Von Jule Detmers
Die Dunkelheit fühlt sich befreiend an.
Ich lasse mich von der Sonnenfinsternis einhüllen wie von einem Mantel, der mich unsichtbar macht. Ein kleiner Windhauch küsst meine Wange. Vielleicht sollte ich es jetzt tun, denke ich, jetzt wo es keiner sieht.
Wenn man den Nachrichten Glauben schenken kann, habe ich ungefähr sechs-ein-halb Minuten, um mich zu entscheiden.
Meine Familie sitzt ein paar Meter hinter mir auf einer Picknickdecke, die fast vollständig bedeckt ist von allerlei Knabbereien, den billigen Sonnenfinsternis-Brillen aus dem Supermarkt und ihren massigen Körpern. Sie sind laut und auffällig. Ich bin froh, dass ich nicht bei ihnen sitzen muss. Die wenigen Meter zwischen uns sind eine Grenze, die mir ein bisschen Freiheit bietet.
Ich schaue an dem Abhang hinunter, an dem ich sitze und sehe nichts.
Ich stelle mir vor, dass sich dort unten ein Tor in eine andere Welt öffnet.
Nur für mich und nur während dieser sechs-ein-halb Minuten.
Der Gedanke daran, sich einfach fallen zu lassen ist irgendwie beruhigend, wenn auch sehr fern.
Der Schritt ins Nichts wäre wie ein Schritt auf die Welt zu.
Unter meinen Füßen rutschen einige Kiesel hinunter in die Unendlichkeit.
Wenn ich jetzt springe, bin ich dann ein Kiesel, von dem man nur merkt, dass er gefallen ist, weil er so nah an seinen Füßen war?
Warum klingt „fallen“ eigentlich so viel schöner als „gefallen sein“?
Ich will nicht in der Vergangenheit ankommen.
Kurz muss ich an Mike denken. Vielleicht schaut er sich auch gerade die Sonnenfinsternis an. Viel lieber würde ich jetzt ihn anschauen. Aber das geht nicht. Ich kann es nicht, zumindest noch nicht.
Ich hoffe, es bleibt noch eine Weile so wie es ist.
Die Gegenwart ist mein Freund. Sie bewahrt mich vor der Zukunft.
Sechs Minuten vergehen, während ich so nachdenke. Dann sieben.
Zu meiner Verwunderung wird es nicht wieder heller, sondern dunkler.
Schwarze und rote Punkte tanzen vor meinen Augen und ich frage mich, ob ich vielleicht gesprungen bin, ohne es zu merken.
Ich will auf mein Handy schauen, doch das Display funktioniert nicht.
Oder sind es meine Augen, die nicht funktionieren?
In meinem Kopf wächst eine kleine Angst heran.
Tief einatmen. Augen zu. Ausatmen. Augen auf. Immer noch schwarz.
Aus der Sonnenfinsternis wird Finsternis.
****
Zwei Wochen später kann ich immer noch nichts sehen.
Genauso wie alle anderen.
In den Nachrichten sprechen sie von einer „Naturkatastrophe“, die uns alle hat erblinden lassen.
Ich verstehe nur die Hälfte von den Erklärungen, mit denen sie uns abspeisen wollen, aber eigentlich ist es mir auch egal. Für mich war es keineswegs eine Katastrophe.
Es hat sich einiges verändert seit der Sonnenfinsternis. Soweit ich weiß, ist an diesem Tag für ganz Maryland das Licht ausgegangen. Und das war nur der Anfang, die echten Probleme kamen erst danach.
Das Gesundheitssystem ist maßlos überfordert, die Krankenhäuser überfüllt mit Menschen, die nicht behandelt werden können. Meine Mutter leitet ein Taxiunternehmen, das es jetzt nicht mehr gibt. Mein Vater beseitigt hauptberuflich Staub, den er nicht mehr sehen kann in einer Fabrik, die stillgelegt wurde. Wir bekommen jede Menge Hilfe aus den anderen Staaten, aber den Verlust unseres Augenlichtes wiedergutmachen können auch sie nicht.
Einige Tage nach der Finsternis kam der Präsident nach Annapolis, um eine Rede sowie ein paar Babys zu halten, aber es gab keine Menschenmassen, um ihn zu bejubeln. Nur die wenigsten Leute haben sich so kurz nach der „Katastrophe“ aus ihren Häusern getraut, um ihn sprechen zu hören. Ich war einer von ihnen.
Seit es dunkel ist, fühle ich mich kurioserweise das erste Mal sicher.
Die Angst davor, unsichtbar zu sein ist genauso verflogen, wie die Angst davor, gesehen zu werden.
Gleich werde ich zum ersten Mal Mike treffen.
Es ist gar nicht mehr so beängstigend, wenn man sich nicht gegenseitig sehen kann.
Meine Eltern haben immer gesagt, meine Handysucht sei schädlich für die Augen.
Tatsächlich war sie es aber, die mir dieses Treffen mit Mike ermöglicht hat.
Denn während meine Eltern vollkommen überfordert damit sind, ihr Smartphone ohne ihre Augen zu verwenden, weiß ich genau welche Stellen meines Displays ich nacheinander berühren muss, um einen Anruf zu starten.
Und letztendlich sind meine Eltern nun genauso blind wie ich.
Neben mir höre ich Schritte.
Ich selbst habe eine Weile gebraucht, um die Parkbank zu finden, an der wir uns verabredet haben, aber Mike scheint sich hier gut auszukennen.
Ich verstehe jetzt, warum er diesen Ort ausgewählt hat.
