Von Agnes Decker

Sanft  gleitet das Rouleau nach oben und gibt den Blick auf die dunkle Straße frei. Sie ist menschenleer. Gut so. Ich rücke meinen Sessel nah ans Fenster. Die Polsterung des rotkarierten Ungetüms umfängt meinen Körper in der Mulde, die für ihn vorgesehen ist. Genüsslich schmiege ich mich hinein, positioniere das kleine Samtkissen mittig hinter meinem Rücken, lasse den Kopf an die Rückenlehne sinken und lege die Hände auf die Oberschenkel. Dann schließe ich die Augen. Ich liebe diesen Moment, der immer noch etwas Überraschendes für mich hat und fiebere ihm entgegen. Ich könnte, wie meine Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite, jetzt schon die Kerzen oder batteriebetriebenen Lampen anzünden. Aber ich tue es nicht. Das würde den überraschenden Eintritt des Augenblicks schmälern und damit mein abendliches Vergnügen.

Das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in den wenigen Pfützen, die der kurze Regenschauer hinterlassen hat. Der erste seit langer Zeit. Morgen früh wird nichts mehr daran erinnern. Die Sonne wird mit unverminderter Kraft ihre brennenden Strahlen zur Erde schicken, sie austrocknen und hart machen wie Beton.  So hart, dass der Spaten abbricht, sollte jemand den Versuch unternehmen, seinen Garten zu bestellen. 

Obwohl darauf vorbereitet, lässt es mich jedes Mal zusammenzucken, wenn es geschieht. Die Straßenlaternen erlöschen, gleichzeitig das bläuliche Flackern der Fernsehgeräte und das helle Licht der Lampen. Mit einem Schlag wird es dunkel. Durch wenige Fenster der gegenüberliegenden Häuser dringt gedämpftes Licht, schafft es aber nicht, die Schwärze zu durchdringen. 

Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt haben. Dann tauchen, wie Schattenrisse, die Konturen von Häusern und Bäumen auf, die Umrisse der, nun erloschenen Straßenlaternen, die der parkenden Autos, die Begrenzungen der Vorgärten und die Mülltonnen auf den Gehwegen.  

Dampfend wabert mir die Nachtluft entgegen, als ich das Fenster öffne.  Der Regen hat keine Abkühlung gebracht. Mit der Hand wische ich den Schweiß von meiner Stirn. Ich bin bereit. Ungeduldig reiße ich meine Kleidung herunter, schlüpfe in den Jogginganzug, ziehe die Kapuze über den Kopf und ein Halstuch vor das Gesicht. Mit fahrigen Händen binde ich die Schleifen meiner Schuhe. Alles in mir pulsiert. 

Die Dunkelheit nimmt mich auf wie einen ihrer Schatten. In der schwarzen Kleidung verschmelze ich mit der Umgebung, werde unsichtbar. Meine Bewegungen sind ungestüm, fordernd, wie bei einem Vogel, den man in die Freiheit entlässt. Schrittweise finde ich in den Rhythmus, der meinen Lauf leicht und beschwingt werden lässt. Mein Körper gehorcht ihm, bewegt sich mit einer mechanischen Selbstverständlichkeit.  Der Kopf ist leer und leicht, ich fühle mich ein bisschen trunken, so als hätte ich einen kleinen Schwips. 

Schon habe ich den Eingang des Parkgeländes erreicht, das sich wie ein grünes Band um die Innenstadt legt. Gleichmäßig beugen und strecken sich meine Glieder, fliegen durch die Dunkelheit, die kein Lichtschein mehr erhellt. Lediglich die Umrisse der alten Kastanienbäume, die meinen Lauf begleiten, weisen den Weg. Aber das hätte es nicht gebraucht. Die Füße finden alleine ihr Ziel. Eine geheime Macht hat das Ruder übernommen und trägt mich durch die Nacht. Über mir der mond- und sternenlose Himmel. Ich überlasse mich meinen Atemzügen, meinem dahinfliegenden Körper. Geschmeidige Bewegungen, gleich denen eines schwarzen Panthers, der eins ist mit seiner Umgebung, schön und gefährlich. 

Ein Rascheln und Knacken, begleitet von Grunz- und Schnauflauten lässt mich aufschrecken und mit einem Sprung hinter einen der mächtigen Baumstämme retten. Schon bin ich mittendrin, rieche den unverwechselbaren strengen Maggiduft , spüre die wilde  und gewaltige Kraft. Erde spritzt auf, Äste brechen knackend. Ich presse mich eng an den Stamm. Eine mächtige Rotte rast links und rechts an mir vorbei. Dann entfernt sich das Knacken und Grunzen wieder, verliert sich in der Tiefe des Parkes. Ich atme tief durch. Spüre meine zitternden Beine. Der Schweiß läuft mir über den Körper. Gut gegangen, denke ich, grade nochmal. Der Stamm der Kastanie fängt mich auf, als ich langsam zu Boden sinke. Ich weiß um die Gefahren der nächtlichen Stadt. Was kann das Messer in meinem Rucksack ausrichten? Trügerische Sicherheit. Gegen Wildschweinrotten, Luchse und Wölfe und all die anderen Tiere der Wälder, die in der Nacht die Städte bevölkern. Auf der Jagd sind in den menschenleeren Straßen. Sie haben sich ihren Raum zurückerobert, denke ich, die Natur schlägt zurück. In den dunklen Nächten, in denen in meiner Stadt das Licht ausgeschaltet wird, in denen die Menschen ihre Häuser nicht verlassen dürfen und ich es trotzdem tue oder vielleicht gerade deshalb. Obwohl ich tief in mir diese Angst spüre.

