Von Michael Voß

Auftrag erledigt. Schwungvoll wuchtet Harry die schwere Motorspirale in den Laderaum und schließt die Hecktür mit dem Schriftzug „H. Kaminski – Rohrreinigung“. Am Steuer des Transporters blickt er auf die Uhr: gleich Mittag. Harry entscheidet sich, zuerst die Bareinnahmen zur Kasse zu bringen, bevor er auf einen Burger zum Schnellen Didi weiterfährt.

 

Glück gehabt! In der Parkbucht vor der Bank ist Platz genug. Routiniert manövriert Harry den Wagen in die Lücke, tastet nach den Geldscheinen in der Brusttasche des Blaumanns und steigt auf der Gehwegseite aus. Gutgelaunt wirft er die Tür zu und geht zurück Richtung Bankgebäude. Hinter seinem Fahrzeug parkt der Sprinter einer Reifenfirma, dessen Fahrer ihn böse anfunkelt.

Harry winkt und öffnet die Tür des Bullis: „Was´n los, Kollege?“

„Verpiss dich Mann! Und park deine Scheißkarre woanders! Wie soll ich da gleich rauskommen?“

„Hat dein Chef dich angepampt oder deine Frau? Dann lass deine schlechte Laune an denen aus! Und geh zum Optiker: Vor dir sind fast zwei Meter Platz, da kriegste deine Kiste sogar ohne Rücksetzen raus.“

Die Hand des wütenden Mannes zuckt zum Türgriff und fährt genauso wieder schnell ans Lenkrad: „Ach – vergiss es! Und zisch endlich ab!“

Kopfschüttelnd schlendert Harry weiter. So ein Komiker! Lässt auch noch den Motor laufen – Klimaschutz ist wohl ´nen Fremdwort.

Vor der Bank stehen Leute im Business-Outfit.

Eine vollschlanke Frau im dunkelblauen Kostüm winkt aufgeregt: „Harry! He Harry, hier!“

„Trixie! Was macht´n ihr alle hier draußen?“

Sie reicht ihm eine Brille aus Pappe und mit verspiegelter Folie anstelle normaler Gläser: „Von unserem Chef. Damit wir uns alle die Sonnenfinsternis ansehen können!“

„Mann, die hätte ich glatt verpennt! Nett von deinem Chef! Wo isser eigentlich?“

„Drinnen!“

„Drin?“

„Er meinte, wenn Kundschaft kommt, sollte einer da sein und erklären, dass es nach der Finsternis sofort weitergeht.“

„Aha.“

„Sag, Harry, was geht da neuerdings bei dir?“

„Was meinst´e?“

„Die süße Brünette, mit der ich dich vorgestern Abend bei Lasko´s hab´ rauskommen sehen?“

„N´ andermal, Trixie.“

Die Augen der Frau werden rund: „Hah! Es ist also was Ernstes!“

„Hm.“

„Harry? Wir kennen uns seit dem Sandkasten! Also spann mich nicht auf die Folter!“

Eine Bewegung im Augenwinkel lässt Harry den Kopf zur Seite drehen. Aus dem Laderaum des Reifenautos steigen zwei Männer mit großen Rucksäcken und stiefeln in die Bank. Komisch.

„Hör auf zu bohren, Trixie, s´ bleibt dabei.“

„Hör mal, seit deine Tanja weg ist …“

„Vergiss es. Wollte euer Chef nich´ alle Kunden sofort wieder rausschicken?“

„Ja, klar. Aber lenk nicht ab! Wer ist die …“

„Es geht los!“, ruft jemand.

Ringsum setzen die Menschen ihre Brillen auf und schauen nach oben, auch Trixie. Wo sind eigentlich die Kerle, die eben in die Bank gegangen sind?

Die mit den Rucksäcken.

Die aus dem Laderaum von dem Karren mit dem laufenden Motor ausgestiegen sind.

Dessen Fahrer so nervös war.

