Von Andreas Schröter

Wenn wir Besuch haben – und wir haben oft Besuch, weil wir freundliche, hilfsbereite und humorvolle Menschen sind –, dann kommt unweigerlich die Frage: „Mensch, wie könnt Ihr Euch das alles leisten?“ Und unsere Gäste deuten dabei in einer ausgreifenden Handbewegung durch unser Wohnzimmer, für das sicherlich die Bezeichnung „Ballsaal“ angebrachter wäre. Einmal im Winter haben wir zwei kleine Tore an jeder Seite aufgestellt, und ich habe mit meinen beiden Jungs und noch ein paar anderen Kindern darin Fußball gespielt – ging prima, so groß ist das. Die drei Meter hohen Decken sind stuckverziert, an den Wänden hängen wertvolle Teppiche und an den Aufgängen zu den oberen Etagen stehen fünf große Skulpturen, die angeblich von einem alten Meister aus dem 17. Jahrhundert stammen.

Zu unserem Anwesen gehören: Neun Zimmer auf insgesamt 350 Quadratmetern Wohnfläche, drei Badezimmer aus Marmor, ein riesiger Garten mit uraltem Obstbaumbestand, eine 200 Meter lange Kieszufahrt, zwei Swimming-Pools, eins innen, eins außen, und noch ein bisschen mehr an nettem Schnickschnack.

Wir – also meine Frau, unsere beiden halbwüchsigen Söhne und ich – wohnen jetzt seit fünf Jahren hier. Ich weiß noch, wie Silvia und ich bei der Hausbesichtigung mit irgendeinem schleimigen Immobilienheini in einer Tour gekichert und uns gegenseitig in die Seite geknufft haben, wenn er nicht hingeschaut hat. In der Anzeige stand: „Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert in Stadtrandlage für 400 Euro warm zu vermieten.“ Wir haben uns gesagt: Warum sollen wie den offensichtlichen Fehler – da fehlte mit Sicherheit eine Null – aufklären und uns so um eine kostenlose Führung durch dieses wunderschöne Haus bringen?!

Als wir alles gesehen hatten, meinte der Immobilien-Mensch: „Und, was denken Sie?“

Jetzt war es wohl an der Zeit, den Irrtum aufzuklären. Ich sagte: „Es ist wunder-wunderschön, aber wir können es uns nicht leisten. Ich habe eine halbe Stelle in einer Buchhandlung, und meine Frau“, ich deutete auf Silvia neben mir, „sitzt an drei Tagen in der Woche im Penny-Markt an der Kasse.“

Unser Führer zog die Augenbrauen hoch und antwortete: „Andererseits sind 400 Euro warm nun auch nicht so viel Geld für ein solches Anwesen …“

Jetzt war es an uns, verdutzt zu gucken. Nur geschätzte sieben Minuten später schlugen wir ein, und eine weitere halbe Stunde danach hatten wir den Mietvertrag unterschrieben. Zum nächsten 1. konnten wir einziehen, und es war bereits der 27. Wir konnten unser Glück kaum fassen. Silvia drückte mir immer wieder die Hand, und wenn der Immobilienmakler nicht gewesen wäre, hätten wir vermutlich auf der Stelle vor Freude im Ballsaal getanzt.

Während unsere Schritte auf dem Weg zu den Autos auf dem Kies knirschten, meinte der Makler: „Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Es gibt eine winzige Besonderheit, die aber nichts zur Sache tut. Sie dürfen das Licht unten in dem großen Wohnzimmer niemals löschen. Niemals.“ Seine Stimme hatte etwas Ernstes angenommen, das vorher nicht darin zu hören gewesen war.

Wir blieben stehen und schauten ihn fragend an.

