Von Ulli Lenz

Stefan

Ich habe kurzfristig Karten für die Premiere ergattert, noch dazu zweite Reihe Mitte. Tina ist selig, denn die Ankündigung des Stücks hat ziemlich Aufsehen erregt.

Es herrscht der übliche Trubel beim Einlass. Die Sektgläser klirren, teure Mäntel werden über den Garderobetresen geschoben und auffallend viele Männer mit jüngeren Frauen sind anwesend. Natürlich auch einige bekannte Gesichter aus Wirtschaft und Politik. Premiere eben.
Tina strahlt mittendrin wie ein Christbaum. Sie ist auch ähnlich behängt wie eine Tanne an Weihnachten. Trotzdem wird mir schlagartig bewusst, dass sie ihren Glanz mittlerweile verloren hat.

Knapp vor Beginn der Aufführung bahnen wir uns einen Weg zu unseren Plätzen. Zuerst bemerke ich nur ihn. Kein Wunder, bei der Statur. Groß und breit, in jeder Hinsicht.
Natürlich kenne ich ihn. Jeder in der Branche weiß, wer er ist.

Er nimmt mit seiner Begleiterin in der ersten Reihe Platz, schräg vor uns. Die Dame sehe ich nur von hinten. Sie trägt ein schlichtes Kleid, das am Rücken so tief ausgeschnitten ist, dass ich mich gedanklich noch tiefer bewege. Irgendwie erinnert sie mich an meine Frau. Nur eleganter. Und jünger.

 

Marietta

Das Licht geht aus, es wird still im großen Saal. Das Tonband mit der Musik legt los. Langsam bewege ich mich im Dunkeln vorwärts. Es ist wohl mehr ein Vorwärtsstolpern, auf diesen viel gepriesenen Brettern, die für mich heute die absolute Überwindung bedeuten. Sekunden dehnen sich in kleine Unendlichkeiten. Nervös zähle ich die Schritte, die mich ungefähr bis zur Markierung bringen sollen, auf der meine Bloßstellung beginnen wird.

Fünfzehn, sechzehn, siebzehn. Mühsam löse ich meine Arme, die ich verkrampft an meinen Körper gepresst halte und nehme die Anfangspose ein. Versuche meine Gesichtsmuskeln zu lockern, um dem Publikum ein Lächeln servieren zu können. Halte mich im Geiste daran fest, dass das Engagement meine Geldsorgen für einige Zeit schlucken wird.

Und dann ist er da, der große Moment. Von dem der Regisseur annimmt, dass er die Zuschauer überwältigen wird und die Kritiker noch monatelang schwärmen. Das Licht erhellt mich gnadenlos von allen Seiten, die verzweifelt klingende Hintergrundmusik ebbt ab, um meiner Stimme Raum zu geben. Trotz meiner Angst übernimmt die Professionalität das Ruder. Ich sperre die panischen Gedanken weg und versetze mich in die Rolle, wie schon unzählige Male zuvor. Ganz automatisch beginne ich meine Darbietung. Nur mit dem entscheidenden Unterschied: diesmal bin ich nackt.

 

Josefine

Fassungslos blicke ich zu Henning. Er hat mir zwar gesagt, dass der Geschmack des Regisseurs polarisiert, aber damit habe ich trotzdem nicht gerechnet.
Unsicher flüstere ich ihm zu: „Ich dachte, es geht um die Entbehrungen der Mutter und die Opfer, die sie für die Familie in Kauf nimmt.“
„Das dachte ich auch“, wispert er zurück.

Die Frau ist ungefähr so alt wie ich, also zumindest fünfzig oder älter. Sie sieht definitiv gut aus für ihr Alter, auch wenn sie etwas zu viel auf den Hüften hat.

Ich bin nicht prüde, doch bei dem Gedanken daran, selbst auf der Bühne stehen zu müssen, um meinen Körper so zur Schau zu stellen, wird mir übel. Unbewusst klammere ich mich am Arm von Henning fest, in der Hoffnung, dass diese Inszenierung noch mit bekömmlicheren Szenen aufwarten wird. Aber der Monolog der ‚Mutter‘ auf der Bühne dauert an. Peinlich berührt beobachte ich, wie sie im Spiegel ihre Kaiserschnittnarbe begutachtet, betrübt die hängende Bauchdecke schwabbeln lässt, um anschließend den ehemaligen Zustand ihrer Brüste und Oberarme zu rekonstruieren.

Nach etwa zehn Minuten beugt sich Henning zu mir und fragte mich, ob ich gehen möchte.
Natürlich,  ihm entgeht nie, wenn ich mich nicht wohl fühle. Ich habe Bedenken, jetzt den Saal zu verlassen, schließlich sitzen wir in der ersten Reihe und jeder wird unseren frühzeitigen Abgang bemerken. Aber Henning denkt nicht an seinen Ruf, sondern nur an mich. Er ergreift meine Hand und steht gebückt auf. Auch ich erhebe mich, drehe mich dann aber noch kurz nach hinten, um nach meiner Handtasche zu greifen. In diesem Augenblick spüre ich seine Augen auf mir.

 

Stefan

Das Aufstehen des Pärchens schräg vor mir lässt meinen Blick automatisch von der ekelerregenden Dicken auf der Bühne zum verführerischen Rücken schweifen. Bereits im Gehen dreht sie sich zur Seite, um ihre Tasche mitzunehmen, und in dem Moment streift der Scheinwerfer ihr Gesicht. Wie eine Lawine donnert der Schock durch meinen Körper, als ich realisiere, das es sie ist. Noch bevor es mir bewusst wird, posaune ich ihren Namen viel zu laut in den Saal.

