dachte Gunda, zufrieden. Weiter entfernt hörte sie leise knirschende Schritte näher kommen. Sie sah den Weg hinunter, es waren zwei Wanderer. Mehr konnte Gunda aus der Ferne nicht erkennen, denn beide hatten gegen den Regen ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, so wie sie selbst eben. Sicher wollten sie auch zur Hütte und Gunda verspürte keine Lust hier gleich in ein Gespräch verwickelt zu werden. Das waren doch immer dieselben oberflächlichen Sätze die ausgetauscht wurden, wenn man sich auf Wanderungen unter Fremden begegnete. Sie musste sich sowieso wieder auf den Weg machen, wenn sie ihre Route einhalten und rechtzeitig an der Busstation sein wollte. Nur der Regen spielte leider weiterhin nicht mit. Er fiel in gleichmäßigen und geraden Bahnen vom grauen Himmel herab, streifte die inzwischen tropfnassen Tannen, war aber zum Glück nicht allzu kräftig. Es half ja auch nichts. Gunda packte ihre Sachen zusammen, hängte sich den Rucksack über, zog die Kapuze wieder fest über ihren Kopf, nahm ihre Wanderstöcke und marschierte los. Die beiden näher kommenden Wanderer beachtete sie nicht mehr.

 

Sie fand schnell ihren gewohnten Rhythmus, ging in gleichmäßigen Schritten, atmete ruhig und versank dabei in ihre Erinnerungen. So allein war sie schon immer am liebsten unterwegs gewesen. Sie war überhaupt ihr ganzes Leben lang auf Unabhängigkeit bedacht, auch jetzt noch im Alter. Ihre Tochter Susanne hatte sie sehr jung bekommen und alleine groß gezogen. Sie waren damals ein gutes Team, aber es war nie einfach gewesen, denn ihr Beruf als Sozialarbeiterin forderte Gunda ebenfalls sehr. Zwei längere, durchaus schöne Beziehungen zu Männern hatte sie abgebrochen, weil es ihr darin zu eng wurde. Sie wollte sich nicht von einem Mann in ihr Leben reinreden lassen oder sich für ihn zurücknehmen müssen. Sie konnte gut allein sein und erst als Susanne aus dem Haus war, erfüllte sie sich ihre lang gehegten Träume. Endlich Reisen! Es entwickelte sich für sie zur Leidenschaft und die Ziele konnten ihr dabei nicht exotisch und weit genug weg sein. Zudem reiste sie bevorzugt ohne Begleitung und mit nur wenig Gepäck. In ihren letzten zwanzig Berufsjahren hatte sie in einer Einrichtung für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen gearbeitet, eine große Herausforderung. So waren diese Reisen ein wunderbarer Ausgleich zu ihrer Arbeit geworden. Schon die Planungen machten ihr große Freude und versüßten ihr die Zeit bis zur nächsten Abreise. 

Für mich war das ein besonders erfüllender Lebensabschnitt, dachte Gunda versonnen während sie weiter automatisch einen Schritt vor anderen setzte. Ich habe einen sinnvollen Beruf gehabt und bin privat frei und ohne große Verpflichtungen gewesen, wer kann das schon von sich sagen, freute sie sich. Am Ende hatte sie auf ihren vielen Reisen fast die ganze Welt gesehen und konzentrierte sich darum seit einiger Zeit hauptsächlich auf die nähere Umgebung. Für noch mehr Ruhe und schöne Natur um sich herum war sie darum erst mit Ende sechzig aus der Großstadt hierher gezogen. Sie brauchte die fernen Länder nicht mehr, in Deutschland war es schließlich auch sehr schön. 

 

Fast unmerklich und mühelos hatte Gunda inzwischen das nächste Ziel ihrer Wanderung erreicht, den Aussichtspunkt. Wie herrlich, dachte sie. Seit kurzem regnete es auch nicht mehr und die Sonne kam sogar ein bisschen heraus. Tief aus dem Wald hinter sich hörte sie jetzt die kreischenden Geräusche einer Motorsäge. Gunda gefiel der Gedanke, dass hier heute auch gearbeitet wurde. Sie stellte sich an den Rand der Anhöhe und genoss den Ausblick. Hier öffnete sich der Wald und man konnte über Felder und Wiesen bis hin zu einem kleinen Ort in der Ferne sehen. Sie war zufrieden und auch stolz auf sich, das waren die Momente die sie liebte, für die sie lebte. Dass sie ziemlich durchnässt war, fiel ihr gar nicht auf. Nun noch eine weitere Pause und die mitgebrachten Brote essen und dann den Rückweg zur Hauptstraße antreten. 

Als sie lange genug gesessen, ihren Proviant verzehrt und ihren Rucksack wieder gepackt hatte, wusste sie aber nicht mehr welchen Weg sie zurücknehmen sollte. Es gabelten sich vorne zwei Wege und wo wollte sie überhaupt hin, was machte sie hier? Es war plötzlich so dunkel in ihrem Kopf, das schwarze Loch war wieder da. Panik überfiel sie. Unruhig und ohne jeglichen Plan stand sie vor der Bank, den Rucksack auf dem Rücken, die Wanderstöcke lose in der Hand, den Blick leer und umher irrend. Wie lange, weiß sie später nicht mehr. 

 

Als Gunda wieder bei sich ist, blickt sie direkt in die Augen eines freundlich aussehenden Mannes. Ein anderer steht daneben, beide in brauner Arbeitskleidung. Sie sitzt immer noch auf der Bank am Aussichtspunkt. Der Mann neben ihr hält ihre beiden Hände und redet dabei ruhig auf sie ein. Gunda versteht das nicht und macht sich mit einem Ruck von ihm los. „Ich muss jetzt nach Hause“, sagt sie energisch, „und was wollen sie denn eigentlich von mir!?“.