„Ich kann Ihnen dazu keine Details mitteilen, aber das war das, was mein Auftraggeber bat, Ihnen unbedingt mitzuteilen. Ein Problem ist das nicht. Die modernen LED-Lampen von heute verbrauchen nicht viel Strom. Sie werden das in der Abrechnung kaum spüren.“

 

***

Fünf Tage später war der Umzug über die Bühne gegangen. Gottseidank waren einige Zimmer in unserem neuen Zuhause möbliert, sonst hätten wir viel zu wenige Möbel gehabt, um das Haus auch nur einigermaßen wohnlich zu gestalten. Unsere beiden Jungs tobten von der ersten Minute an im Garten herum. Sie wollten in einem der Kirschbäume ein Baumhaus bauen. Ich hatte sie noch nie zuvor so glücklich gesehen.

Die Sache mit dem Licht beschlossen wir zu ignorieren. Zwar hielten wir sie für absoluten Blödsinn – die Schrulligkeiten eines älteren Herrn, für den wir den Vermieter hielten und den wir noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Aber was soll’s. Vielleicht würde ein Ausschalten des Lichts irgendeine Art von Fehler oder Kurzschluss in dem alten Elektronik-System des Hauses verursachen, und am Ende würde der Vermieter uns die Reparatur in Rechnung stellen – schließlich hätte er uns ja gewarnt. Also in drei Teufels Namen ließen wir das Licht im großen Ballsaal eben nachts an. Wir fanden heraus, dass es sogar einen eigenen dieselbetriebenen Generator gab, der sofort anspringen würde, sollte es einmal zu einem Stromausfall kommen. Die Lichtschalter im gesamten Raum waren verklebt – allerdings mehr schlecht als recht und offenbar auch schon vor sehr langer Zeit, sodass das Klebeband brüchig geworden war. Wer die Schalter unbedingt betätigen wollte, der würde das tun können. Seltsam.

In unserem (großen) Bekanntenkreis sprach sich schnell herum, was wir für ein Glück gehabt hatten. Natürlich wollten alle unser Traumhaus sehen, also hatten wir praktisch an jedem Wochenende Gäste. Und weil wir nur fünf der neun Zimmern nutzten, standen immer vier leer, in denen wir bequem unsere Besucher unterbringen konnten.

Ralf kam etwa drei Monate nach unserem Einzug. Er war mein ältester Freund. Ich kannte ihn bereits aus Schulzeiten. Er war immer der Draufgänger gewesen, der sich nur selten an Regeln hielt, während ich eher der Mitläufer war, der zu jeder nächtlichen Spontantour nach Paris oder Amsterdam erst groß überredet werden musste. Natürlich hatte Ralf deutlich mehr Erfolg bei den Frauen als ich. Ins „Schloss“, so nannten Silvia und ich unser Zuhause mittlerweile unter uns, kam er dennoch allein. Er sei solo, verkündete er. Seine jüngste Eroberung habe ihn vor einem Jahr sitzenlassen. Kinder habe er trotz seiner vielen Beziehungen nie bekommen, und auch seine Eltern seien schon gestorben. Wegen eines Herzklappenfehlers sei er sogar schon in Frührente.

Ralf war sofort hellauf begeistert von unserem Ballsaal. Diese Weite, diese Erhabenheit, dieser Geruch nach altem Holz und nach „dem Vergehen der Jahrhunderte“, wie er meinte. „Dieser Raum atmet Geschichte“, philosophierte er weiter. Er schien kaum zu bremsen. Als der Abend zu Ende ging und wir alle nach dem schweren Rotwein, den wir zuvor genossen hatten, etwas müde geworden waren, bot ich an, ihm eines unserer Gästezimmer zu zeigen, doch Ralf lehnte empört ab: „Ich werde nirgendwo anders schlafen als genau hier in Eurem wunderbaren Wohnzimmer. Gebt mir eine Decke, wenn Ihr habt. Ich möchte noch ein bisschen die Einmaligkeit dieses Raums genießen.“

„Ach, Ralf, eine Sache: Du müsstest leider über Nacht das Licht anlassen.“

„Warum das?“

Ich gab unsere Vermutung als Tatsache aus: „Es gibt einen Defekt in der Elektronik. Wenn man das Licht ausschaltet, könnte das elektronische System des Hauses zusammenbrechen.“

Ralf tippte sich in der Nachahmung eines militärischen Grußes an die Stirn und sagte „Aye, Sir“, grinste dabei aber sehr seltsam.