Ich richte mich auf, versuche, den Rhythmus wiederzufinden, laufe weiter durch die verbotene Nacht. Während mein Körper läuft, fühlt sich mein Geist frei und entfaltet sein eigenes Leben. Wie kann es sein, dass ich mich zugleich ängstlich und lebendig fühle? Braucht Lebendigkeit den Adrenalinstoß der Angst wie ein Süchtiger seine Drogen? Aber hat nicht auch die Eintönigkeit, das, sich ständig Wiederholende, seinen Reiz. Meine Gedanken rasen, überfluten mich. Ebenso rast mein Herz. Die Beine beugen und strecken sich schneller und schneller, dunkle Schatten hasten an mir vorbei. Ich fahre mit der Hand über meine schweißnasse Stirn. Atme gleichmäßig. Überlasse mich wieder dem Rhythmus. Ist denn nicht Sicherheit ebenso viel wert wie das Spiel mit dem Risiko? „Du kannst nur das verstehen, was du zähmen kannst“, sagte der Fuchs zum kleinen Prinzen. Ist das Ziel des Menschseins, zu zähmen und zu verstehen? 

Das ist uns nicht gelungen, denke ich und spüre, wie sich die wohlbekannte Resignation breit macht. Die zweite Welle der Pandemie hat uns mit einer Wucht getroffen, mit der niemand mehr gerechnet hat. Ausgangssperren überall auf dieser Welt für Wochen oder sind es schon Monate? Ich habe das Gefühl dafür verloren. Endlose Tage, fiebern auf den einen Moment hin. Hänge in der Warteschleife, hoffe, dass es endlich vorbeigeht. Muss laufen, immer laufen, weglaufen, hinlaufen, weiß es nicht mehr. Sobald das Licht ausgeht, muss ich raus. In die Dunkelheit. Nur mit meinem Messer bewaffnet.  Mensch gegen Tier, ein uraltes Ritual. Das ich verlieren würde, bin ich doch ungeübt darin. Trotzdem muss ich hinaus, Nacht für Nacht.

Ein Lichtstrahl trifft auf mein Gesicht, reißt mich aus meinen Gedanken. Ich hebe die Hand hoch und halte sie vor die Augen. Jemand berührt meine Schulter, schüttelt mich. Als ich meine Hand wegnehme, sehe ich zwei uniformierte Männer vor mir stehen. Sicherheitsdienst, geht es mir durch den Kopf, jetzt haben sie mich erwischt und ich spüre, wie meine Beine schwach werden. „Können wir Ihnen helfen?“, sagt einer der beiden. Und der andere: „ Haben Sie sich verlaufen?“ „Ich bin Tänzerin“, stammele ich, „ich brauche die Bewegung, muss fit bleiben. Verstehen Sie?“ „Na klar“, sagt einer der Uniformierten, „das brauche ich auch, gehe täglich ins Fitnesszentrum. Aber, warum laufen Sie nachts durch den Park? Das ist doch viel zu gefährlich, besonders für eine Frau.“ Ich schaue ihn an, verstehe nicht, was er sagt. „Fitnesszentrum?“, würge ich heraus. „Aber die sind doch alle zu. Es ist doch alles geschlossen.“ Der zweite Mann ist jetzt ganz nahe an mich herangetreten. Im Schein der Taschenlampe kann ich sein Gesicht sehen. Braun gebrannt mit vielen Fältchen um die Augen. „Wovon sprechen Sie?“, er schaut mich fragend an. „Von dem Virus, der Krise? Das ist doch lange vorbei. Schon bald nicht mehr wahr. Haben Sie das nicht mitbekommen?“  Er runzelt die Stirn. „Lesen Sie keine Zeitung, haben Sie keinen Fernseher?“ Fernseher, Zeitung? Meine Augen schmerzen. Tun so weh. Will nicht sehen. Schon lange nicht mehr. „Sie müssen doch mitbekommen haben, dass die Krise vorbei ist.“, ich sehe, wie der Mann den Kopf schüttelt. „Vorbei?“ , stammele ich und und höre die Ungläubigkeit in meiner Stimme. Das kann nicht sein. Kein Licht, wir sollen zu Hause bleiben, zu Hause, immer zu Hause.  Menschen draußen, ohne Maske. Habe sie gesehen. Gefährlich, so gefährlich. Darf man nicht tun. Zu Hause bleiben, immer. Ist besser. Meine Gedanken verwirren sich. Wie ein Wollknäuel. Bekomme es nicht mehr auseinander. „Aber das Licht“, sage ich, „alles dunkel.“ „Das Licht“, der Mann lacht, „das wird auch noch eine Weile so bleiben, wir müssen doch Ressourcen sparen, Wiederaufbau und so.“ „Kommen Sie“, sagt der andere und nimmt meinen Arm, „wir bringen Sie jetzt nach Hause.“

Version 3