Von Karl Kieser

„Jippie“, mein eigener Schrei gellt mir in den Ohren. Ich kann mich ja auch bedenkenlos austoben. Es wird mich niemand hören, hier in meinem Auto, auf dieser verkehrsarmen Landstraße im waldreichen Spessart. Und selbst wenn …, die Welt kann ruhig wissen, wie ich mich fühle. Ich muss meinen Triumph einfach hinausschreien. Das Leben ist schön und es läuft fantastisch für mich.

Heute hat mich mein Chef mit der Abwicklung eines neuen Auftrages betraut. Mich, den jüngsten Ingenieur in unserer Firma. Okay, das ist kein großer Auftrag, aber doch eindeutig ein Vertrauensbeweis. Wenn ich mich in dieser Funktion bewähre, dann ist das ein Sprungbrett auch für größere Aufgaben. Und ich bin mir absolut sicher, die Sache mit Bravour zu meistern.
Eine Beförderung ist mir so gut wie sicher. Dann könnte ich mir vielleicht den rassigen Sportwagen leisten, der auch ordentlich was unter der Haube hat. Nicht so wie diese lahme Karre, mit der ich schon minutenlang hinter dem LKW her krebse.

Endlich, eine lange Gerade und kein Gegenverkehr. Auch der LKW gibt mir ein Blinksignal, dass ich überholen kann. Also Vollgas. Mein müdes Auto kommt nur langsam in Schwung. Wie immer verschluckt es sich erst mal, wenn ich überraschend Leistung verlange und reagiert sehr unwillig. Quälend langsam habe ich endlich den Anhänger geschafft und bin jetzt neben der Zugmaschine. Immer noch kein Gegenverkehr. Die Gerade wird daher locker ausreichen für mein Überholmanöver. Trotzdem ertappe ich mich dabei, mich in meinem Sitz nach vorne geneigt zu haben und dabei gegen das Lenkrad zu drücken, im vergeblichen Bemühen, die Sache zu beschleunigen.
Doch jetzt, urplötzlich, taucht ein grüner Geländewagen von links aus dem Wald auf und kommt mir entgegen. Ein gigantischer Schreck fährt mir in die Glieder. Dieser Idiot! Ist der denn wahnsinnig? Um Gottes Willen, nur kein Frontalcrash! 

Blitzartig schießen die möglichen Alternativen durch mein Hirn. Es gibt nur einen Ausweg: nach links in den Wald. Das Steuer herum. Kurz vor dem Geländewagen im Flug über den Straßengraben. Rechts und links Bäume. Mittendurch und vorbei. Glück gehabt. Immer noch im Flug, wie ein Torpedo durch das Unterholz. Abgerissenes Astwerk peitscht an die Scheiben. Keine Sicht, keine Kontrolle. Harte Landung. Da, ein Baum, dick und solide, genau voraus. Verdammt, das geht nicht gut!
Dann geht bei mir das Licht aus.

-;-;-;-

Jetzt darf ich mir das Dilemma losgelöst aus einer höheren Warte ansehen.
Das Auto hat sich schön frontal um den Baum geschmiegt. Die Motorhaube ist klaffend aufgesprungen. Dampfend entweicht überhitztes Kühlwasser.
Ich muss kichern, denn es sieht wahrhaftig so aus, als ob mein Auto, dampfspeiend wie ein Drache, den Baum fressen möchte.
Doch dann sehe ich mich selbst, zusammengesunken über dem erschlafften Airbag.

Ach du lieber Himmel. Diese Anzeichen kenne ich doch? Die Außensicht auf mich selbst, schwebend über den Ereignissen, die ungewohnt unbeteiligte Distanz.
Das war’s dann wohl. Eigentlich schade. Ich hatte doch noch so viel vor. Und die ganze Plackerei während des Studiums; alles umsonst. Zu meiner beruflichen Bewährung wird es nun auch nicht mehr kommen. Beförderung und Sportflitzer kann ich endgültig vergessen. Himmel, ist das schade! Ausgerechnet jetzt, wo alles so gut lief.
Nur mein Auto mag ich nicht bejammern. Es geschieht der lahmen Krücke ganz recht. Mit dem leistungsstarken Sportflitzer meiner Träume wäre das nicht passiert.

Nach jammern ist mir eigentlich gar nicht zumute. Es fällt mir erstaunlich leicht, mich mit der neuen Situation abzufinden. Ist das so wegen meiner Neigung zum nüchternen Realismus?
Also gut, wenn das nun mal so ist, und ich zwangsweise die Seite wechseln musste, dann will ich mich hier auch nicht länger als nötig aufhalten.
Aber wo ist denn nun das „weiße Licht“, von dem alle reden?
So ein bisschen Orientierung brauche ich schon. Ich kann ja schlecht in eine beliebige Richtung entschweben. Was ist, wenn die sich als völlig falsch erweisen sollte? Womöglich lande ich dann dort, wo niemand hinwill?
Ich sehe mich gründlich um: kein weißes Licht!
Na schön, dann warte ich eben hier, bis sich etwas tut. Ich habe ohnehin keine andere Wahl.