***

Silvia und ich sind noch immer – Jahre nach dieser Nacht – unendlich froh, dass wir am nächsten Morgen vor unseren Jungs aufwachten. Nicht auszudenken, wenn sie vorgefunden hätten, was wir vorfanden: Der Ballsaal war nicht wiederzuerkennen. Die Teppiche hingen schief an den Wänden, zwei der großen Skulpturen lagen umgestoßen und teilweise beschädigt auf dem Fußboden. Über die Wände zog sich eine rote Spur – war das etwa Blut? –, die an einer Stelle in den Schriftzug „HaHaHa“ mündete. Von Ralf fehlte jede Spur – das heißt: nicht ganz. Seinen abgerissenen linken Arm fanden wir unter einem der Sofas.

Es war schwierig, in den nächsten Tagen immer neue Vorwände zu finden, die Jungs oben in ihren Zimmern zu halten, damit die Reinigungsfirma, die wir beauftragen mussten, genug Zeit hatte, alles wieder in Ordnung zu bringen. 3000 Euro lautete die Rechnung. Geld, für das wir einen Kleinkredit aufnehmen mussten. Den konnten wir dann allerdings doch schneller zurückzahlen, als anfangs gedacht: Ralfs Sachen fanden wir vollkommen unberührt in der Ecke, in der er sie zuvor abgelegt hatte. In seinem Portemonnaie steckte auch eine Girokontokarte, an der oben mit einer Büroklammer eine handschriftliche Nummer geheftet war. Die entpuppte sich als Pin für Ralfs Konto, wie ein Abstecher bei der nächsten Sparkassen-Filiale zeigte. Wie leichtsinnig konnte man eigentlich sein? Auf dem Konto befanden sich gut 12.000 Euro.

Silvia und ich diskutierten lange, wie wir nun weiter vorgehen sollten. Wir entschieden uns schließlich dafür, niemandem etwas von dem Vorfall zu erzählen. Die Mitarbeiter der Reinigungsfirma hatten wir glauben machen, hier sei eine Party etwas aus dem Ruder gelaufen. Natürlich hatten wir Ralfs Arm vorher selbst entsorgt. Man würde uns andernfalls verdächtigen, Ralf umgebracht zu haben, und sollten die Jungs etwa im Heim aufwachsen?

Eine Überprüfung der Lichtschalter am Morgen nach der besonderen Nacht hatte ergeben, dass sie auf „Aus“ standen. Als ich sie betätigte, gingen die Lampen sofort wieder an. Ihr Ausschalten hatte also keinen technischen Defekt verursacht, wie von uns vermutet. Der Generator sprang offenbar tatsächlich nur bei einem kompletten Stromausfall an, nicht aber beim Betätigen der Lichtschalter. Von dem restlichen Geld auf Ralfs Konto ließ ich vier große zusätzliche Flutlichtstrahler, wie sie sonst in Fußballstadien verwendet werden, im Wohnzimmer anbringen. Als ich sie eines Abends erstmals betätigte, glaubte ich eine Art Stöhnen aus den Wänden zu hören, aber das kann ich mir auch eingebildet haben.

Wir leben seither ganz gut von Ralfs regelmäßiger Rente. Problem ist nur, dass wir eigentlich beide keine richtige Lust mehr auf unsere halben Jobs haben. Außerdem meint Silvia, vor einem solchen „Schloss“ müsse auch ein schönerer Wagen stehen als unser 20 Jahre alter VW Golf. Sie habe neulich einen Jaguar F-Type gesehen, ein Cabrio, das ihr ganz gut gefalle.

Silvia hat einen alleinlebenden Neffen, den wir eigentlich mal einladen könnten. Er wäre sicherlich mit dem Platz auf dem Sofa im Ballsaal zufrieden. Und sicherlich täte es den vielen Lampen dort gut, für eine Nacht eine Pause zu haben …