Harry durchzuckt ein furchtbarer Verdacht. Nach einer Schrecksekunde zieht er sich unter die Markise des türkischen Gemüseladens neben der Bank zurück, greift zum Smartphone und wählt 110. Obwohl er sofort dran kommt, erscheint ihm das Prozedere quälend langsam: Anstatt sofort ein paar Streifenwagen zu schicken, will der Polizeibeamte erst Harrys Namen und Anschrift wissen, bevor er sich Geschehen, Ort, Fahrzeug und Personen genau beschreiben lässt. Schließlich heißt es: „In Ordnung, wir kommen. Bleiben sie in der Leitung, bis die Kollegen vor Ort sind.“

„In Ordnung!“, sagt Harry und will das Handy in die andere Hand wechseln. Abgelenkt durch eine Bewegung am Bankeingang fällt ihm das Gerät aus den Fingern und schlittert über den Gehweg. Harry reagiert prompt. Doch das Smartphone ist schneller; es kippt über die Bordsteinkante und landet, für´s Erste unerreichbar, in einem Gully. Fast schon hektisch blickt er wieder zur Bank, wo gerade eine Frau ihr quengelndes Kind aus dem Buggy hebt. Von den Dieben keine Spur.

 

Tolle Wurst!, denkt Harry. Bis die Polizisten hier eintreffen und sich orientiert haben, sind die Gauner wahrscheinlich schon losgefahren. Die Ausfallstraße ist nicht weit und bei Tempo 120 sind die Kerle ruckzuck im Industriegebiet, wo sie nur noch den Wagen zu wechseln brauchen, um in aller Ruhe zu verduften.

Er sieht sich um: Alle Welt schaut nach oben, wo sich ganz langsam der Mond vor die Sonne schiebt. Aus der Auslage des Gemüsemanns nimmt er sich eine Kartoffel. Bei seinem Wagen angelangt, öffnet Harry die Schiebetür und greift in den Werkzeugschrank. Bewaffnet mit Panzertape und Schraubendreher geht er geduckt zurück, so dass der Fahrer des Sprinters ihn nicht sehen kann. Auf der Rückseite des Transporters angekommen, nimmt Harry das Werkzeug und bohrt ein Loch in die Kartoffel. Dann steckt er die Knolle auf das Auspuffende. Ein Schlag mit der Handfläche treibt die Feldfrucht in das Edelstahlrohr, so dass das Abgas nun zischend durch das kleine Loch in der Kartoffel entweicht. Mit dem Klebeband fixiert Harry den improvisierten Stopfen, damit der beim Gasgeben nicht sofort wieder rausfliegt. Zum Schluss sammelt er die auffälligen Schalenreste vom Boden, die beim Einschlagen der Kartoffel abgeschnitten wurden und mischt sich unter die Bankleute, die immer noch die Sonnenfinsternis bestaunen.

Im Augenwinkel sieht Harry die Typen mit den Rucksäcken aus der Bank kommen, in den Reifenkarren steigen und davonfahren. Ein Streifenwagen taucht auf; die Beamten darin suchend umherblickend. Harry winkt und zeigt in die Richtung des verschwundenen Transporters. Der Fahrer nickt und tritt das Gaspedal durch. Mit aufblitzendem Blaulicht und jaulendem Martinshorn nimmt der Streifenwagen die Verfolgung auf.

 

Ein paar Abende später hat Harry sein zweites Date mit Lisa.

Vor einem hübschen Einfamilienhaus hält er der zierlichen Anwaltsgehilfin die Beifahrertür seines Transporters auf.

Lisa schüttelt den Kopf und reicht Harry einen Zündschlüssel: „Ich lasse mich wirklich gern von dir im Rohrfrei-Bulli fahren. Aber nicht, wenn wir ausgehen.“

Er hat erst etwas Mühe, mit ihrem Mini Cooper zurechtzukommen, doch schließlich steht der rote Flitzer auf dem Parkplatz eines verträumten Landgasthofes. Harry führt sie hinein.