„Mike?“, frage ich vorsichtig.
Ich hoffe, dass er es ist. Zwar bin ich jetzt unsichtbar, aber mit Fremden zu reden fällt mir immer noch schwer.
„Richtig geraten“, schmunzelt seine vertraute, warme Stimme.
Es ist eine seltsame Form von Vermissen, wenn man sich noch nie wirklich getroffen hat.
Ich würde ihn am liebsten sofort in den Arm nehmen, aber das wäre komisch.
Hoffentlich merkt er nicht, wie sehr ich schwitze.
„Hast du gut hergefunden?“
Ich nicke, – ein häufiger Fehler, den ich mir noch nicht abgewöhnen konnte -, und merke, wie er sich zu mir auf die Bank setzt.
Er scheint mich trotzdem verstanden zu haben.
„Weißt du, früher war dieser Ort einer der letzten Orte, die ich ausgewählt hätte, um mich mit jemandem zu treffen.“
„Warum das?“
„Direkt neben uns ist eine Werft. Früher war es hier sehr laut und die Bank, auf der wir sitzen war wahrscheinlich schon hier, bevor sie angefangen haben, hier Boote zu bauen. Das Graffiti auf ihr ist mindestens so alt wie ich.“
„Aber jetzt steht die Fabrik still und hier ist es so schön wie an jedem anderen Ort“, ergänze ich, ohne je von dieser Werft gehört zu haben. Ich nehme es einfach an, denn es ist nicht mehr laut und die meisten Firmen mussten in letzter Zeit ihren Betrieb einstellen. „Man kann sogar das Meer ein bisschen hören.“, sage ich, obwohl ich weiß, dass es allenfalls die Chesapeak Bay ist, die man hören kann.
Ich spüre, dass er lächelt.
„Stimmt“, sagt er, „Man kann tatsächlich das Meer hören.“
„Warst du eigentlich schonmal segeln?“
Früher habe ich mit meinem Onkel gesegelt. Es hat mir nie wirklich gefallen, aber ich glaube mit Mike wäre das etwas anders. Ich muss an eine Deodorant-Werbung denken, in der ein Mann segelt und dabei aussieht, als wäre er nie in seinem Leben glücklicher gewesen. So würden wir auch aussehen, denke ich.
Das alles fühlt sich an wie ein Traum. Wir reden, als wären wir alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben.
Aber wir haben uns nicht „lange nicht gesehen“, wir haben uns noch nie gesehen.
Dass das ein großer Unterschied ist, lässt er mich nicht spüren, aber ich weiß es trotzdem.
Ich fühle mich wie ein Betrüger.
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass die „Naturkatastrophe“ doch nicht so gut ist, wie sie mir bisher vorkam.
Woher soll ich wissen, ob er mich auch mögen würde, wenn er sehen könnte, wie ich wirklich bin?
Wie soll ich das je herausfinden?
Hat mir die Finsternis meine Identität genommen?
„Nein.“ Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass er mir nicht direkt auf meine Gedanken geantwortet hat. Trotzdem beruhigt es mich irgendwie, dieses „Nein“ zu hören. Vermutlich hat er damit Recht.
„Aber ich würde es gerne mit dir ausprobieren.“
Ich glaube, dass ich erröte. Der Satz frisst sich tief in mein Herz hinein. Er will es nicht einfach ausprobieren. Er will es mit mir ausprobieren. Etwas schöneres hätte er nicht sagen können.
„Dann müssten wir uns aber vorher an den Mast binden, damit wir nicht ins Meer fallen“, lache ich.
Er erwidert das Lachen und legt einen Arm um meine Schultern. Wir sind uns plötzlich ganz nah. Oder waren wir das nicht eigentlich schon die ganze Zeit? Wieder die Schuldgefühle. Ich schulde ihm die Wahrheit.
„Mike, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, aber ich muss dir was sagen.“
Ich widerstehe dem Drang, meinen Kopf auf seine Schulter zu legen und sehe ihn – so glaube ich jedenfalls – stattdessen direkt an. Auch das schulde ich ihm. Ich merke, dass auch er seinen Kopf in meine Richtung dreht.
„Was ist denn los?“
Mit zitternder Stimme spreche ich schließlich aus, was ich die ganze Zeit sagen wollte.
„Ich habe Angst, dass du mich nicht mehr mögen könntest, wenn du wüsstest, wie ich aussehe.“
Er lacht etwas und klingt irgendwie erleichtert. Sollte ich jetzt auch erleichtert sein? Irgendwie verletzt seine Reaktion mich ein bisschen.
Dann küsst er mich und der Kuss verändert alles.
Ich bin nicht mehr verletzt, nur noch verwirrt und über alle Maße glücklich.
„Emmett, ich kann dich sehen.“, murmelt er.
„Was?“ Perplex setze ich mich wieder aufrecht hin. „Was soll das heißen, du kannst mich sehen?“
„Das soll heißen, dass ich nicht blind bin. Und dass du wunderschön bist.“ Seine Stimme hebt mich in den Himmel.
„Mike, warum bist du nicht blind?“
Kurzes Zögern, seine Hand, die meine berührt.
„Das spielt keine Rolle, oder? Alles was zählt, ist doch, dass wir jetzt zusammen sind.“
Mike hat Recht: Ich will es eigentlich gar nicht verstehen. Ich will nur in diesem Moment bleiben. Die Gegenwart ist mein Freund und die Zukunft ist es vielleicht auch.
Endlich kann ich mich fallen lassen.
Version 2