Eben hastet ein ganz in Grün gekleideter älterer Mann durch das plattgewalzte Unterholz. Ist das der Blödmann, der so plötzlich mit seinem Geländewagen aus dem Wald geschossen kam?
Das zerfurchte Gesicht ist von tiefer Besorgnis gezeichnet. Jetzt zerrt er verzweifelt an der Fahrertür. Als die plötzlich nachgibt, landet er, getrieben von seinem eigenen Schwung, auf dem Rücken. Alle Viere in der Luft, wie ein grüner Käfer. Ich muss losprusten. Das sieht aber auch zu komisch aus.
Mir vergeht das Lachen erst, als ich die tiefe Verzweiflung des Alten sehe, der neben der nun offenen Tür in die Knie sinkt und die Hände vor das Gesicht schlägt. Seine Schultern zucken krampfhaft. Weint er etwa? Mein Gott, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.
Wenn ich nur endlich das weiße Licht sehen würde, damit ich hier verschwinden kann. Leider bleibt mir vorläufig nur meine irgendwie losgelöste Beobachterrolle.

Eine ganze Weile kann ich nur den weinenden Förster betrachten. Ich würde ihm so gerne sagen, dass er es nicht so schwernehmen soll. Der weinende Mann, die ganze Situation, … Es ist mir zunehmend unangenehm. Ich will nur noch weg hier.

Ein zweiter Mann stapft durch das Unterholz heran. Das kann nur der LKW-Fahrer sein. Ein großer, handfester Kerl, der augenscheinlich sofort weiß, was zu tun ist. Er hat sogar einen Feuerlöscher mitgebracht. Nun drängt er den immer noch verzweifelt neben mir knienden Förster beiseite und macht sich an meinem Körper zu schaffen. An seiner Gestik und Mimik kann ich erkennen, dass er den alten Mann ungeduldig anschreit. Erst jetzt bemerke ich, dass während der ganzen Zeit alles völlig geräuschlos abläuft. Sehr rücksichtsvoll, dass man mir den Ton abgedreht hat. Ohne dramatische Lautuntermalung wirkt die Szene beinahe erheiternd auf mich.
Der Förster ist endlich aus seiner lähmenden Verzweiflung erwacht, spricht aufgeregt in sein Handy. 

Der Innenraum meines Autos scheint geschrumpft zu sein. Das wird mir bewusst, als der Trucker vergeblich versucht, das Schloss für den Sicherheitsgurt zu erreichen, der mich an den Sitz fesselt. Es gelingt ihm schließlich, die hintere Tür zu öffnen und das Schloss vom Fond aus zu öffnen. Gerade versucht er, meinen leblosen Körper aus dem Wrack zu zerren. Man sieht ihm an, dass er Kraft hat. Im Vergleich zu ihm bin ich nur eine halbe Portion. Trotzdem haben seine Bemühungen keinen Erfolg. Irgendetwas von mir hängt fest. 

Plötzlich wird er hektisch, lässt von mir ab und greift nach dem mitgebrachten Feuerlöscher. Da, jetzt kann ich auch die Flammen sehen, die unter der klaffenden Motorhaube züngeln.
Der Feuerlöscher wird zwar schnell damit fertig, als Techniker kann ich mir aber ausrechnen, das tropfendes Benzin und heißer Auspuff immer noch eine brisante Kombination ist. Das scheint auch der LKW-Fahrer zu wissen, denn nun zeigt er noch mehr Körpereinsatz. Aber es geht nicht. Mein Körper steckt fest.

Ich habe nicht genau mitbekommen, was die zwei alles versucht haben. Erst als der Förster von der Beifahrerseite aus nachgeholfen hat, hat sich mein Körper schließlich in einem Stück aus dem zerstörten Auto herauslösen lassen.
Mit einem ordentlichen Sicherheitsabstand zu dem brandgefährlichen Wrack wird er auf dem Waldboden abgelegt.
Ja, und nun? Keine Herzdruckmassage, keine Beatmung? Kein bisschen Einsatz zur Reanimation? Das finde ich nun aber doch enttäuschend. Der alte Förster kniet wieder neben mir, hält meine Hand. Sein Gesicht zeigt zwar noch tiefe Besorgnis, aber auch einen Anflug von Hoffnung.
Redet er mit mir? Mein lieber Herr, das ist absolut unpassend. Sie sollten lieber  versuchen, mich zurück zu holen. So lange bin ich noch nicht auf der anderen Seite. Vielleicht würde es ja noch klappen. Das weiße Licht sehe ich jedenfalls immer noch nicht.

Die ganze Sache wird mir allmählich zu dumm. Ich habe doch eigentlich nichts mehr zu tun mit diesem Drama. Ich würde mich auch gerne davon machen. Nur, wo ist das Licht?

 

Was ist denn jetzt los? Wieso habe ich auf einmal Schmerzen? Bin ich etwa doch nicht auf der anderen Seite? Unter mir fühle ich auch keinen Waldboden. Hat man mich auf eine Liege gehoben?
Jemand fummelt an meinem Gesicht, hebt eines meiner Augenlider. Auch der Ton ist wieder da.
Und wer noch? Etwa ein Notarzt?

„Er kommt wieder zu sich. Hat die ganze Zeit etwas von einem Licht gemurmelt. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Förster! Den kriegen wir schon wieder hin.“

V2