Seine Begleiterin ist hingerissen: „Ein italienisches Restaurant in einem Fachwerkhaus im Grünen! Ich wusste gar nicht, dass es so etwas in der Nähe gibt! Wie hast du davon erfahren?“

Harry rückt ihr den Stuhl zurecht und setzt sich dann selbst: „Der Job lässt mich halt rumkommen.“

Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben haben, zieht Lisa eine zusammengefaltete Tageszeitung aus ihrer Handtasche: „Darf ich dir was vorlesen?“

Etwas verwundert nickte Harry: „Klar.“

„Der Versuch, eine Bank im Schutz der Sonnenfinsternis auszurauben, scheiterte am Einfallsreichtum eines aufmerksamen Kunden. Harry K. aus D. verschloss den Auspuff des Fluchtfahrzeuges mit einer präparierten Kartoffel, ohne dass die Täter das bemerkten. Der besondere Kniff war, das Abgasrohr nicht komplett zu verschließen, wodurch der Motor zwar laufen, aber nicht mehr seine volle Leistung entfalten konnte. Bevor die Flüchtenden merkten, dass ihr Wagen gedrosselt wurde, war die ebenfalls von Herrn K. herbeigerufene Polizei ihnen bereits auf den Fersen. Die Beamten hatten keine Mühe, den verlangsamten Fluchtwagen zu stoppen und die Insassen zu verhaften. Ebenfalls verhaftet wurde der Bankdirektor. Er hatte Sonnenbeobachtungsbrillen an seine Mitarbeiter verteilt und sie aus dem Gebäude geschickt, damit sie das Himmelsereignis beobachten konnten. Den derweil in die Bank gekommenen Räubern übergab er die Schlüssel des Tresorraumes; die Beute wollten Räuber und Direktor später teilen. Danach ließ er sich in seinem Büro an einen Stuhl fesseln, um es wie ein Überfall aussehen zu lassen. Widersprüche in den Aussagen der Räuber und des Bankdirektors brachten die Ermittler auf die richtige Spur. Inzwischen sind alle Täter geständig. Ein Polizeisprecher lobte die umsichtige Besonnenheit von Harry K., warnte aber auch eindringlich vor allzu couragiertem Verhalten von Zivilpersonen angesichts der steigenden Gewaltbereitschaft krimineller Banden.“

Sie lässt das Blatt sinken: „Sag mal: Harry K. aus D., das warst du, oder?“

„Wie kommst du darauf?“

Lisa schwenkt die Zeitung: „Weil DEIN Wagen auf dem Foto vom Tatort zu sehen ist. Direkt neben der Bank! Oder gibt es noch einen Abflussdienst Kaminski in dieser Stadt?“

Verlegen druckst er herum: „Nee, gibt’s nicht. Es ist mein Auto.“

„Du steckst wirklich voller Überraschungen! Wolltest du mir die Geschichte erst beim Essen erzählen? Oder warum hast dir mir bis jetzt noch nichts davon gesagt?“

Unbequem windet Harry sich auf seinem Stuhl: „Eigentlich – eigentlich wollte ich dir garnix davon sagen. Weil, naja, wir kenn´ uns doch kaum. Wollte nich´, dass du mich für´n Aufschneider hältst.“

 

Gerührt sieht sie ihn aus großen Augen an: „Ach, Harry!“

Unmerklich kommt ihr Gesicht nach vorn. Zahllose kleine Reflexe, hervorgezaubert durch das weiche Kerzenlicht, huschen durch ihr Haar.

Harry wird warm.

Fingerspitzen berühren sich; Hände zucken zurück, als hätten sie einen Schlag bekommen.

In Harry dreht es sich. Sein Herz hüpft aufgeregt, während gleichzeitig Erinnerungen an ein längst vergangenes Drama aufsteigen und ihm den Hals zuschnüren.

Bleib ruhig, Alter! Sie ist nicht Tanja!, ruft er sich stumm zur Ordnung.

In den veilchenblauen Augen vor ihm regt sich etwas. Er weiß nicht wie, aber diese Frau scheint alles zu verstehen.

Ihr Lächeln ist einzigartig: „Sag mal, du Undercover-Agent: Wie kommt man eigentlich auf die Idee, ein Fluchtauto mit einer Kartoffel zu bremsen?“

Erleichtert setzt Harry sein breitestes Grinsen auf: „Ob Wasser- oder Auspuffrohre: Mit Verstopfungen kenn´ ich mich aus!“

 

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