 

Josefine

Er sitzt in der Reihe hinter uns. Sein vertrautes Gesicht erkenne ich nach über dreißig Jahren Ehe sogar im abgedunkelten Raum.
„Fini!“, stößt mein Ehemann vor Überraschung viel zu laut hervor, und wer unseren Aufbruch bisher noch nicht bemerkt hat, schaut spätestens jetzt hierher.

Auch wenn ich mit Stefan nicht gerechnet habe, erschüttert mich die Tatsache, dass er hier mit einer erheblich jüngeren Frau sitzt, kein bisschen. Damit erhält der längst bestätigte Verdacht bloß ein Gesicht.
„Komm, Josefine, gehen wir.“ Auch jetzt versucht Henning mich zu schützen und  greift behutsam nach meinem Ellbogen.

„Jo-se-fiii-ne, so ist das also“. Stefans Stimme übertönt mühelos die der Schauspielerin, aber ich kann nur daran denken, dass uns nun mit Sicherheit der gesamte Saal beobachtet. Am liebsten würde ich im Boden versinken.

 

Marietta

Ein lauter Ruf bringt mich ins Stocken. Meine Augen finden die Quelle der Störung in der ersten Reihe. Ein Paar scheint im Begriff zu sein, den Saal zu verlassen. Mein Herz wird schwer und sinkt nach unten, droht meine Knie zu Boden zu drücken. Meine schlimmsten Befürchtungen werden übertroffen, wenn die Zuschauer schon jetzt flüchten. Ich schlucke mühsam und versuche stark zu bleiben. Aber noch bevor ich meinen Text wieder aufgreifen kann, höre ich erneut die Stimme aus dem Publikum.

„Du betrügst mich mit diesem fetten Kerl? Ernsthaft? Das ist wirklich armselig.“ Die Worte kommen von einem verächtlich blickenden Mann aus der zweiten Reihe, der anscheinend zu seiner aufbrechenden Frau spricht.

Perplex bleibt mir der Mund offenstehen. Ich habe angenommen, dass der Zwischenruf mir gegolten hat. Diese Art der Unterbrechung trifft mich völlig unerwartet, und ich vergesse, dass von mir verlangt wird, mich unter keinen Umständen aus der Fassung bringen zu lassen.
Im Saal ist es unheimlich still, alle Aufmerksamkeit ist nun auf das Schauspiel in der ersten Reihe gerichtet.

„Ich habe nicht erwartet, dass du das verstehst, Stefan“, antwortet die Blonde mit klarer Stimme. „Bitte, erspar‘ uns das Theater.“
„Ha! Einen passenderen Ort für eine ordentliche Szene könnte ich gar nicht finden!“, schreit der betrogene Ehemann. Seine junge Begleiterin zerrt vergeblich an seinem Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Die Ehefrau ignoriert ihn und dreht sich zu ihrem Liebhaber um. Sie strahlt Selbstbewusstsein und Stärke aus, und ich komme nicht umhin, sie zu bewundern. Mein Auftritt rückt in den Hintergrund, ich will wissen, wie es weitergeht. Das Publikum anscheinend auch, denn es starrt wie ich gebannt auf das Ehepaar.

Vorsichtig schiele ich nach oben zum Regisseur und erkenne, dass dieser gerade aus seiner Loge stürmt.

 

Stefan

In mir tobt ein Orkan. Dass sie mich so hintergeht, habe ich ihr nicht zugetraut. Und dann noch ausgerechnet mit ihm! Irgendwo in meiner Brust verspüre ich einen starken Druck, den ich nicht zuordnen kann. Die Hitze in meinem Kopf ist unerträglich.
Genervt schüttle ich Tina ab und springe von meinem Stuhl auf. Ich kann Fini nicht einfach widerspruchslos gehen lassen.

„Wage es ja nicht, so davonzulaufen!“, schreie ich ihr hinterher. Selbst mir fällt auf, wie lächerlich das klingt. Immerhin dreht sie sich nochmals zu mir um.

Ich habe keine Idee, was ich Sinnvolles sagen könnte. Das und die Erkenntnis, dass sie mich reglos anstarrt, bevor sie weitergeht, entfacht meinen Zorn noch weiter.
„Ich habe mich stets abgerackert, um dir und den Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen, und das ist dein Dank?“ Meine Worte hören sich abgedroschen und billig an, und noch dazu viel verzweifelter, als mir recht ist. Neben mir fängt Tina zu heulen an.

Noch einmal dreht sich Fini zu mir um. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals so gesehen zu haben. Steinern, auf eine majestätische Art und Weise. Und schön.
„Danke Schatz, ich weiß es zu schätzen, dass du dir deine Überstunden sogar mit ins Theater genommen hast“, sagt sie.
Und ich habe sie ganz sicher noch nie so hart und unbarmherzig reden gehört.

 

Marietta

Fasziniert beobachte ich, wie die blonde Dame mit ihrem Begleiter den Ausgang anstrebt. Ich gebe dem Drang nach, ihr zu ihrer Courage zu gratulieren und beginne zu klatschen. Das Publikum fällt augenblicklich mit ein, und so verlässt sie den Raum mit großem Applaus. Als die Tür sich schließt, vernehme ich hinter der Bühne aufgeregte Stimmen und das Poltern schwerer Schritte.

Aus einem Impuls heraus, stelle ich mich an den Rand der Bühne. Dann verkünde ich mit lauter Stimme: „Meine Damen, vergessen Sie nie, welche Stärke in jeder Frau steckt! Wir Frauen können vieles schaffen, und noch viel mehr ertragen. Aber überlegen Sie sich gut, was Sie wirklich wollen.
Ich, ich will das hier nicht mehr! Danke für ihr Verständnis!“

Und mit diesen Worten springe ich von der Bühne und folge der Unbekannten aus dem Saal. Nackt. Mit hoch erhobenem Haupt.

 

Version 3